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Im Weihnachtswahnsinn

Vor dem Rathaus und der Kathedrale der schönen Stadt Bordeaux steht in diesem Jahr erstmalig eine Weihnachtsbaumskulptur, ganz aus Glas und Metall. Sie ist ein Politikum ersten Ranges.

Gleich nach seiner überraschenden Wahl hatte der grüne Oberbürgermeister der Stadt, Pierre Hurmic, durch ein Interview schlagartig nationale Berühmtheit erlangt. Dort kritisierte er den Brauch, zu Weihnachten “tote Bäume” aufzustellen. Da war was los. Aber nun musste er dabei bleiben, also hat er dieses Werk aufstellen lassen, das hält ewig und man braucht nichts zu fällen. Besserwisser weisen darauf hin, dass die großen Nadelbäume ja eigens für Weihnachten gezogen werden. Und dass, wenn sie niemand bestellt, kein solcher Baum wachsen wird. Hurmic wird als grüner Gegner von Weihnachten verunglimpft, obwohl er ein eifriger Katholik ist, der regelmäßig zur Messe in der Kathedrale dahinter geht. Zugleich gilt er jetzt als Feind der Baumzucht, obwohl er doch ein großer Bepflanzer der Stadt ist, der er zahlreiche urbane Wälder beschert hat. An Weihnachten drehen eben alle durch.

In meiner Kindheit hatten wir Nachbarn, die sich oft stritten und besonders heftig an Fest- und Feiertagen. Einmal wurde im Zuge der Auseinandersetzung die ganze Wohnung zerlegt und als die Polizei endlich da war, wiegelte das streitende Paar ab: Wir feiern schön Weihnachten. Im Hintergrund rauchten die Trümmer des Mobiliars.

In der Vormoderne war in den kurzen Tagen und langen Nächten wenig los, die Landwirtschaft ruhte weitgehend, Reisen waren unmöglich. Um die Zeit herumzukriegen, wurde geschnitzt, dekoriert, gekocht und gebacken und alles Mögliche produziert. Zeit in Tonnen, es war langweilig. Heute ist das bekanntlich ganz anders, aber man tut so, als sei es eine ruhige Saison und am Ende reicht die To-do-Liste rund um den Äquator.

Der Verstand muss an diesen Tagen ausgeschaltet blieben. An der Weihnachtsgeschichte ist alles aus diversen Mythen zusammentragen , leider passen die Teile nicht gut zusammen. Was haben Santa Claus und sein Rentier mit der Krippe von Bethlehem zu tun? Nicht nachdenken. Es gab keine Volkszählung und Jesus von Nazareth hieß so, weil er aus diesem Ort kam und nicht aus Bethlehem. Es gab da keinen Weihnachtsbaum und die bei seiner Geburt herumstehenden Personen waren eher seine Geschwister, Verwandte und andere Nachbarn, die ihre Zeitgenossen wohl nicht für heilige Könige gehalten hätten. War das Baby nun ein Jude, ein Palästinenser? Eine ewige Frage, die die Absurdität heutiger Konflikte verdeutlicht.

Manchmal kann es einem vorkommen wie das Datum zum Ende der Welt: Alles muss vorher noch erledigt werden, man soll alle noch einmal treffen und wenn man an manchen Tagen die Nachrichten schaut, scheint das keine unrealistische Perspektive. Aber direkt danach werden die Tage ja wieder länger und man schüttelt verkatert den Kopf über die noch eintreffenden Kartons mit Geschenkpapierrollen, Bändern, Batterien und Glühbirnen.

Die deutsche Innerlichkeit macht es nochmal extra schwer. In vielen deutschen Familien ist es ein schwieriges Fest. Man denkt an die Toten, an vergangene Zeiten und hat immense Vorstellungen davon, wie alles zu sein hat. In manchen Familien, die ich kennenlernen durfte, war das auch der Moment der Wahrheit, an dem man mal an die Gefallenen, die alten Nazis und die intime Last der Geschichte denken durfte. Das Fest der Lichter bot den Rahmen für privates Gedenken ohne Kitsch und wohlfeile Moral. Der Horror wurde kurz vorgelassen.

