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Italien - die an der Leitplanke abgestürzte Republik

"Noch ein verunglückter Bus. Italien, eine an der Leitplanke abgestürzte demokratische Republik" steht über dieser Zeichnung des italienischen Karikaturisten Mario Natangelo (Öffnet in neuem Fenster) zum Busunglück von Mestre. Für mich ist sie das Sinnbild für das, was hier geschah: Die 50 cm hohen Leitplanken der 70 Jahre alten Brücke in Mestre sollten seit 2018 ersetzt werden, aber die Arbeiten fingen erst letzten Monat an - angeblich, weil man auf EU-Gelder wartete.

https://www.tgcom24.mediaset.it/cronaca/mestre-bus-precipitato-cavalcavia-video-social_70833090-202302k.shtml (Öffnet in neuem Fenster)

Die Brücke ist das Tor zu Venedig, sie verläuft entlang der Eisenbahnlinie und wird täglich von Tausenden von Fahrzeugen befahren. Wenn diese Leitplanke nicht ausreichend war für den Aufprall eines Busses, warum durften dann die Busse dort fahren? Und warum hat niemand daran gedacht, den Verkehr zu sperren oder einzuschränken? Die 21 Toten von Mestre sind eine Folge der maroden italienischen Infrastruktur - wie auch die 40 Toten des Busunglücks von Avellino (Öffnet in neuem Fenster), als die Leitplanken nicht hielten, und die 43 Toten von Genua, begraben von einer Autobahnbrücke, die seit 1993 nicht mehr gewartet wurde (Öffnet in neuem Fenster).

Renato Boraso, Stadtrat für Mobilität und Vertreter der Stadtverwaltung von Venedig, die für die Überführung von Mestre zuständig ist, sprach sich und die Stadt von Venedig sogleich von jeder Schuld frei, als er im Interview von Sky sagte : "Nicht mal eine drei- oder vierfache Leitplanke hätte dem Aufprall eines so schweren Fahrzeugs standgehalten." Umgehend wurde diese Rekonstruktion auch von Infrastrukturminister Matteo Salvini für bare Münze genommen : "Ich stimme dem Stadtrat zu", sagte Salvini ebenfalls auf Sky, "die Leitplanke hat nichts damit zu tun."

Alfredo Montellaro, langjähriger Berater des italienischen Infrastrukturministeriums, Experte für Sicherheitsbarrieren und Koordinator der Untersuchungskommission zur Morandi-Brücke widersprach dem jedoch ausdrücklich: (Öffnet in neuem Fenster) "Diejenigen, die sagen, es sei unvermeidlich gewesen, lügen: Es gibt Barrieren, die 38 Tonnen halten können."

Boraso ist seit acht (!) Jahren "Stadtrat für Mobilität" - und hat für diese Brücke und ihre Leitplanken keinen Finger gerührt. Stattdessen betreibt er das Projekt für die Grabung eines weiteren (und verheerenden) Kanals in der Lagune und hat für den geplanten Kanal bereits einen Kreisverkehr gebaut. Und für das geplante Sportstadion für die Basketballmannschaft des Bürgermeisters waren die Millionen sofort da - nachdem die EU-Kommission ein Veto dagegen eingelegt hat, den Bau des Sportstadions mit Geldern aus dem Spezialgesetz für den Erhalt von Venedig und EU-Fördergeldern des europäischen Aufbauplans NextGenerationEU zu finanzieren.

Eigentlich hätten hier gar keine Busse und LKWs mehr passieren können. Die Brücke in Mestre ist Venedigs neuralgischer Punkt. Es war "Venedigs Ponte Morandi" sagte der Sachverständige für die eingestürzte Brücke in Genua: "Die Leitplanke war in drei Elemente unterteilt. Eine mögliche Hypothese ist, dass das nun fehlende Zwischenstück, das unter dem Bus geblieben zu sein scheint, unter dem Bus stecken blieb und so auf das Rad des Fahrzeugs einwirkte und es in Richtung des Abgrunds lenkte."

Das allein lässt tief blicken, was die Verantwortung der Stadt Venedig an dem Unfall betrifft - um so beunruhigender sind die Hintergründe, die sich jetzt offenbaren: Die venezianische Staatsanwaltschaft delegierte einen Teil der Ermittlungen an die Gemeindepolizei von Venedig, die dem Bürgermeister untersteht und damit folglich in einem Interessenkonflikt steht. Und dass der Geschäftsführer der Aktiengesellschaft Venis (Öffnet in neuem Fenster), dem Informatikunternehmen, das für die Staatsanwaltschaft das IT-Material des Vorfalls überprüfen soll, gleichzeitig Direktor für Marketing und Kommunikation der bürgermeistereigenen Basketballmannschaft Reyer und Präsident des Informatik-Unternehmens Attiva ist, das wiederum zur bürgermeistereigenen Umana-Holding gehört - ist im Zusammenhang mit eine Unglück, das 21 Menschen das Leben gekostet hat, zumindest eigenartig.

Aber das sind nicht die einzigen Merkwürdigkeiten: Einer der Gesellschafter des Busunternehmens La Linea (Öffnet in neuem Fenster), zu dem der Unglücksbus gehörte, ist das Transportunternehmen Alilaguna. Der Präsident des Busunternehmens La Linea ist gleichzeitig Präsident des privaten venezianischen Transportunternehmens Alilaguna - das wiederum zu den Sponsoren des bürgermeistereigenen Basketballmanschaft Reyer gehört. Kurz: Der Kreis schließt sich immer mit dem Bürgermeister.

Komisch nicht?

Was sonst noch war? Mit dem Deutschlandfunk habe ich über Giorgia Melonis Kulturk(r)ampf gesprochen, nachzuhören hier:

https://www.deutschlandfunkkultur.de/italien-kulturpolitik-meloni-100.html (Öffnet in neuem Fenster)

Und meine Lampedusa-Reportage für Focus ist jetzt online:

https://www.focus.de/politik/ausland/asylpolitik-das-meer-der-toten_id_215063913.html (Öffnet in neuem Fenster)

Und weil ich für mein Buch ständig auch in alten Fotos herumsuche, ist mir dieses Bild in die Hand gefallen:

Meine Laufbahn als Journalistin begann am unteren Ende der Rangordnung des STERN-Auslandsressorts: als Reporterin war ich zuständig für kommunistische Regime im November, afrikanische Bürgerkriege und Katastrophen, die an Feiertagen stattfanden. Wie der Bombenanschlag von Lockerbie, als libysche Geheimdienstler kurz vor Weihnachten 1988 die amerikanische Boing über dem schottischen Lockerbie in die Luft sprengten, was 270 Menschen das Leben gekostet hat. Am meisten hatte mich ein dunkler Fleck in der Wiese bewegt, der die Umrisse eines Menschen vom Ellbogen bis zum Kopf zeigte, dessen Knie sich zehn Zentimeter tief in den Boden gebohrt hatten. Den Artikel habe ich auch heute noch - und ich empfinde meinen Beruf bis heute als großes Privileg: Der Wirklichkeit ins Gesicht sehen zu können, ist nicht allen vergönnt.

Ziemlich düsterer Newsletter werden Sie jetzt vielleicht sagen. Trotz alledem: Es muss ja weitergehen, irgendwie, wie meine Mutter immer sagt.

In diesem Sinne grüßt Sie Ihre Petra Reski

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