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Über Riesenechsen, Sanremo und andere Lügen

Helau aus Venedig!

Das ist der Blick aus einem Fenster unweit des Campo San Bartolomeo gestern. Aber wie uns der Bürgermeister geraten hat: Wem das nicht passt, der soll eben aus Venedig wegziehen. 

Wie fern Venedigs Schicksal den meisten Italienern ist, wurde mir noch mal deutlich vor Augen geführt, als ich ein Video auf Facebook postete, das ich beim Mittagessen auf dem Campo La Fenice gemacht habe:  Es zeigt ein spektakuläres Kostüm - ein als Riesenechse verkleideter Mann wird von einer Art Echsen-Domina geführt - in dem ich ein Sinnbild für die letzten Venezianer sah, weshalb ich es unter der Überschrift "Seltenes Exemplar von letztem Venezianer beim venezianischen Karneval gesichtet: flach atmend übers Pflaster kriechend"  postete (Öffnet in neuem Fenster). Wenn ein Post auf meiner Seite 2000 "Likes" bekommt, ist das normalerweise schon viel. Nun, dieses Video wurde (Stand heute morgen): 26 700 mal gelikt - und mit mit Kommentaren wie dem in Italien üblichen "Wauo" und "Fantastico" und "Bellissimo" bedacht - und niemand, wirklich niemand der 26 700 "Likern" merkte, dass die Message meines Posts viel mehr auf die aussterbende Spezies der Venezianer gerichtet war, als auf den Karneval: Irony ist hier so was von over. 

Okay, jetzt müssen wir nur noch ein paar Tage überstehen, dann haben wir es wieder geschafft ... 

Und dann hatten wir hier noch das Schlagerfestival von Sanremo (Öffnet in neuem Fenster). Krieg? Erdbeben? Wir haben Sanremo - und damit eine Gelegenheit, bei der sich jeder Politiker wichtig macht, um von den Zuschauern (das Finale hatte eine Einschaltquote von 66%) wahrgenommen zu werden. Jeder sondert etwas ab, die „Linke“ tut so, als wäre sie links, und die Rechte tut so, als wäre sie so stramm rechts, wie es ihre Wähler von ihr erwarten, sie es aber mit Blick auf die EU-Gelder aus Brüssel gar nicht erfüllen kann. Es war wie immer. Also nicht besonders „politisch“ (wie es die Linke in ihrem Wunschdenken sah), sondern voller Fake-Gesinnungserklärungen, wie man sie in Zeiten der Socials von sich gibt, um Follower zu ergattern. Also gleichgeschlechtliche Zungenküsse (Öffnet in neuem Fenster) auf der Bühne (Italien ist in der Hinsicht etwas spät dran, angesichts der Tatsache, dass Madonna diesen Trend bereits im fernen Jahr 2003 (Öffnet in neuem Fenster) gesetzt hat) und Klagen von millionenschweren Influenzerinnen wie Chiara Ferragni (Öffnet in neuem Fenster)darüber, als Frau benachteiligt zu sein. 

https://www.raiplay.it/video/2023/02/Sanremo-2023-prima-serata-Il-monologo-di-Chiara-Ferragni-a-Sanremo-una-lettera-a-se-stessa-451d35fa-86ab-49ca-834e-131bfbcae13b.html (Öffnet in neuem Fenster)

Ja, Italien ist ein eigenartiges Land. 66 Prozent Einschaltquote bei Sanremo und 60 Prozent Enthaltungen bei den Regionalwahlen in der Lombardei und in Lazio. 

Passend dazu wurde Berlusconi zum soundsovielten Mal dank einer absurden - und vom Richter übernommenen - Argumentation seiner Winkeladvokaten freigesprochen. Und ich halte mich jetzt hier nicht damit auf, die Amnestien, Freisprüche, Freisprüche durch Abschaffung des Strafbestands und Verjährungsstrafen aufzuzählen, die den Gewohnheitsverbrecher im Laufe seiner kriminellen Karriere vor einem Urteil retteten: Mit dem letzten Urteil wurde nur bestätigt, dass es in Italien okay ist, vor Gericht zu lügen und Zeuginnen zu bestechen. 

