Folge 7: Die Schuld eines Kindes - Fritz Haarmann
Wahnsinn, gestörte Sexualität, sadistische Neigungen, Hass, Bösartigkeit – für Serienmörder – vor allem solche, die besonders blutig morden – fallen uns viele Eigenschaften ein, die es uns erleichtern, uns zum einen von Taten und Tätern zu distanzieren, und zum anderen, das Unbegreifliche greifbar zu machen. Doch manchmal werden solche Taten von Menschen begangen, und im Grunde liegt schon in der Bezeichnung die Wertung. Menschen begehen unmenschliche Taten. Und mehr noch: manchmal entziehen sich Serienmörder aufgrund ihrer charakterlichen Besonderheiten einer moralischen Bewertung. Fritz Haarmann, der Werwolf von Hannover, ist so ein Fall.
Und damit herzlich willkommen zur neuen Folge von Olle Kamellen, dem Geschichtspodcast. Mein Name ist Meike Stoverock.
Die heutige Folge will ich ein wenig anmoderieren, weil sie für mich eine sehr besondere ist. Von allen historischen Verbrechen, mit denen ich mich in den letzten 30 Jahren beschäftigt habe, hat mich keines emotional so mitgenommen wie der Fall Fritz Haarmann. Die historischen Umstände und Haarmanns ambivalentes Wesen machen die Mordserie zu einer der komplexesten und widersprüchlichsten, mit denen ich mich je befasst habe. Über Jahre hinweg habe ich alte Zeitungen gelesen, die verfügbaren Fallakten aus dem Staatsarchiv Hannover habe ich digitalisiert auf meiner Festplatte katalogisiert und studiert, alte Fotos gesichtet, Primär- und Sekundärliteratur aufgesaugt. Darüber hinaus habe ich selbst Teile meiner Kindheit und meine ganze Doktorarbeit in und um Hannover verbracht, ich kenne die Ecken und Straßen, an denen er sich aufhielt, gut, meine erste Wohnung lag nur wenige Meter von seinem letzten Wohnort entfernt, an dem er allein 20 Jungen ermordet hat.
Das bedeutet zum Einen, dass ich ein sehr profundes Wissen über den Fall habe (auch wenn ich nicht beanspruche, jedes winzige Detail zu kennen). Und zum Anderen, dass mir dieser Fall sehr am Herzen liegt und ich immer versucht habe, den vielen überwiegend minderjährigen Mordopfern, aber auch der gesamten Komplexität des Falles mit größtmöglichem Respekt zu begegnen.
Fritz Haarmann ist nicht erst seit dem Film „Der Totmacher“ von Romuald Karmakar mit Götz George als Fritz Haarmann ein Kulturgut, ähnlich wie Jack the Ripper (Öffnet in neuem Fenster) – übrigens atemberaubender Film mit einem atemberaubenden Götz George, unbedingt gucken, wer ihn noch nicht kennt. Immer schon haben die Menschen Haarmann und seine Taten mystifiziert, so dass im Laufe der Zeit immer mehr Mythos und immer weniger Wahrheit in den Berichten enthalten war. Das gilt auch für den Artikel “Der Werwolf von Hannover“ (Öffnet in neuem Fenster) aus der Süddeutschen Zeitung, der anlässlich des 100. Jahrestags der Verhaftung von Fritz Haarmann erschien. Er beschäftigt sich zwar hauptsächlich mit dem Kulturphänomen True Crime und nur am Rande mit Haarmann, aber der kurze Teil enthält so viele falsche Angaben, dass es mich wütend gemacht hat. Es diskreditiert nicht nur Haarmanns Umfeld und seine Opfer, sondern auch Haarmann selbst.
Ich will versuchen, das Bild soweit es mir möglich ist zurechtzurücken. Aus dem Grund ist auch der Text zur Folge ausnahmsweise frei zugänglich.
Die Fakten
Ich beginne wie immer mit einem Schnelldurchlauf der bekannten Fakten.
Fritz Haarmann, ein Kaufmann und Kleinkrimineller, ermordet zwischen 1918 und 1924 in der Hannover mehrere Dutzend überwiegend minderjähriger Jungen. Ich drücke das so vage aus, weil die genaue Opferzahl nicht bekannt ist. Verurteilt wird Haarmann für 24 Morde, angeklagt für 27, aber Teile der Hannoveraner Polizei halten damals 30 bis 50 Opfer für möglich. Zu den Gründen dieses Verdachts später mehr.
