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Identifiziert euch!

Hegel und Paypal/"Wie im echten Leben"/Sonntagsbraten im Sommer

Ich war wach und er war weg: Der Code, mit dem ich mein iPhone entsperre. Ich riet, besann mich und überlegte – aber nichts zu machen. Ich hatte im  viele Passwörter geändert in letzter Zeit, darunter auch diesen und ihn nicht notiert. Nun war ich auf Reisen in einem Hotelzimmer,  ausgesperrt von meinem eigenen Gerät und Netzwerk und alle meine Versuche, doch noch Einlass zu finden, machten mich nur immer verdächtiger. 

In erstaunlichem Sadismus verlängerte das Gerät jeweils die Wartezeit, nach der ein weiteres Entsperren möglich würde, aber dazu bräuchte ich den Code und da war außer Raten nichts mehr zu machen. Zum Glück hatte ich mein MacBook dabei, so fand ich rasch eine Software, die in solchen Fällen hilft. Die Apple-eigene Wiederherstellung versagte nämlich komplett den Dienst, der Server sei nicht zu erreichen. 

Diese neue Software brauchte viel Zeit, vor allem wollte sie bezahlt werden und nicht irgendwann auf Rechnung. Alle Methoden zur Bezahlung endeten aber am gleichen Punkt: Ich musste die Transaktion meiner Bank per Iphone bestätigen. Zwar kann man im wirklichn Leben jemanden per  simpler Unterschrift heiraten, im digitalen Kapitalimus aber herrschen strengere Regeln. Irgendwann stand ich gegen 9Uhr morgens an der Bar meines Hotels und rief mit dem dortigen Schnurtelefon die Hilfeleitung von PayPal an, Frankfurter Vorwahl. Ich sprach mit einer netten Dame, die mir deutlich machte, ich könne ja irgendjemand sein und etwas im Schilde führen, dann sei es doch gut, dass ich nichts tun kann. Mein Standpunkt war, dass ich schon ich bin, aber das klang selbst mir wie ein schwaches Argument. Sie nahm höflich einen hegelianischen Standpunkt ein: Wenn ich so ausgesperrt sei, dann habe das schon irgendwo sein Gutes.  Das Bezahlsystem kannte eben noch andere Gründe, folgte anderen Mächten als ich in dem nur subjektivem Interesse, von meinem Konto mein Geld zu überweisen. So hat mich diese Dame an letzte Fragen geführt: Bin ich, wer ich vorgebe zu sein? Oder gibt es nicht auch Grund, mir selber zu misstrauen? Kafka erörterte solche Fragen und Sigmund Freud auch. Und wenn so viel von Identitätspolitik die Rede ist, hängt es vielleicht auch mit dieser digitalen Ökologie zusammen, die uns zur permanenten Identifizierung zwingt, weil sie besser weiß, wie der Mensch so ist. Eine Anthropologie der permanenten Paranoia, die x-mal am Tag eine Identität bestätigt haben möchte.  

Es gab dann einen Weg wie aus einem Agentenfilm – eine Vertrauensperson am anderen Ende der Republik eilte dazu zu einem vergessenen Festnetztelefon, um einen Anruf von PayPal entgegenzunehmen, dann löste sich alles. Es war die digitale Version des "Pettersson und Findus"-Klassikers, in dem erst der Schlüssel zum Schuppen her muss, bevor das Fahrrad repariert werden kann, um die Eier zu kaufen und den Kuchen zu backen. 

Etwas Gutes hatte es auch: Ich wusste schon, der Verzweiflung nahe, dass diese stundenlange Irrfahrt im digitalen Wahnsinn Stoff für den "siebten Tag" sein würde. 

Der Prozess der Umwandlung von Erfahrung und Text ist auch das Thema eines  bemerkenswerten Films, der jetzt im Kino zu sehen ist: "Wie im echten Leben". Regie führte Emmanuel Carrère,  spielt Juliette Binoche und die Vorlage ist von der Journalistin Florence Aubenas. Für ihr Buch Le Quai de Ouistreham heuerte sie 2008 als Putzkraft in Caen an, reinigte dort unter schrecklichen Bedingungen die Englandfähren: 60 Betten mussten in 90 Minuten gemacht werden. Doch ihre Kolleginnen der Putzkolonne wussten nichts von Aubenas Arbeit als Autorin. Sie vertrauten ihr, ließen sie an ihrem Leben teilnehmen und so gelangen intime Porträts dieser prekären Schicht. Aber war es okay, nicht die Wahrheit zu sagen? Die Menschen aus Caen haben es je für sich, je unterschiedlich beantwortet und dieser Film entlässt sein Publikum verblüfft, durchaus amüsiert und beschwingt, aber mit vielen Fragen. 

https://www.neuevisionen.de/de/filme/wie-im-echten-leben-118 (Öffnet in neuem Fenster)

Meine Privattheorie besagt, dass das unerschöpfliche Talent, mit dem die  Menschen des Vereinigten Königreichs uns immer wieder verblüffen, sie nach den staatsfeindlichen Thatcherjahren in lukrative Branchen wie dem Finanzwesen, den Medien, der Musik oder die Unterhaltungsindustrie führten — aber eben kaum je in die Politik. Da hat UK eine erstaunlich große Zahl von schrägen Gestalten aufzubieten, es ist ein Elend. Auch ohne Boris wird es zäh und schwierig. 

Heute ein Grund, solidarisch nachzuempfinden, wie man dort so durch die Sonntage des Sommers kommt, die eine oder andere gute Idee ist bestimmt dabei..

https://www.theguardian.com/food/2022/jun/28/how-to-cook-a-lighter-summer-sunday-roast-kitchen-aide (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Über dreitausendfünfhundert Menschen erhalten heute diesen Newsletter, der vor etwas über einem Jahr mit wenigen Dutzend startete. Danke.

PPS: Es kommen immer wieder nette Anregungen, diesen Newsletter mit Anzeigen profitabel zu machen oder ihn unter die Fittiche einer Medienmarke schlüpfen zu lassen – aber das passt nicht so recht zur Anarchie, zur Freiheit des Sonntags. Umso mehr weiß ich es zu schätzen, wenn Menschen durch eine Mitgliedschaft die Arbeit daran finanziell unterstützen und das geht hier:

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