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Session One: Machen Sie weniger. Und Yoga. Und Qi Gong. Und vergessen Sie das Wort „eigentlich“.

Völlig abgehetzt, mit zerzausten Haaren, schwarzen Boots mit offenen Schnürsenkeln, Lederjacke und Karo-Handtasche (völlig unpassend, denn das herbstliche Flanell mit den Brauntönen passt nun wirklich nicht in das, was wir gerade Frühsommer nennen, stand ich vor dem herrschaftlichen Gebäude. Zu spät. Wie so oft in letzter Zeit. Ich erinnere mich noch dunkel an Zeiten, in denen ich überpünktlich im Auto wartet, noch ein Buch las und gemächlich dort eintraf, wo ich sein sollte. Gefühlt kann ich mich aber nicht mehr wirklich erinnern. Es gibt einige Emotionen, die ich kaum wieder herholen kann. Wie es ist, sich einfach Dinge kaufen zu können, ohne überlegen zu müssen, an welcher Ecke man das wieder einsparen kann. Oder Lebensfreude. Aber deswegen bin ich ja hier. Um mein Leben wieder „in den Griff zu kriegen“. Was für eine bescheuerte Aussage. Ich will einfach wieder Lebensfreude haben. Und meine kaputten Mechanismen aushebeln. Alten Traumata fuck you sagen können und dabei wissen, in welche Richtung dieses Fuck You funktionieren soll. Bringt ja nichts, keine Gegenstrategie zu haben.

Also, wo war ich? Genau. Etwas lädiert vor dem Prunkbau. Den ich erst einmal mehrfach umrundet habe, da ich kein Klingelschild gefunden habe. Irgendwann (ich war ja eh schon zu spät) bin cih einfach durch eine offene Tür marschiert. Und da saß sie schon. Oder stand. Groß, schlank, mit silbergrau meliertem Haar, zum eleganten Dutt zusammengebunden. Cremefarbene Leinenhose, Türkis-weiße Tunika und smaragdfarbener Statement-Schmuck. Elitär, souverän, elegant. Erhaben. Und ich fühlte mich noch kleiner als ohnehin mit meinen 152 cm schon. Wie viele Jahre uns wohl trennen? 15? Aber mindestens so viele Welten.

Hektisch suchte ich meinen Krankenkassenausweis. Früher war ich gut sortiert, mittlerweile ein einziges Chaos. Aber ich war da. Saß schwer atmend auf dem schwarzen Ledersofa (Klischee ahoi) und versuchte, der Dame zu vermitteln, warum ich hier bin.

Meine letzte Therapeutin war je eher nicht so der Hit, für die war ich gefühlt mehr Unterhaltungsprogramm als alles andere. Und ich bin jedes Mal wütender rausgegangen, als rein. Meine Verzweiflung nahm eher zu, denn mit Sätzen wie „Ich weiß überhaupt nicht, warum Sie hier sind“, „Ihre Träume sind eh unrealistisch“, „gehen Sie zur Entspannung mal zu Lidl an die Kasse“ und noch einiges mehr, da bringt man mich mehr auf die Palme als dass ich mich gut aufgehoben fühle und der Person eine gewisse Kompetenz zugestehe. Klar, ich hab mit Autoritäten ein absolutes Problem, weil die meisten einfach nur aufgrund mangelndem Selbstvertrauen von den eigentlich kompetenten Personen in Führungspositionen gekommen sind. Aber naja, auch ich muss hin und wieder zugestehen, dass manche Menschen echt Ahnung haben, von dem was sie tun. Meine vorherige Therapeutin war kein solcher Fall. Meine jetzige, doch, ich denke schon.

Man merkt ihr viel an. Ihre Erfahrungen, auch mit dem Patriarchat und mit der freien Wirtschaft. Das ist ne Frau, die ihr Ding durchzieht. Find ich gut.

Klare Ansagen, das mag ich. Und die erste Ansage war: Stopp. Hören Sie auf. Mit allem. Und die zweite war: „Das Wort 'eigentlich' streichen wir jetzt mal schön aus unserem Wortschatz.“

Yeah. Ich versuchs. Heut würde ich Ansage 1 als ziemlich gescheitert betrachten. Immerhin arbeite ich jetzt wieder parallel an 3 Texten, überlege noch, ob ich eine Audio dazu aufnehmen soll und würde gern noch ein, zwei Reels machen. Aber vielleicht schicke ich stattdessen einfach diesen Text ab und gehe dann mit Tee und Wärmflasche ins Bett. Eiskalt geduscht hab ich heut immerhin auch schon und die Fellnasen sind ebenfalls bestens versorgt.