Kinder entdecken im Mai 1924 beim Spielen in der Leine menschliche Skelettteile und nachdem ein großer Abschnitt der Leine trockengelegt und abgesucht wird, kommen weitere menschliche Knochenteile ans Licht. Diese müssen irgendwo in der Hannoveraner Altstadt, einem verarmten Gängeviertel rund um die Leineinsel, entsorgt worden sein.
Er hat ein langes Vorstrafen- und ein noch längeres Anzeigenregister. Bei den meisten Vergehen handelt es sich zwar um schlichte Eigentumsdelikte, aber auch Anzeigen durch Nachbarn wegen gewisser Umtriebigkeiten mit minderjährigen Jungen sind darunter. Haarmann ist der Polizei als homosexuell bekannt und weil Homosexualität damals nach Paragraph 175 strafbar ist, sind Schwule grundsätzlich verdächtig. Aber nicht nur deshalb ist er ein guter Bekannter: er arbeitet seit 1918 für das Einbruchsdezernat als Spitzel.
Haarmann kommt in U-Haft, gesteht zunächst jedoch nicht und der zuständige Haftrichter hat dem Leiter der Mordkommission, Heinrich Rätz, bereits ein Ultimatum gestellt. Wenn Rätz bis dann und dann keine Beweise vorlegen könne, müsse er Haarmann wieder laufen lassen. Ein absurder, kaum zu glaubender Zufall trägt sich nun zu.
Nach Haarmanns Verhaftung hatte man in seinem Mansardenzimmer in der Roten Reihe allerlei Jungenkleidung unbekannter Herkunft gefunden. Nachbarn hatten ausgesagt, er habe damit Handel getrieben. Nachdem nun der schreckliche Verdacht im Raum steht, es könne sich um die Kleidung ermordeter Jungen handeln, bittet die Polizei in öffentlichen Aushängen darum, dass alle, die von Haarmann in letzter Zeit Kleidung gekauft hatten, sich melden mögen. In dieser Absicht sitzen die Eltern eines vermissten Jungen, Robert Witzel, im Flur des Polizeipräsidiums und warten, um die im Hof in einer Baracke ausgestellten Kleidungsstücke zu begutachten. Den Flur herunter kommen eine ältere Frau und ein junger Mann. Der Mann trägt die Jacke von Robert Witzel. Die Eltern erkennen das Kleidungsstück sofort und halten das Paar an, um nach der Herkunft der Jacke zu fragen. Die Frau ist Haarmanns Vermieterin, der junge Mann ihr Sohn, beide sind ebenfalls für Aussagen über den Haarmannfall im Präsidium. Bereitwillig geben sie dem Ehepaar Witzel Auskunft und der junge Mann erzählt sogar, er habe nach dem Kauf der Jacke von Haarmann sogar einen Ausweis in einer der Taschen gefunden. Einen Ausweis auf den Namen Robert Witzel. Die Eltern des jungen Robert haben damit traurige Gewissheit und die Polizei das benötigte Belastungsmaterial, um Haarmann endgültig festzusetzen. Nach viel Druck seitens der Polizei, den man heute als Folter bezeichnen würde, gesteht Haarmann schließlich.
An allen Wohnstätten Haarmanns, er bewohnt im fraglichen Zeitraum drei Wohnungen/Zimmer, wird er immer wieder von Nachbarn angezeigt, weil dort ständig junge Männer ein, aber nur wenige wieder ausgehen. Sie melden der Polizei den verdächtigen Handel mit Kleidung und wichtiger noch: Unmengen von Fleisch unbekannter Herkunft. Dennoch wird Haarmann nicht früher festgesetzt. Und wegen seiner Spitzeltätigkeit kommt der Verdacht auf, die Polizei habe sein Treiben womöglich gedeckt. Die öffentliche Empörung wird so groß, dass sich das Innenministerium in Berlin veranlasst sieht, Beamte zur Untersuchung etwaiger polizeilicher Versäumnisse nach Hannover zu schicken. Doch diese finden keinen Hinweis auf fahrlässiges oder gar mutwilliges Fehlverhalten.
Über mehrere Wochen wird Haarmann dann in Göttingen von Dr. Ernst Schulze auf seine Zurechnungsfähigkeit untersucht. Schulze attestiert Schuldfähigkeit und Haarmann kommt zurück nach Hannover. Der Prozess gegen ihn beginnt Anfang Dezember 1924 und erregt nicht nur internationales Aufsehen, sondern bewegt vor allem die Menschen der Stadt.
