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Der Zauber des Spaziergangs

"Der Spaziergang hat seine Unschuld verloren" – mit dieser berechtigten Kritik an den Umzügen der  Impfgegner und Seuchenleugner schoss der Bundespräsident in guter Absicht über das Ziel hinaus – oder forderte er uns auf, uns diese bürgerliche, europäische Disziplin zurück zu erobern? 

In vielen Teilen der Welt ist es schlecht möglich, spazieren zu gehen. Als ich einmal in Atlanta Georgia vom Martin-Luther-King Haus in die Innenstadt zurück schlendern wollte, hielt bald ein Polizeiwagen neben mir und fragte, was ich denn für ein Problem habe. Auch in Europa war der Spaziergang lange dem Adel vorbehalten, dazu hatte er Gärten und Parks. Als in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts ein verarmter Adliger den Komplex des Palais-Royal mitten in Paris vermieten, also für die BürgerInnen öffnen musste, entstand dort eine urbane Spaziermöglichkeit unter Arkaden. Und ganz nebenbei die bürgerliche Öffentlichkeit, in deren Clubs und Cafés und umherspazierend  bald die Revolution ausgeheckt wurde. 

Man sollte auch post Corona beibehalten, was jetzt die Meetings und Besprechungen ersetzt: das werktägliche Herumlaufen unter freiem Himmel. Dazu passend habe ich diesen Klassiker wieder gelesen:

Damals war es ein legendäres, kurzes Format und heute aufschlussreicher als viele andere Werke über diese Zeit.  Witter nutzt die Distanz beim Gehen zur literarischen Deutung seiner Partner. Er rückt ihnen nicht auf die Pelle und schafft es so, sich Personen zu nähern, die ihm eigentlich gar nicht genehm sind. Bei anderen wiederum hilft ihm die Form, seine Begeisterung zu zügeln. Witters Kollege bei der "Zeit" , der stets jugendliche Theo Sommer, erzählte mir mal, sie hätten doch Sorge gehabt, wieviel davon Witter einfach erfunden hat, denn er hat nichts notiert und nichts aufgenommen. Größeren Ärger hat es aber nie gegeben: Zauber des Spaziergangs.

Heute plane ich einen Kinobesuch. Es gibt, außer einem Spaziergang, kaum etwas Besseres, um sich vom permanenten Doom-Scrolling, dem zwanghaften Abrufen schlechter Nachrichten aus Russland abzuhalten, als ein langer Film. Ich möchte mir diese Reiseerzählung und Doku  ansehen: 

https://www.youtube.com/watch?v=tzMAxkVNvVo (Öffnet in neuem Fenster)

Der französische Schriftsteller Sylvain Tesson begleitet hier einen Naturfilmer auf der Suche nach einem Schneeleoparden in Tibet. Tesson hat schon Bücher über unglaubliche Abenteuer geschrieben: Einmal lebte er in einer Hütte am Baikalsee, ein anderes Mal wanderte er durch Frankreich. Als er betrunken an seinem Haus herum turnte, weil er den Schlüssel verloren hatte, stürzte er und kam beinahe ums Leben. Er verbrachte Wochen in der Klinik, seitdem ist sein Gesicht kubistisch verrutscht. Über Frankreich schrieb er einen goldenen Satz, der auch in diesem Wahlkampf wieder passt: Ein Paradies, dessen Bewohner es für die Hölle halten. 

Vorigen Montag war Valentinstag, aber da war ich unterwegs bei einem Coaching für ein - noch geheimes - Projekt. Als ich am Abend wieder zuhause war, musste ich mich erstmal auf die Suche nach dem Rosenstrauß für meine Frau machen, den der Bote irgendwo im großen Altbau abgegeben hatte –  es war, wie man im Saarland sagt, nichts als Huddel. 

Besser, man macht es wie Nigel Slater (Obwohl ich den Brokkoli weglassen müsste, den meine Frau ehrlich verabscheut und das am Valentinstag)

https://www.theguardian.com/food/2022/feb/13/nigel-slater-recipes-chicken-purple-sprouting-dark-soy-and-for-coffee-hazelnut-trifle (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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