Im laizistischen Frankreich ist Noël eine runde Sache: Am 24.12. gibt es ein gutes Essen, gern auch einfach im Restaurant. Davor Kino. Paar Geschenke, fertig. Während des Essens wurde selbstverständlich über Politik geredet und weil am Tisch alle auf je eigene Art links waren, wurde viel gestritten. Rechtsauslegerin war meine Großmutter, die gern ins Kino ging und Hollywood liebte. Ihr hielten die anderen die zahlreichen Missetaten der Vereinigten Staaten vor: Watergate, Vietnam und so weiter. Sie entgegnete mit der Frage, woher denn dieses kritische Wissen über die USA stammt? Doch wohl aus amerikanischen Filmen! Moment des Triumphs an Weihnachten.

Seit vielen Jahren darf ich Weihnachten mit der eigenen Familie gestalten und so passt es für mich: als Fest der Freiheit so zu leben und zu feiern, wie man möchte.

Humor ist das Wichtigste an Weihnachten.

https://www.ardmediathek.de/video/familie-heinz-becker/alle-jahre-wieder/sr/Y3JpZDovL3NyLmRlL0hFSU5aXzEyNTM0OA (Öffnet in neuem Fenster)

Das spannendste historische Buch des Jahres erscheint gerade rechtzeitig zur winterlichen Lesezeit: Wolfgang Behringers Versuch einer frühen Globalgeschichte.

https://www.beck-shop.de/behringer-globalgeschichte-fruehen-neuzeit/product/33300511?em_src=kw&em_cmp=google-shopping&gad_source=1&gclid=Cj0KCQiAj_CrBhD-ARIsAIiMxT8Ha0X5LdIHnnPRZfdXQtldKDYgVaUyaEEq6JgwWVg4C_aK9QlzqC0aAtlJEALw_wcB (Öffnet in neuem Fenster)

Es geht um die Zusammenhänge der großen Zivilisationen im 16. und 17. Jahrhundert, angereichert mit Porträts nach neustem Forschungsstand. Gleich im ersten Teil lernt man so viel dazu, wie in sonst in ganzen Werken nicht. Etwa, dass Nordamerika zur Ankunftszeit von Columbus ganz ohne Pferde war. Die Mustangs kamen erst mit den Spaniern. Und dass besagter Columbus wirklich der erste Entdecker war, obwohl es alle Zivilisationen für sich reklamiert haben.

Behringer hat nicht nur ein irres Forschungs- und Lesepensum absolviert, er teilt sein Wissen mittels spannender, toll geschriebener Erzählungen. Dabei hat er eine gewisse Freude, gegen den Zeitgeist zu argumentieren und sonst wäre es ja langweilig. Er legt dar, was für unglaubliche Grausamkeiten andere Zivilisationen als die europäische begangen haben und wehrt sich also dagegen, dass Gemeinheit und Grausamkeit ein europäisches Alleinstellungsmerkmal seien. Immer wieder fallen kleine Spitzen, etwa wenn er bemerkt, dass unser global warming schlimm ist – das Gegenteil, eine kleine Eiszeit, auch ganz schön stresst und sogar schlimmer ist.

Ich bin noch lange nicht durch, aber habe noch keine Seite übersprungen!

Auch ein sehr gutes Weihnachtsgeschenk ist dieses Werk aus dem vorigen Jahr, hier in freier Wildbahn im Kulturkaufhaus Dussmann erspäht:

Und weil Weihnachten besser mit einem guten Essen vonstatten geht, vertrauen wir auf einen Vogel, der leider etwas aus der Mode gekommen ist.

https://madame.lefigaro.fr/recettes/chapon-de-pintade-fermier-aux-epices-gratin-de-celeri-aux-noisettes-101215-109946 (Öffnet in neuem Fenster)

Und weil das fleischlose Rezept der vergangenen Woche so großen Anklang fand, hat meine Tochter ein veganes Festtagsrezept heraus gesucht:

https://zuckerjagdwurst.com/de/rezepte/veganer-nussbraten-mit-serviettenknoedeln-und-zwiebel-sahne-sosse (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

PS: Der siebte Tag macht Weihnachtspause und kommt am 7.Januar wieder. Frohes Fest!

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