Der jüdische Publizist und Psychologie Theodor Lessung begleitet den Prozess mit mehreren Zeitungsartikeln und weist mit anklagendem Finger immer wieder auf die Polizei, die ihren Job nicht gemacht hat. Er ist der Gerichtsbarkeit ein solches Ärgernis, dass er schließlich von dem weiteren Prozess ausgeschlossen wird. Haarmann wird schließlich zum Tod verurteilt, das Urteil wird im April 1925 im Hof des Gerichtsgefängnisses mit dem Fallbeil vollstreckt.
Gutachten am laufenden Meter
Seit 30 Jahren beschäftige ich mich mit dem Phänomen Serienmord, vor allem mit der Täterpsychologie. Aber zu niemandem habe ich über die Recherche so eine enge Bindung entwickelt wie zu Fritz Haarmann. Vor allem weil sein Naturell in so krassem Gegensatz zu seinen Taten steht. Andere Serienmörder wie Ted Bundy oder Jeffrey Dahmer entsprechen viel eher dem Typus eines kaltblütigen, überdurchschnittlich intelligenten Triebtäters. In Interviews mit ihnen offenbaren sich komplexe Innenwelten mit für Normalsterbliche schwer zu fassenden Motivationen. Eine Arbeitsgruppe der Radford University in Virginia hat zusammengetragen, dass gefasste Serientäter mit fünf oder mehr Opfern einen deutlich höheren IQ aufweisen als solche mit weniger Opfern. Je cleverer der Täter, desto länger kann er einer Ergreifung entgehen und mehr Menschen töten, eigentlich logisch.
Fritz Haarmann fällt aus vielen der für Serientäter „typischen“ Muster heraus.
Die immens hohe Opferzahl fällt sofort ins Auge, auch die lange Zeit von mindestens sechs Jahren, in denen er morden kann, ist ungewöhnlich. Dabei verhält er sich nie übermäßig vorsichtig oder unauffällig. Wo andere Serientäter Spuren verwischen und raffinierte Pläne austüfteln, um ihrer Entdeckung zu entgehen, agiert Haarmann geradezu unbekümmert. Blutflecke, Gerüche, sein schwunghafter Schwarzhandel mit Fleisch und Kleidung – nichts davon versucht er zu verbergen.
Der Hauptgrund dafür ist seine Intelligenz. Haarmann ist nicht nur nicht überdurchschnittlich intelligent, sondern das Gegenteil ist der Fall. Er hat eine deutliche Minderbegabung, die über fast dreißig Jahre immer wieder von ärztlichen Stellen bestätigt wird. Uneinigkeit besteht nur darüber, ob der „Intelligenzdefekt“, wie es in den Akten heißt, angeboren oder Folge einer Hirnhautentzündung im Kindesalter ist.
Seit 1895, Haarmann ist 16, zeigt er immer wieder Verhaltensauffälligkeiten, so dass er zunächst nur medizinisch, nachdem er immer öfter auch mit dem Gesetz in Konflikt kommt, aber auch polizeipsychologisch begutachtet wird. Da seine Auffälligkeiten auch während seiner Militärzeit auftreten und er daher einen Anspruch auf Invalidenrente hat, ordnet das Versorgungsamt regelmäßige Überprüfung seines Anspruchs und also seines Zustandes an. Er wird als dienstunbrauchbar aus der Armee entlassen. Haarmanns Intelligenz ist so stark gemindert, dass mehrmals zu ständiger Betreuung durch die Familie und 1922 sogar zu Entmündigung geraten wird. Heute würde man von einer geistigen Behinderung sprechen.
Haarmanns Behinderung zeigt sich nicht nur in messbaren, kognitiven Beeinträchtigungen, sondern vor allem in seinem Wesen, das dem eines Kindes entspricht.
(Kleiner Einschub: bei den folgenden Beschreibungen zitiere ich zum Teil aus den historischen Gutachten. Viele Bezeichnungen darin werden heute als ableistisch, als abwertend und entwürdigend empfunden.)
