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Die Reise nach Kassel

Flop mit Ansage/ Cassidy Hutchinson/AA GILL

Die Dienstreise dieser Woche führte nach Kassel. Auf dem Weg in die Innenstadt fiel mir die Werbung eines Bestattungsinstituts für ihre Beerdigungsvorsorgeversicherung auf: "Eine Sorge weniger" war der Slogan und er entfaltete, je länger ich dort war, immer mehr Überzeugungkraft. Ich war in Sachen des Documenta-Skandals da, aber die Stadt selbst war auch nicht ohne. Es war drückend heiß und nirgends ein Trinkwasserbrunnen, dabei steht die ganze documenta fifteen im Zeichen von Kooperation und Autonomie. Mein Hemd war viel zu warm, außerdem riss ein Knopf ab, also musste ich mir ein T-Shirt kaufen. Das Kaufhaus war völlig leer, alle FachverkäuferInnen hatten sich in eine ferne Ecke verzogen und es war auch nur eine einzige Kasse geöffnet. Ich konnte eine Damenumkleide nutzen, um das T-Shirt anzuziehen, es war alles egal. Ich fragte mich, ob das vielleicht ein Kunstprojekt ist? 

Ich wollte auch noch etwas von der Schau selbst sehen und öffnete eine Tür nach der anderen, die je auf einen Workshop mit Holz oder einen Saal mit Postern und Protestkunst gingen und warum auch nicht. Es liegt ja viel im Argen und bevor man sich dem Bestattungsinstitut Sorgenfrei anvertraut, kann man ja einiges verbessern. Allerdings ist die Sammlung von Forderungen und Slogans aus der ganzen Welt dann wieder nichtssagend, denn es macht schon einen Unterschied, ob die Uni, die reformiert werden soll ,in Marburg steht oder in Teheran. Und viele der hier dokumentierten und wohlwollend kuratierten Sprüche gegen die da oben hätten auch auf den Schildern der Trump-Freunde beim Sturm auf das Kapitol am 6. Januar 2021 stehen können. Die abendliche Diskussionsrunde, die den Skandal um die antisemitischen Bilder aufklären sollte und die der Grund meiner Reise war, verfinsterte die Gesamtlage noch. 

Diese Documenta 15 versinkt im selben Bermudadreieck wie das Humboldt-Forum: Man möchte der deutschen Geschichte den deutschen Themen entfliehen, in dem man den "globalen Süden" feiert – und ist null vorbereitet auf den Konflikt mit dortigen Ansprüche, dortigen Themen ("Globaler Süden" ist ein unpolitischer Pauschalbegriff, kaum besser als "Dritte Welt"). Ein Labyrinth der Zuständigkeiten zwischen Bund, Ländern und Gemeinden und eine lähmende, politisch-bürokratische Omniangst führen dann in die kulturelle Katastrophe – in Kassel sogar mit Ansage. Ich war so froh, als ich wieder am Bahnhof war. 

In der Dramaserie, die die Welt in Atem hält, gab es eine spektakuläre neue Entwicklung: Der Ausschuss zur Aufklärung des Trumpschen Putschversuchs brachte eine neue Zeugin, Cassidy Hutchinson. Die junge Frau bewies einen atemberaubenden Mut und sagte vor der Weltöffentlichkeit darüber aus, was Trump an jenem Tag trieb und vorhatte, eine für ihn niederschmetternde Zeugenaussage. Ich frage mich, wie ich diese Frau wohl vorher eingeschätzt hätte? Eine Juristin, die für Donald Trump arbeitet, eine Republikanerin, die bis zum bitteren Ende dabei blieb? Nicht besonders wohlwollend, jeder hat seine Vorurteile. Und dann sagt sie aus, stellt sich gegen dieses gewaltbereite,  radikale Lager und legt mehr Mut an den Tag als all die Multimillionäre, die Trump umgeben und fördern. Vielleicht habe ich zu viele Jahre in komplizierten Medienhäusern verbracht, wo er leider so rar ist –  heute schätze ich solchen Mut ganz besonders, gerade weil in ihm auch jene Verletzlichkeit aufscheint, die allen Menschen gemein ist und die wir doch am liebsten verbergen. 

https://www.youtube.com/watch?v=HeQNV-aQ_jU (Öffnet in neuem Fenster)

Zu meinen leider schon verstorbenen Vorbildern, Idolen und Göttern auf dieser Welt zählt der britische Autor Adrian A.A.Gill. Ich war begeistert von  seinen Restaurantkritiken in der Times, in denen es spaltenlang hochkomisch um alles Mögliche ging, bis dann im letzten Absatz  die zu rezensierende Kneipe dran kam: Let's get this weeks sorry affair over with. 

https://www.eater.com/2016/12/12/13920880/aa-gill-best-restaurant-reviews-in-memoriam (Öffnet in neuem Fenster)

Mit viel Ausdauer gelang es mir einmal, mich mit ihm zum Frühstück zu verabreden. Auf Mails antwortete er nie, denn dieser Virtuose der publizistischen Prosa mied  wegen einer Rechtschreibschwäche  jede Tastatur. Jeden seiner genialen Texte diktierte er einer Kollegin. Bei unserem Treffen jedenfalls pries er das Schreiben über Küchen und Kneipen als Schlüssel zur Welt – wer über Nahrung und ihre Zubereitung schreibt, kommt zu Fragen von Leben und Tod, Familie und Freundschaft und zum großen Ganzen. 

Dieser neue Artikel in der NYT demonstriert das sehr gut: Es geht um Huhn, Migration, internationale Politik,  kulturelle Aneignung und man kapiert zugleich, dass auch der "globale Süden" aus ziemlich komplizierten, einzelnen Staaten besteht. 

https://www.nytimes.com/2022/06/28/dining/taiwanese-fried-chicken.html (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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