Als Hintergrund sei an den Bunga-Bunga-Skandal erinnert, über den ich auch berichtet habe, hier (Öffnet in neuem Fenster) und hier (Öffnet in neuem Fenster) und hier war ich auch bei einer der "Olgettine" genannten Berlusconi-Freundinnen zu Hause: 

https://www.zeit.de/2011/06/Italien-Marysthelle (Öffnet in neuem Fenster)

Wie der Mailänder Journalist Gianni Barbacetto erklärt (Öffnet in neuem Fenster): Für das Gericht war eindeutig, dass die Taten begangen worden sind: Die Zeuginnen haben in der Tat einen Meineid geleistet, und ihre Beziehung zu Berlusconi war in der Tat mit Geldzahlungen und anderen Belohnungen verbunden; aber für den Richter hätten die Zeuginnen nicht als solche betrachtet werden können, da gegen sie wegen einer damit zusammenhängenden Straftat hätte ermittelt werden müssen. Er entschied daher, ihre Aussagen nicht als gültig anzusehen, da sie keine Zeuginnen und damit nicht verpflichtet waren, die Wahrheit zu sagen; ihre Falschaussage war also kein Verbrechen. 

Fertig.

Ich meine: Wundert mich jetzt nicht wirklich. 

Was ich aber als Journalistin zum Fremdschämen finde, ist, wie dieses Urteil von allen (Ausnahme: Il Fatto Quotidiano und Domani) italienischen Medien gefeiert wurde. Ist natürlich auch keine Neuigkeit. Auch nicht, dass Meloni kurz vor dem Urteil die Nebenklage zurückgezogen hat, derzufolge das Amt des italienischen Ministerpräsidenten durch den Bunga-Bunga-Skandal „weltweit in Verruf geraten“ sei. Ist jetzt nicht mehr der Fall. Im Gegenteil. Meloni begrüßte den Freispruch am Mittwoch als „ausgezeichnete Nachricht“. 

Remember:  Meloni gehörte auch zu den 314 Abgeordneten, die 2011 dafür stimmten, dass Berlusconi in Ausübung seines Amtes gehandelt habe, als er die minderjährige Prostituierte Ruby aus dem Polizeigewahrsam (Öffnet in neuem Fenster)befreien ließ,  weil er geglaubt habe, dass sie die Nichte Mubaraks sei und dafür daher nur vom Ministergericht belangt werden könne.

Und dass Giorgia Meloni, erste rechtsextreme Ministerpräsidentin Italiens, von der "linken" Opposition jetzt auch noch gelobt wurde - einer Opposition, die sich jahrzehntelang vor allem dadurch ausgezeichnet hat, Berlusconi zu seinem Recht kommen zu lassen, das, ja, das ist Italien. Wo man jeden kaufen kann. Blöd nur, wenn man nicht genug Geld hat.

Die gute Nachricht ist (für mich und für Venedig), dass man mein Venedig-Buch in Frankreich mag. Die Libération schrieb: »Venedig wird von allen Seiten angegriffen: vom Klima, aber auch von den Marktgesetzen, wobei die Politiker vor den Interessengruppen, dem Massentourismus und den Hotelketten, die die Inseln der Lagune aufkaufen, in die Knie gehen. Petra Reski, eine deutsche Journalistin, die seit einigen Jahrzehnten aus Liebe zur Stadt und zu einem Mann in Venedig lebt, macht diese schmerzliche Feststellung, beschreibt aber auch die zahlreichen Widerstandsakte der Einwohner. Parallel dazu und wie um die absolute Diskrepanz zwischen der Welt der Raffinesse und der Welt der Vulgarität zu betonen, erzählt ihr venezianischer Ehemann, ein leidenschaftlicher Ästhet, der blind für die Hässlichkeit ist, von dieser Stadt, die aus der Zeit gefallen ist. Während der gesamten Erzählung steuert Petra als Metapher für Davids Kampf gegen Goliath ihr kleines Boot zwischen den mit Touristen gefährlich beladenen Gondeln hindurch, selbst auf die Gefahr hin, verschlungen zu werden.«

In diesem Sinne grüßt Sie aus Venedig, Ihre Petra Reski

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