1902, mit 19 fällt Fritz Haarmann zum ersten Mal durch Sexualverbrechen auf. Er hat sich kleinen Kindern in einem Hausflur unsittlich genähert. Zunächst wird in der Provinzial- und Heilanstalt Hildesheim auf Unzurechnungsfähigkeit erkannt und das Verfahren eingestellt. Er wird für weitere Untersuchungen in die Abteilung für „gemeingefährliche Geisteskranke“ ins Stadtkrankenhaus III in Hannover überstellt. Im Abschlussbericht des Krankenhauses heißt es:
„Der Patient macht einen schwachsinnigen, kindlichen Eindruck und hat von seiner Lage und von der moralischen Seite der ihm zur Last gelegten Handlungen kein Verständnis. Ein angeborener Intelligenzdefekt wird angenommen. Er erzählt in einem naiven, kindlichen Tone, freut sich dabei sehr, lacht oft blöde auf und wiederholt sich häufig. In seinem ganzen Benehmen macht er den Eindruck eines dreijährigen Kindes. Einfache Rechenaufgaben kann er nicht lösen, von den Zehn Geboten kann er keines benennen, geographische Kenntnisse sind praktisch nicht vorhanden. Er hilft bei einfachen Arbeiten im Garten, zeigt dabei stolz seine Arbeiterhände. Im Verlaufe der Wochen gibt es keine Veränderungen am psychischen Zustand, zu beobachten ist stets derselbe Schwachsinn, der sich vorwiegend in stereotypen, mit blödem Lächeln vorgebrachten kindlichen Redensarten äußert. Die körperliche Verfassung ist weiterhin sehr gut.“
Andere Gutachten anderer Stellen lesen sich ähnlich. 1897: „krankhafte Störung der Geistestätigkeit, durch die freie Willensbestimmung ausgeschlossen war“, 1902: „lange vorliegender Intelligenzdefekt, erheblicher Schwachsinn“, 1911: „geistig minderwertig und nervenleidend, daher gegen strafbare Gelüste anfälliger als gesunde Personen“, 1922: „Schwerer Intelligenzdefekt, vermutlich aufgrund Hebephrenie; weiters Hilflosigkeit, Urteilslosigkeit, leichte Beeinflussbarkeit“.
Lange bevor Haarmann zum Mörder wird, existiert bereits ein umfassender Katalog von ärztlichen und gerichtlichen Gutachten über ihn.
Sein beinah drollig wirkende Auftreten hat sicher seinen Anteil daran, dass Haarmanns Gefährlichkeit lange unterschätzt wird. Fritz Haarmann ist innerlich ein kleiner Junge, später in seinem Leben zwar nicht mehr ganz so klein wie im Bericht des Stadtkrankenhauses, aber eben auch weit entfernt von einem erwachsenen Mann.
Dass Fritz Haarmann sich bei seinen Umtrieben viel mit minderjährigen Jungen umgibt, ist von außen betrachtet auffällig und „unnormal“. Doch ich sehe darin weniger ein Zeichen für seine sexuellen Neigungen als vielmehr dafür, in welcher Altersgruppe er selbst sich zuhause fühlt. Seine Opfer sind zwischen 11 und 21, die meisten aber 15-17 Jahre alt. Er legt Wert darauf, dass die Jungen keine oder nur wenig Körperbehaarung haben. Nach allem, was ich von Fritz Haarmann weiß, würde ich sein geistiges Alter irgendwo zwischen 12 und 14 ansetzen. Ein Junge in diesem Alter weiß, was verboten ist und was nicht, er weiß auch, wann er flunkern muss, um Strafe zu entgehen, aber kann die Folgen seines regelbrechenden Tuns nicht zwingend richtig abschätzen.
Fritz Haarmann hat ein freundliches Wesen, lacht viel, untermalt seine Geschichten mit übertriebenen Gesten, sein Gang ist mehr ein stapfendes Watscheln. Das ist durchaus eine Erscheinung, der man Sympathie entgegen bringt. Gewiss, er lügt viel, aber welches Kind tut das nicht? Morde mag man so einem Kindmann nicht zutrauen. Erst recht nicht, nachdem er 1918 Polizeispitzel für das Einbruchsdezernat wird. Sowohl die engen Kontakte zur Polizei als auch ein selbstgebastelter Dienstausweis bringen ihm in den schlecht beleumundeten Ecken Hannovers den Spitznamen Kriminaler ein. Er mag sein neues Dasein als „Detektiv“ und tritt mit übertriebener Autorität auf. Dennoch gelingt es der Polizei dank seiner Spitzeltätigkeit, einige Diebesbanden und Hehlereien aufzudecken.
Sein erratischer Geist zeigt sich auch, als er schließlich gesteht. Denn er gesteht nicht nur die ihm zur Last gelegten Taten, sondern auch andere. Ist er sich nicht sicher, ob ein fraglicher Junge unter den Mordopfern war, sagt er dem vernehmenden Polizisten „Ach, schreibense den man dazu“. Mitunter gesteht er sogar in Fällen, in denen sein vermeintliches Opfer später lebend wieder auftauchte. Seine eigenen Angaben sind also zur Ermittlung genauer Opferzahlen denkbar ungeeignet.
Schuld und Unschuld und Sühne
Die tatauslösenden Faktoren aber liegen in ihm selbst, genauer: in seiner Behinderung.
