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Die Höhe der Zeit

Trügerischer Sommer/Memo Parkland Hospital/Ben Rhodes Buch "After the Fall"/ Rezept für eine Eierspeise

In den legendären Cartoons des amerikanischen Zeichners Tex Avery schießen die Figuren schon mal über den Rand des Canyons hinaus. Der Kojote jagt den "Miep-Miep" -Roadrunner, hat aber nicht bemerkt, dass unter ihm längst kein Boden mehr ist, sondern nur Tiefe. Eine ganze Weile rennt er so, siegessicher, die Beute fest im Blick , während das Publikum schon den kommenden Sturz in den Abgrund ahnt und in Vor-und Schadenfreude lacht. 

Wenn man in diesen Tagen durchs Land fährt, fühlt man sich an eine solche Szene trügerischer Normalität erinnert: Die Pandemie scheint vergessen, eine Fußball-WM und die sie begleitenden, vertrauten Rituale mit Grillabenden und Public Viewing ist in Aussicht, das 9-Euro-Ticket sorgt für regionale Mobilität und mehr noch für Gesprächsstoff. Alles sieht so schön aus. Es feht nur, dass Angela Merkel wieder ewige Kanzlerin ist und mit der großen Koalition all unsere Sorgen zu den ihren macht.  Aber der Boden unter unseren geschäftigen Füßen, der ist nicht mehr zu sehen und zu spüren. 

Die Wirtschaft kann die billigen fossilen Energien aus Russland noch nicht kompensieren. Die Sicherheit Europas und die Zukunft der offenen Gesellschaft hängen an der starken politischen Stellung der US-Demokraten – aber wie lange wird sie andauern? Derzeit ist keine andere politische Macht in Sicht, die den Ausfall der USA, sollten sie ins Trump-Lager fallen, kompensieren könnte. Durch eine unbedachte, vorschnelle Erweiterung und die Einstimmigkeitsregel hat sich die EU selbst blockiert. Der berühmte deutsch-französische Motor gibt in den existentiellen Energie- und Sicherheitsfragen nur das verhaltene Summen eines Geräts im Standby-Modus von sich. Als ob wir ewig Zeit hätten, abzuwarten und zu erörtern. Aber Hilfe ist eine Frage des richtigen Tempos, einer zerstörten Ukraine nützt unser Gerät nichts mehr. 

Neulich fragte ich eine lesende, schreibende Freundin nach ihrem Befinden. Sie antwortet per sms:  "Ganz gut. Irgendwie hyper wach und konzentriert - ist ja wirklich crunch time jetzt." Zu deutsch: Es ist die Zeit, in der es auf uns ankommt. 

Das müsste nun das Thema einer Rede oder eines Videos sein: Was alle BürgerInnen tun können, um Energieverbrauch zu reduzieren, wie wir der Propaganda im Netz wirksam begegnen können und wie die Lasten dieser Situation, des kommenden Einbruchs fair verteilt werden. Zum Beispiel in dem, wie es der französische Ökonom Thomas Piketty vorschlägt, die allergrössten Vermögen eine Sonderabgabe zahlen. Viele Jahrzehnte wurde der oberste Club des obersten Prozent der Vermögenden immer reicher. Nun, nach dem Ende der alten Ordnung, sollten sie eine Art Lastenausgleichsabgabe zahlen, wie sie auch in der Bundesrepublik nach dem Krieg fällig wurde. 

Es gäbe einiges zu sagen, einzufordern und aufzuklären, um deutlich zu machen, dass dies kein Sommer wird wie alle anderen. Jetzt heißt es, auf der Höhe der historischen Zeit zu sein. 

Ich denke in diesem Zusammenhang oft an ein Memo, das der Direktor des Parkland Memorial Hospital an die Belegschaft verschickt hat, nachdem dort Präsident Kennedy verstarb. Dieser Mann beschreibt sehr gut, wie man plötzlich im Zentrum historischer Geschehnisse stehen kann und worauf es dann ankommt. Ich mag den letzten Satz, sinngemäß: Als es auf uns ankam, haben wir nicht enttäuscht. 

So einen Ton – weder familiär-verniedlichend noch jargonbelastet – würde ich mir von den Regierenden gerade wünschen. 

(Quelle:lettersofnote.com)

Es ist immer wieder bewundernswert, wie es gute amerikanische Sachbücher schaffen, sowohl zu unterhalten, als auch die Welt zu deuten. Ich habe mir das neue Buch von Ben Rhodes, einem ehemaligen Redenschreiber von Barack Obama, vor einigen Tagen in Papierform gekauft und lese es seitdem pausenlos. Rhodes sucht in "After the Fall"  die tieferen Ursachen für die Schwäche der offenen Gesellschaft, beschreibt die politische Lage in Ungarn, Russland und anderen Ländern mit souveräner Urteilskraft. Gute Laune macht einem diese Krisenbeschreibung nicht, aber sie identifiziert immerhin drei wesentliche Probleme, ohne deren Lösung die liberale Demokratie keine Zukunft hat: Die extreme Ungleichheit muss reguliert werden; Gesetze müssen auch für Superreiche und im digitalen Raum gelten; Bildung und Gesundheitsversorgung dürfen nicht den reichen Menschen vorbehalten sein. Es gibt auch amüsante Passagen: Einmal, auf einem Gedenkgipfel in der Normandie,  kapiert er nicht, dass die WC-Tür nicht bloß klemmt, sondern echt verschlossen ist, weil besetzt. Er rüttelt, flucht und drängelt, bis sich die Tür öffnet und die Queen aus dem Örtchen tritt – den amerikanischen Flegel mit Blicken in ein Verlies des Towers wünschend. 

https://nero39.buchhandlung.de/shop/article/44485497/ben_rhodes_after_the_fall.html (Öffnet in neuem Fenster)

Chantal Colleu-Dumond ist eine hervorragende Repräsentantin der französischen Kultur. In Berlin, wo sie vor langer Zeit als Kulturbeauftragte der französischen Botschaft amtierte, versammelte sie illustre Runden um zu besprechen, wie man der französischen Literatur in Deutschland zu neuer Blüte verhelfen kann. Seitdem – war es ihr Werk? – hat sich unendlich viel getan, französische Bücher prägen auch das deutsche literarische Leben. 

Heute hat sie eine andere spannende Aufgabe, sie leitet die Domäne von Chaumont an der Loire, in der ein internationales  Gartenfestival stattfindet. Zum Kochen kommt sie eher nicht, aber dieses Rezept überzeugt durch die Eleganz schlichter Speisen und schnell geht es auch noch. Es gibt einfach Tage, die nach einem abendlichen Omelette verlangen.

https://www.lemonde.fr/le-monde-passe-a-table/article/2022/05/26/l-omelette-aux-herbes-la-recette-de-chantal-colleu-dumond_6127779_6082232.html (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch, 

ihr 

Nils Minkmar

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