Drei schwarze Steine
14.Juli 1789/Hilary Mantel/Milan Kundera/Spaß und Gesundheit
Michel de Montaigne hat einmal einen Tag in der Bastille, dem legendären königlichen Gefängnis in der Mitte von Paris verbracht. Das war im Sommer 1588, als katholische Ultras die Stadt in ihrer Gewalt hatten. Er wurde mittags in seinem Hotel verhaftet und kam am Abend auf Intervention von Katharina von Medici wieder frei. Der Schreck ist ihm in die Glieder gefahren und er verließ Paris erst einmal. (Was er da genau trieb zu dieser Zeit, wäre Stoff für einen Roman. Er sollte Montaignes Tochter heissen, denn in jenen Monaten traf er jene achtzehnjährige Frau, eine Lektorin, dank derer wir seine Essais überhaupt nur kennen: Marie de Gournay. Aber das nur am Rande). Die Bastille war das Symbol für die Willkür des Ancien Régime: Man wusste nie, was einen erwartet.
Zweihundertundein Jahr später war es mit dem Haus des Horrors vorbei: Die Revolution erreichte einen Punkt ohne Wiederkehr, als das Gefängnis am 14. Juli 1789 befreit und zerstört wurde. Das ist nicht lange her.
Die Revolution provoziert die militärische Reaktion der Monarchien Europas. Preußen, Österreich und Russland lassen ihre Profi-Armeen marschieren, um die alte Ordnung wieder herzustellen. Das Militär der Französischen Republik, einfache Wehrpflichtige, ist motivierter als die professionellen Söldner gewinnt und die Dinge geraten ins Rutschen. Goethe beschreibt die Ereignisse als den Beginn "einer neuen Epoche der Weltgeschichte". Er liegt richtig: Damals beginnt unsere Epoche.
Fast forward: Napoleon kommt, dreht Europa auf links. Dann erhebt sich eine mächtige Reaktion, Wiener Kongress: Alles auf Anfang. Das klappt nicht lange - Revolution 1830 und 1848: Bismarck. Dann der Kaiser, der Kolonialismus, der Imperialismus, Weltkrieg 1 und wieder Revolution und wieder Reaktion: Hitler. Massenmord an den europäischen Juden, die im Zuge der Französischen Revolution erstmals zu vollwertigen Bürgern erklärt worden waren, – seitdem allen Antisemiten als rotes Tuch, als Symbol für Fortschritt und Freiheit gelten. Überfall auf die Sowjetunion, der Putin immer noch heimsucht und von ihm als Begründung für eigene Untaten herangezogen wird. Doch nur er selbst ist dafür verantwortlich.
Napoléon, Bismarck, Hitler – drei schwarze Steine im Fluss der Geschichte, über die man hüpft, wenn man vom Sturm auf die Bastille zu unserer Gegenwart möchte. Derzeit ist wieder viel Reaktion, aber seit dem 14.Juli 1789 weiß man: Lange gewinnen die nie!
Ein Glas Wein zum Gedenken ist angebracht!
Um noch einmal einzutauchen in die schräge, teils moderne, teils archaische Welt des vorrevolutionären Paris, habe ich mir diesen Roman der großen Hillary Mantel bestellt. Für mich standen ihre früheren Werke immer im Schatten der meisterlichen Trilogie um Thomas Cromwell am Hofe der Tudors, aber jetzt nicht mehr. Brüder ist voller Humor und in bester Laune geschrieben. Mantel erzählt die Geschichte dreier komischer Vögel, die als Danton, Robespierre und Camille Desmoulins berühmt werden. Die Autorin ist von ihnen wenig beeindruckt. Ihr literarischer Übermut passt gut zu einer Zeit, in der alles ins Rutschen kam und Mantel schildert eben nicht nur den Ogottogott -Teil so einer Erfahrung, sondern auch das JUHUU.
Da blitzt ihr unwiderstehlicher Humor durch. Folgende Anekdote: Als Abiturientin in einer Nonnenschule hatte Hilary Mantel den Titel der die Schule leitenden Ordensschwester nach einem damals erfolgreichen Actionfilm verkürzt und umbenannt in Top Nun. Der Schwester Direktorin soll das übrigens ausnehmend gut gefallen haben.
Es ist nun keine irre Überraschung, wenn ein Herr mit Mitte neunzig stirbt, aber hätte es wirklich sein müssen? Kundera ist ein Mann, dem die Machthaber seiner Jugend alles nehmen wollten. Er verlor nach dem Einmarsch der Sowjets nach Prag im Sommer 1968 seinen Job als Dozent, die Bücher verschwanden und schreiben durfte er auch nicht mehr. Rechtsweg ausgeschlossen. Nun, in der letzten Woche hat jedes Qualitätsmedium der Welt seinen Tod trauernd vermeldet, während die Politiker, die ihn drangsalierten, vergessen sind. Wer das Glück hat, nichts von ihm gelesen zu haben, den ganzen Spaß noch vor sich zu haben : In der Arte-Mediathek findet sich als Einstiegsdroge eine schöne Doku über Milan Kundera.
https://www.arte.tv/de/videos/102301-000-A/milan-kundera-die-ironie-des-seins/ (Öffnet in neuem Fenster)Ist Wein gesund oder ungesund? Jeder hat die verschiedensten Dinge dazu gelesen. Die Universität von Bordeaux weist regelmäßig auf die Unverzichtbarkeit von Rotwein zum Erhalt der Herzgesundheit hin. In amerikanischen Publikationen empfiehlt man in postprohibitionistischer und pseudoreligiöser Verblendung die Enthaltsamkeit. In diesem Text geht Emily Oyster der Frage auf den Grund und bringt eine dritte Kategorie in die Erörterung, den Genuss. Den lassen die meisten der Artikel zur Bewertung einer Konsumfrage schlicht außen vor, daher kommen sie zu einem fragwürdigen Urteil. Niemand, so Oyster, mache schließlich Versuchsreihen um herauszufinden, ob ein Orgasmus nutzt oder schadet und so ist das mit anderen Fragen eben auch: Die Antwort liegt im Spaß an der Sache.
https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2023/07/moderate-drinking-heart-disesase-cancer/674692/?utm_source=newsletter&utm_medium=email&utm_campaign=one-story-to-read-today&utm_content=20230714&utm_term=One%20Story%20to%20Read%20Today (Öffnet in neuem Fenster)Wenn die New York Times sommerliche Rezepte zur Zubereitung von Huhn vorstellt, dann ist das ein kulturgeschichtliches Zeugnis eigener Art: Die Zeitung bringt keine amerikanischen Rezepte, keine europäischen, sondern pflegt ganz selbstverständlich einen diversen und multikulturellen Ansatz. Menschen aus der ganzen Welt lesen diese tolle Zeitung. In vielen Ländern hindert sie das Regime daran. Der globale Ansatz der Times erfreut mich jedes Mal. Obwohl politisch die Chauvinisten und Nationalisten in vielen Ländern und auf zu vielen Plattformen den Ton angeben, stehen noch mehr Leute hinter universellen, humanistischen und kooperativen Idealen. Und hinter leckerem Essen nach Rezepten aus aller Welt.
https://www.nytimes.com/article/summer-chicken-recipes.html (Öffnet in neuem Fenster)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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