Er hat viele kindliche Eigenschaften, die ihn irgendwie sympathisch erscheinen lassen, das ist wahr.
Aber zwei Symptome seiner geringen Intelligenz werden mehreren Dutzend Jungen zum Verhängnis: 1. Haarmann hat keinerlei Impulskontrolle. Wie ein Kind will er alles, wonach ihn verlangt, sofort. Und wie bei einem Kind stellen sich Fragen wie „Darf ich das haben?“, „Steht mir das zu?“ nicht. Er will. Und dann nimmt er. Und es macht dabei keinen Unterschied, ob er Dinge stiehlt, um sie auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Oder ob er einen minderjährigen Jungen sieht und das Verlangen in sich spürt, diesen zu küssen. Haarmann berechnet nicht, er überlegt nicht, er hält sich nicht zurück. Haarmann macht. Er geht jedem Impuls in sich ohne zu zögern nach. Und dann lockt er eben die jungen Opfer in seine Wohnung. Das ist zweifellos absichtsvolles Verhalten, aber wir erinnern uns an den Bericht des Stadtkrankenhaus von 1902, nach dem Haarmann „von der moralischen Seite der ihm zur Last gelegten Handlungen kein Verständnis“ hat. Dass die Befriedigung seiner wie auch immer gelagerten Impulse überhaupt einen moralischen Aspekt hat, liegt nicht in Haarmanns Denkhorizont.
Doch erst das zweite Symptom lässt Haarmann zum Mörder werden: Neurologische Ausfälle. In sexueller Erregung setzt mitunter sein Bewusstsein aus. Ich sage „mitunter“, weil es nicht immer geschieht. Manche der Jungen, die er mit zu sich nach Hause nimmt, können sein Zimmer am nächsten Morgen verlassen. Sie sind Opfer eines Sexualverbrechens, aber sie leben. Andere sterben einen grausamen Tod. Und es ist reiner Zufall, bei welchem Jungen Haarmann seine „Tour“ bekommt, wie es in den Akten heißt. Er gibt in den Vernehmungen an, dass er oft morgens neben den Leichen aufwachte und dann weinte, weil „es wieder passiert war“. Er empfindet Scham, Reue, ja, selbst eine Art von Trauer um den jeweiligen Jungen. Freilich halten diese Gefühle nicht lange an und dann kommt wieder der Macher Haarmann hervor, der auf gar keinen Fall wieder ins Gefängnis oder noch schlimmer in die „Irrenanstalt“ will, weil er dort oft verprügelt wird. Und dieser Haarmann agiert ohne Zögern. Er zerlegt die Körper bis auf die Knochen, spült die Überreste dann im Gemeinschaftsklo im Hinterhof herunter und verkauft die Kleidung seiner Opfer.
Bei der Leichenentsorgung zeigt sich abermals sein einfacher Geist, der nur grobe Wenn-Dann-Verknüpfungen herstellen kann. Wenn es keine Leiche gibt, kann mir die Polizei nichts. Er macht sich keine Gedanken darüber, ob die, nun ja, Zerlegungsgeräusche von Nachbarn gehört werden (werden sie), ob man die Kleidung zu ihm zurückverfolgen kann (kann man) oder ob er bei der Entsorgung im Klohäuschen im innen liegenden Hof gesehen wird (wird er). Die Leiche ist weg und damit auch das Problem.
Wie erwähnt, melden etliche Nachbarn die verdächtigen Vorgänge. Was ihnen besonders seltsam vorkommt, ist der Umstand, dass Haarmann oft nicht nur Kleidung, sondern auch Fleischwaren verkauft. In einer Zeit, in der sich niemand im Armenviertel Fleisch leisten kann, in der Mütter Knochen auskochen, um wenigstens den Geschmack von Fleisch an die Suppe zu bekommen, handelt dieser Fritz Haarmann mit Fleisch und Fleischkonserven. Die Gelegenheitsprostituierten Dora Mruzek und Emmi Schulze, die Haarmann für eine Schlafstatt gelegentlich das Zimmer in der Neuen Straße putzen, entdecken Anfang 1923 – zu diesem Zeitpunkt hat Haarmann erst zwei oder drei Jungen getötet - einen großen Eimer mit Fleisch, das so seltsam aussieht, dass sie es zur Polizei bringen. Doch der Polizeiarzt Alexander von Schackwitz, dem das Fleisch vorgelegt wird, will daran nichts Komisches finden. Es ist also ganz und gar nicht so, dass niemand hingeschaut hat. Viele Menschen haben hingeschaut und das getan, was jeder anständige Mensch tun würde.
