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Unsere kühlsten Jahre 

Heiß und kalt/ Zweite Staffel "Teheran"/ Annie Ernaux

Tornado in Paderborn. Laute, grüne Halsbandsittiche in Hessen. Spitzentemperaturen, die nur mit Ventilatoren auszuhalten sind – und dies an den gemäßigten Breiten Mitteleuropas. Was in meiner Jugend noch die Anfangssequenz von Coppolas "Apocalypse Now" war – ein Typ wacht  unter Deckenventilatoren auf, schon morgens ist es unerträglich schwül und so weiß er, dass er in Saigon ist  - das ist heute ein normaler Freitagmorgen im Mai in Wiesbaden. In Indien und Pakistan schon jetzt unerträgliche Hitzewellen, die eine völlig neue Stadtplanung und Arbeitsorganisation erfordern. 

Statt immer wieder erstaunt zu vermelden, dass seltsamerweise erneut Hitzerekorde gebrochen wurden, sollte man darüber reden, dass dies womöglich die kühlsten Jahre sind, die wir noch erleben. 

Als vor einigen Jahren Al Gores Film über den Klimawandel zu sehen war – "An Inconvenient Truth" – dachte ich, dass das mit der Erderwärmung länger dauern und besser bekämpft würde. Passiert ist aber, wir sehen es, viel zu wenig. Viele Städte sind noch in der kühlen Zeit entworfen und gestaltet worden. Öffentliche Brunnen sind selten. Die unbebauten Flächen sind versiegelt, um Parkraum zu schaffen und kein Schatten nirgends. Aber das sind dann nur moderierende Maßnahmen. Was zu tun ist, ist seit vielen Jahrzehnten bekannt. Aber die Klimafrage ist eine Machtfrage. Einige der unangenehmsten und einflussreichsten Regimes der Welt finanzieren sich durch den Verkauf fossiler Brennstoffe. Darum sind der Kampf um die offene Gesellschaft und jener für eine verantwortliche Klimapolitik Geschwister. Er wird die kommende Zeit prägen wie der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit die Jahrhunderte seit der industriellen Revolution. Parteien, die nicht ins Museum wollen, müssen sich dementsprechend orientieren. 

Ich kann es kaum ertragen, bis endlich wieder Freitag ist: Denn dann kommt die neue Folge der zweiten Staffel von "Teheran" – jener Serie, wegen der ich AppleTV abonniert habe. 

https://www.youtube.com/watch?v=db6XKAOqzMU (Öffnet in neuem Fenster)

Es ist eine hochspannende und komplexe Geschichte, die mich fasziniert wie zuletzt nur "Fauda" auf Netflix. In beiden Serien gibt es denselben, herzzerreißenden Grundgedanken: Wie nah sich die Menschen im Nahen Osten sind, wie sie leicht sie sich verstehen, sogar ineinander verwandeln können - und wie unerbittlich dieser Konflikt ausgetragen wird. In dieser Staffel  gibt Glenn Close eine in Teheran arbeitende Psychotherapeutin, die für den Mossad arbeitet und allein diese Figur - die in unvergleichlicher Perfidie ihre Patienten zugleich heilt und verrät–  lohnt es, diese Serie zu verfolgen. 

Mit dem ersten Satz beginnt der Zauber: 

Wenn ich  nicht  darüber schreibe, bleiben die Dinge unvollendet – dann wurden sie bloß erlebt. 

Eine Frau anfang Fünfzig liebt einen Studenten, dann trennen sie sich. Daraus könnte eine gute Autorin einen Gesellschaftsroman von etwa dreihundert Seiten schreiben. Einer besseren Autorin würde womöglich ein essayistisches Memoir von unter zweihundert Seiten vorlegen. Aber nur Annie Ernaux gelingt es, aus dieser Erfahrung ein Buch zu machen, das auf Seite 11 erst beginnt und auf Seite 38 schon wieder zu Ende ist. Das ist "Le Jeune Homme" – ihr neuestes Werk, mit dem Ernaux ganz Frankreich begeistert und verblüfft. Satz für Satz zielt sie auf  Tabus der französischen Gesellschaft – Klassengrenzen, Sexismus und der ganze Rest  –  und trifft jedes Mal. Wie eine professionelle Sniperin am Jahrmarktschießstand. 

Ich hoffe, sie gewinnt in diesem Jahr den Literaturnobelpreis.

Wenn es gerade noch erträglich heiß ist, verlegt sich das Leben nach draußen - auch die Küche. Ein gutes Sonntagshuhn lässt sich auch auf dem Grill zubereiten, ich fand dazu folgendes interessante Rezept: 

https://www.theguardian.com/food/2022/may/14/stuffed-chicken-legs-turkey-meatballs-courgette-fennel-bean-stew-genevieve-taylor-recipes-barbecued-poultry (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch

ihr

Nils Minkmar

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