Zum Hauptinhalt springen

Another Year

KI und wir/Rebekka Habermas/ Madoff Serie/ Herr Grün und Nigel Slater

Zwischen den Jahren öffnet sich ein kalendarisches Bermuda-Dreieck, in dem schon mal etwas untergeht. Bei mir war es ein Päckchen aus den Niederlanden, zuständig war die aus dem Tom Hanks Film Cast Away bekannte Firma FedEx. Ich rief an und musste keine zehn Sekunden warten, dann hörte ich schon die Stimme der Sachbearbeiterin. Aber etwas war seltsam. Wenn ich eine Stimme höre, habe ich auch ein Gesicht vor Augen. Das stellte sich aber diesmal nicht ein. Die Dame machte Pausen beim Sprechen, als müsste sie nachdenken. Sie zögerte. Rein sachlich gab es keinen Grund dazu, meine Anfrage war banal, das Päckchen nicht so wichtig. Dann hörte ich das Geräusch einer Tastatur. Sehr laut und satt, wie von ganz frühen Computern. Kein Keyboard klingt mehr so. In diesem kurzen Telefonat wurde eine akustische Kulisse entfaltet: Ich sollte das Gefühl haben, mit der Mitarbeiterin eines Callcenters alten Typs zu sprechen. Die ihre Sätze mit Pausen und mh intoniert, dann ein schweres altes Gerät bedient. Alles ging flott und angenehm und war von Anfang bis Ende eine Anwendung künstlicher Intelligenz. Das Zögern machte es menschlich, denn es sind die Fehler und die Pausen, die uns davon überzeugen, nicht mit Software zu sprechen. Es war keine unangenehme Erfahrung, hatte schon wesentlich frustrierende Anrufe dieser Art. Nur eines war bedauerlich: Mein Anruf war vollkommen überflüssig. Mein Wunsch nach einer erneuten Zustellung kann ausschließlich per Chat auf der Website bearbeitet werden. Dort kümmerte sich Fadime A um mein Anliegen. Die Konversation am Telefon mit all ihren durchdachten Elementen, war nutzlos und hätte in Sekunden beendet werden können. Alles kann die KI nur eines nicht: erkennen, wann sie überflüssig ist.

Das Jahr begann mit einer kurzen Reise nach Göttingen. Die Trauerfeier und Beerdigung von Rebekka Habermas (Öffnet in neuem Fenster) fand schon am Vormittag statt, man sollte also besser am Tag zuvor anreisen. An der Bar des Hotels traf ich einen Freund, der aus dem gleichen Grund in der Stadt war. Wir tranken auf Rebekka. Die Feier selbst war intensiv, würdig. Es sprachen ihre Schwester, eine Schülerin und zwei Freundinnen, darunter Elke Schmitter. Eine Freundin wiederholte, was Rebekka ihr in Telefonaten sagte: “Eine Stunde bei mir kostet 100 Euro, aber für Dich sind es 120, weil Du so doof bist. “

Ich lernte Rebekka im Doktorandenkolloquium von Richard van Dülmen in Saarbrücken kennen. Ich begann, sie war fast fertig. Damals war sie eine Erscheinung und blieb es. Rebekka brachte mich in Kontakt mit Elke Schmitter, damals taz, die meine ersten Buchbesprechungen ins Blatt hob. Ohne Rebekka wäre ich vermutlich beruflich im Saarland geblieben, bei der VHS Saarbrücken oder so etwas (kein Diss, ist ein toller Laden und ich mache gern Veranstaltungen dort!) In den Reden ergab sich das Bild eines langen und gelungenen Abschieds ohne Scherzen, umrundet von Freunden und Familie. Es war eine intensive Veranstaltung, an deren Ende ein Song von Wolf Biermann erklang.

Danach, im Café, traf ich Menschen, die ich etwas aus den Augen verloren hatte. Der Beruf, die Kinder – in der rush hour des Lebens kann man nicht alle Bälle in der Luft behalten. Ich denke dann immer, ich treffe alle später mal, aber manchmal ist später zu spät. Es wurde gelacht, umarmt, Pläne wurden besprochen, wie man ihren Namen weitertragen kann, etwa mit einem Preis. Ich war bedrückt und traurig angekommen und verließ Göttingen ganz friedlich, fast heiter.

Philosophieren lernen heißt sterben lernen, schreibt Montaigne. Wer so verabschiedet wird, hat im Leben vieles richtig gemacht.

Unter anderem bleiben ihre Bücher, etwas diese hochaktuelle Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit:

https://www.fischerverlage.de/buch/rebekka-habermas-skandal-in-togo-9783103972290 (Öffnet in neuem Fenster)

Es gab schon viele Darstellungen des Skandals um den Finanzbetrüger Bernie Madoff und ich sehe sie mir alle an. Sein Fall ist ein Lehrbeispiel dafür, wie komplexer Betrug funktioniert und dass Aufklärung allein dagegen nicht ankommt. In dieser neuen Miniserie sind auch die Aussagen von Madoff selbst zu sehen. Neu war mir, wie detailliert und frühzeitig die Börsenaufsicht SEC gewarnt worden war. Der Mathematiker einer anderen Firma hatte sich die Madoff- Zahlen angesehen und präzise erkannt, was da läuft: Die Einlagen der einen wurden den anderen als Dividenden wieder ausgezahlt. Irgendwann nahm sich die Chefin der SEC der Sache an und reif bei Bernie durch. Man kannte sich. Der lachte und sagte, er tue nichts Illegales. Das verschaffte ihm weitere Jahre.

Jeder konnte es wissen. Aber Fakten helfen wenig, wenn Menschen sich in einem Weltbild bewegen, dass sie noch dazu kurzfristig reich macht.

https://www.netflix.com/title/81466159 (Öffnet in neuem Fenster)

Auf vielfachen Wunsch werde ich nun auch fleischlose Rezepte aufnehmen. Heute mit einem Vorschlag von der legendären Seite Herr Grün kocht - ein gebürtiger Saarlander, da kann also nichts schief gehen.

https://www.herrgruenkocht.de/im-ofen-karamellisierte-rotkohlscheiben-mit-weissen-bohnen/ (Öffnet in neuem Fenster)

Und nach den Festen ist vor den Festen. Ich würde von Nigel Slater eher nichts nachkochen, aber seine alltagspoetische Beschreibung eines urbanen Lebens, dass sich ganz ums Kochen und Essen dreht, können einen süchtig machen.

https://www.theguardian.com/food/2023/dec/17/nigel-slater-recipes-for-goose-fat-chicken-and-quince-custart-tarts (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch

Ihr

Nils Minkmar

PS: Ein neues Jahr mit dem siebten Tag. Wenn Sie einen finanziellen Beitrag zu meiner Arbeit leisten möchten und können, so geht das hier:

1 Kommentar

Möchtest du die Kommentare sehen?
Werde Mitglied von Der siebte Tag und diskutiere mit.
Mitglied werden