Als wäre das alles noch nicht schlimm genug, lernt Haarmann 1919 Hans Grans kennen – einen jungen, gutaussehenden, cleveren Gauner. Der merkt schnell, wie leicht Haarmann zu beeinflussen und damit zu führen ist. Wenn er „ein bisschen lieb“ zu Haarmann ist, frisst der ihm völlig aus der Hand. Anfangs gehen sie nur auf gemeinsame Raubzüge, aber nachdem Grans die Umtriebe des Älteren mitbekommt, keimt in ihm eine Idee. Man könnte doch die Jungen gezielt nach ihrer Kleidung aussuchen. Gut erhaltene Kleidung gibt auf dem Schwarzmarkt gutes Geld. Haarmann gefällt die Idee nicht – er nimmt die Jungen ja nicht mit nach Hause, UM zu zu töten und zu bestehlen, sondern weil er sie sexuell begehrt. Es kommt vor, dass Grans einen Jungen wegen eines besonderen Kleidungsstückes aussucht, Haarmann den Jungen aber nicht attraktiv findet. Dann will er keinen sexuellen Kontakt zu ihm. Bei diesen Diskussionen setzt sich meist Grans durch und in vielen Fällen ist das das Todesurteil für den Jungen.
Grans ist das aktive, zielgerichtet handelnde Element, das Haarmann fehlt, in dieser Mordserie. Haarmann ist bereits zum Mörder geworden, als er Grans kennenlernt. Er ist eine tickende Zeitbombe, eine loose cannon, wie die Engländer sagen, aber die Tötung der von ihm begehrten Jungen ist nie das Ziel seines Handelns. Durch Grans ändert sich das. Aus diesem Grund wird er 19124 mit Haarmann zusammen verhaftet, und auch vor Gericht sitzen beide auf der Anklagebank.
Zunächst wird Grans wegen Anstiftung zum Mord wie Haarmann zum Tod verurteilt. Doch Haarmann, der Grans in romantischer Hörigkeit verfallen ist, entlastet ihn nach dem Urteil, indem er alle Schuld auf sich nimmt. Daher wird bei einem Folgeprozess das Urteil gegen Grans in eine zwölfjährige Haftstrafe umgewandelt. Unter den Nazis wird er jedoch nicht entlassen, sondern als minderwertiges Subjekt in das KZ Sachsenhausen gebracht. Er überlebt diese Zeit und stirbt 1975 in Hannover.
Theodor Lessing schrieb als Prozessbeobachter in seiner gewohnten Weigerung, nichts zu beschönigen: „Man musste sich von vornherein eingestehen, dass eine gleichsam das Weltgewissen befriedigende Auflösung des ungeheuren Falles nicht möglich war.“
Chronik einer vorhersehbaren Tragödie
Lessing hat damit insofern Recht, als es kaum zu fassen ist, wie sehr über dreißig Jahre jeder Umstand die Taten begünstigt hat. Die symbolische Waage der Geschichte hat nicht ein einziges Mal zugunsten der späteren Mordopfer, sondern immer nur zu Haarmanns Gunsten ausgeschlagen. Die Zeit, der Ort, der Krieg, der Frieden, die Armut, das menschliche Versagen, die Polizei, die Gerichte – alles hat an den Morden mitgewirkt.
Zoomen wir ein bisschen aus den dunklen Gassen hinaus auf die generelle Nachkriegszeit.
Der sinnlose und nicht zu gewinnende Erste Weltkrieg hatte die Bevölkerung praktisch ausgeräubert, Geld und Edelmetalle hatten sie durch Kauf von nach der Kapitulation völlig wertlose Kriegsanleihen verloren, mit immer größerem Nachdruck waren sie aufgefordert worden, Kleidung zur Ausrüstung der unterversorgten Soldaten zu „spenden“ und auch Grundnahrungsmittel wurden direkt bei den Erzeugern einkassiert und an die Fronten geschickt. Während der Kriegsjahre waren deutschlandweit mindestens 700.000 Menschen an Hunger gestorben (Öffnet in neuem Fenster). Dass sich unter den Rationierungsmaßnahmen ein florierender Schwarzmarkt bildete, auf dem Waren oft zum Wucherpreis verkauft wurden, liegt auf der Hand.
Gleichzeitig begrenzt der Versailler Friedensvertrag von 1918 nach dem Krieg die Mannstärke und Bewaffnung aller als Kampftruppen einsetzbaren Organe – wozu auch die Polizei gehört. Während also die Nachkriegskriminalität durch Schwarzmarkt, Armut und Inflation stark ansteigt, hat die Polizei weniger Leute und weniger Waffen zu ihrer Bekämpfung zur Verfügung. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, auf Spitzel aus dem Milieu zu setzen.
Viele Familien verarmen, weil die Männer nach dem Krieg körperlich oder nervlich nicht mehr arbeitsfähig sind. Elendsviertel wie die Hannoveraner Altstadt erleben starken Zuwachs.
Wohnraum wird dadurch vermehrt, dass man Wohnungen durch Einziehen von papierdünnen Wänden teilt oder in den Höfen armselige Hütten ohne Wasser, Ofen oder sonstigen Komfort zusammennagelt. Mietparteien teilen sich Wasseranschlüsse und Toiletten, Privatsphäre gibt es bei dieser dichten Packung von menschlichem Leben keine. Schlechte Ernährung und fehlendes Sonnenlicht in den engen Gassen führen zu Mangelerscheinungen. Die Kinder haben von der Rachitis krumme Beine, die Erwachsenen Ausschlag und schlechte Zähne. Wie in anderen europäischen Städten geht die Industrialisierung nicht nur mit Fortschritt, sondern auch einer gewissen städtischen Verwahrlosung einher.
Weil Deutschland mit den Reparationszahlungen an die Alliierten zurücklegt, besetzen Frankreich und Belgien 1923 außerdem mit insgesamt 60.000 Mann das Ruhrgebiet als Zentrum der Deutschen Schwerindustrie. Die deutschen Arbeiter verweigern auf Geheiß der Regierung die Kooperation mit den Besatzern und streiken lange, was wiederum zu Produktionsausfällen und hohen Kosten führt. Deutschland muss immer mehr Geld drucken, um die Arbeiter durchzubringen, was – neben anderen Faktoren – zu der folgenden Hyperinflation führt.
Armut und Elend wachsen und wachsen. Entwurzelte und Namenlose taumeln als potentielle Opfer und Täter durch die Nacht, landen in den Bahnhofswarteräumen der dritten Klasse, auf dem Strich und ganz allgemein in schlechter Gesellschaft.
Kurz und knapp: Es ist eine zerrüttete Welt, die Menschen der unteren Gesellschaftshälfte sind verzweifelt, ausgezehrt oder krank, es herrschen Zustände, die durch Polizei, Armenhäuser oder andere staatliche Institutionen kaum aufgefangen werden können.
Ich habe in all den Jahren, in denen ich mich mit der Mordserie in Hannover befasst habe, immer wieder nach Schlüsselmomenten gesucht, gewissermaßen Initialfehler, die auf die die anderen begünstigenden Faktoren aufsatteln konnten und ohne die die Geschichte vielleicht anders verlaufen wäre. Und ich glaube, am nächsten kommt man solchen Momenten in der Zeit kurz nach Haarmanns Entlassung aus dem Stadtkrankenhaus III 1902.
Haarmann soll ja zurück nach Hildesheim kommen, aber weil die Anstalt überfüllt ist, schickt man ihn zur dauerhaften Unterbringung in die Pflege- und Heilanstalt nach Langenhagen. Von dort flüchtet er bereits nach kurzer Zeit und setzt sich in die Schweiz ab.
Jetzt passieren zwei Dinge.
1. Die Anstaltsleitung in Langenhagen bittet die Hannoveraner Polizei zwar zwei Mal darum, nach dem Flüchtigen fahnden zu lassen, und verweist dabei ausdrücklich auch auf seine Gefährlichkeit, aber „er wird auf Anordnung des Landesdirektoriums am 23. Dezember hierseits [also in der Anstalt Langenhagen, Anm.] als entlassen betrachtet.“ Aus den Akten der Anstalt geht also rückblickend nicht hervor, dass ein gefährlicher Straftäter geflohen ist, sondern nur, dass ein „Patient“ entlassen wurde.
2. Gut anderthalb Jahre später kehrt Haarmann im Jahr 1900 zurück nach Hannover und ersucht dort um Ausstellung eines polizeilichen Unbescholtenheitszeugnisses, da er wieder in die Armee einzutreten gedenkt. Der bearbeitende Kommissar hält fest, „... dass Antragsteller am 15. April 1899 aus Zürich im diesseitigen Revier zuzog, und dass Nachteiliges über ihn hier nicht bekannt geworden ist.“ Ein Persilschein, der Haarmanns psychologische und juristische Vergangenheit auf einen Schlag tilgt.
Man kann nur spekulieren, wie es zu diesen beiden katastrophalen Fehlern gekommen ist. Die Industrialisierung, die so viele europäische Städte gründlich durcheinandergewirbelt hat, wandelt auch Hannover stark. Die Stadt ist ein wichtiger Knotenpunkt für Handel zwischen Ost und West und zwischen Nord und Süd. Sie verfügt über zum Teil weltweit agierende Fabriken, etwa die Gummiwerke Excelsior (Später Reifenhersteller Continental) in der Vorstadt, die Bahlsen Keksfabrik oder die Hannover Maschinenbau AG (Hanomag). Zwischen 1870 und 1900 werden zahlreiche umliegende Vororte eingemeindet, wodurch sich die Einwohnerzahl sich in diesem Zeitraum verdoppelt.
Eine allgemeine Überlastung verwaltender Organe ist ebenso als Grund denkbar wie auch schlichte Schlamperei.
Über meine jahrelange Recherche habe ich versucht, etwas zu finden, das mir die Klärung der großen moralischen Frage in diesem Fall erleichtert. Einzig – es ist mir nicht gelungen. Natürlich gilt mein Mitgefühl zuvorderst den vielen, vielen toten Jungen und ihren Familien. Ich habe viele Tränen um die Kinder geweint, sehr viele Tränen. Die Eltern mussten lange mit der Stadt Hannover streiten, um einen Gedenkstein für ihre Kinder zu bekommen, auf dem die Ermordung erwähnt wird. Eine hinterbliebene Mutter hat den Verlust ihres Sohnes nicht bewältigen können und sich das Leben genommen. Andere Eltern haben lange – und vergeblich - mit der Stadt Hannover darum gestritten, dass auf dem für die Mordopfer errichteten Gedenkstein von „ermordeten Söhnen“ die Rede ist Bis heute steht dort „Dem Gedächtnis unserer lieben … verstorbenen Söhne“. Die Morde haben so viele Leben zerstört und den Charakter der Stadt Hannover für immer verändert.
Aber da ist auch etwas in mir, dass sich vehement dagegen wehrt, Fritz Haarmann mit Abscheu zu begegnen. Er war eine entsetzliche Gefahr für die Gesellschaft, sein Leben liest sich wie eine einzige, quälend langsame Eskalation. Aber der Staat hat – auch durch die Umstände - nicht nur an den jugendlichen Opfern versagt, sondern auch an Haarmann selbst. Nicht nur die Gesellschaft hätte vor Haarmann geschützt werden müssen, sondern auch Haarmann vor der Gesellschaft und sich selbst. In gewisser Weise ist Haarmann auch ein Opfer seiner eigenen Morde.
Ich glaube, ein Foto vermittelt die widersprüchlichen und widerstrebenden Gefühle, die ich empfinde, ganz gut. Es zeigt Fritz Haarmann, der am 19. Dezember 1924 nach dem Todesurteil von Polizisten ins Gefängnis überführt wird. Einer der Polizisten hält dabei Haarmanns rechte Hand.
Wie die eines Kindes.
Danke für’s Zuhören.
Quellen:
Fallakten, Staatsarchiv Hannover: Hann. 155 Göttingen Acc. 2006/069 Nr. 2 bis Nr. 8
Funk, Albrecht: „Polizei und Rechtsstaat, die Entwicklung des staatlichen Gewaltmonopols in Preußen 1848-1914“, Campus Verlag, 1986
Lessing, Theodor: Haarmann, Die Geschichte eines Werwolfs, 1925, (frei verfügbar im Projekt Gutenberg, https://www.projekt-gutenberg.org/lessingt/haarmann/chap001.html (Öffnet in neuem Fenster))
Leßmann-Faust, Peter: „Die preußische Schutzpolizei in der Weimarer Republik“, Verlag für Polizeiwissenschaft, 2012
Poszár, Christine/Farin, Michael: „Die Haarmann-Protokolle“, belleville Verlag 1995
Regulski, Christoph: „Klippfisch und Steckrüben – Die Lebensmittelversorgung der Einwohner Frankfurts am Main im Ersten Weltkrieg“, Gesellschaft für Frankfurter Geschichte, 2012, Wolfgang Kramer
Riesener, Dirk: „Die Polizeidirektion Hannover“, Verlag Hahnsche Buchhandlung Hannover, 2006
von Saldern, Adelheid: „Stadt und Moderne – Hannover in der Weimarer Republik“, Ergebnisse Verlag, 1989
Bildmaterial:
Bundesarchiv, Bilder 102-00824, 102-00544, 102-00922, 102-06186/ Georg Pahl / CC-BY-SA 3.0
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