Die Tiefe des Raums
Das große Misstrauen/ Sylvain Tesson/ Marseille 1940/ Klassiker
Selten zweifle ich so an der Überlebensfähigkeit der Menschheit wie beim Einstieg in einen ICE. Alle sehen auf den Boden des Bahnsteigs, trippeln zu den Türen, betreten die Waggons, um ihren Platz zu suchen – finden aber stattdessen ein anderes Menschenkind, das ebenso auf der Suche ist. Nur eben in die andere Richtung. Diese Gänge sind recht schmal. Während immer neue Passagiere zusteigen, ereignet sich mitten im Flur das Drama der ersten Begegnung, wie von Cristobal Columbus und den first nations. Großes Staunen. Ist der Andere Freund oder Feind? Handelt es sich, wie es die Schamanen der Karibikvölker 1492 vermuteten, um blasse Wiedergänger aus dem Reich der Toten?
Man bleibt voreinander stehen und - das ist das Verblüffende – schweigt sich an, grunzt oder seufzt allenfalls genervt. Das kann mehrere Minuten dauern. Solch eine Lage löst man am besten kommunikativ, wir wissen es seit der Grundschule, aber im Großraumwagen ist diese Erkenntnis vergessen. Menschen, die bald danach eloquent telefonieren und ihren Gesprächspartnern die Welt erklären, verfallen in eine tiefe Verdruckstheit und versuchen, zu drängeln und zu schieben.
Hinter den zaudernden Reisenden stehen weitere und warten, meist stumm, bis irgendjemand irgendwas macht. Die Lösung ist einfach und alternativlos: eine Gruppe muss kurz zur Seite, vor einen Sitz huschen, dann rauscht die andere durch und nun ist der Weg zur anderen Seite frei. Es klappt, wenn jemand es ausspricht: Könnt ihr kurz zur Seite stehen? Dann lösen wir den Stau auf. Aber niemand möchte diese Rolle spielen, als wäre es eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten der anderen.
Nun rächt sich, dass wir so viel mit Bildschirmen machen, denn dort gibt es nur vorne und links oder rechts. In der digitalen Welt kommt nichts aus der Tiefe des Raums, zu der unser Rücken zeigt. Darum ist das Gespür für Rücksicht oft unterentwickelt.
Unsere Kultur hat mit der Trennung zwischen privat und öffentlich argen Schindluder getrieben. In der Bahn wird verdrängt, dass es sich um einen öffentlichen Raum handelt. Überall ist nun Homeoffice oder eben die heimische Couch. Man schaut gemütlich die Lieblingsserien, chattet oder telefoniert mit den Lieben daheim. Der Großraumwagen ist aber bloß simulierte Privatsphäre. Die alten Regeln, wie man sich in der Öffentlichkeit so benimmt, sind verwittert. Damals verbrachte man Stunden zusammen in der Bahn, ohne Filme, Musik oder Telefon. Man musste sich unterhalten.
Einer der ältesten deutschen Bestseller ist das Rollwagenbüchlein des Colmarer Autors Georg Wickram. Die erste Ausgabe erschien 1555. Dort waren kurze Texte oder Witze versammelt, die man sich auf den elend langen Fahrten in der Kutsche erzählen konnte, um sich die Zeit zu vertreiben. An eine Geschichte erinnere ich mich vage. Kurzfassung: Ein angesehener Handwerker stirbt. Sein Sohn war schon länger fortgezogen. Wurde in einer anderen Stadt zum Künstler. Zur Beerdigung kehrt er zurück, allerdings von Kopf bis Fuß in leuchtendes Gelb gekleidet. Die anderen Trauergäste sprechen ihn darauf an: Warum trägt er kein Schwarz? Der Sohn daraufhin: Meine Gefühle haben nichts mit der Farbe meiner Kleidung zu tun. Man kann sich vorstellen, dass so eine Kurzgeschichte zu langen Diskussionen anregt. Heute werden Blicke und Wortwechsel vermieden.
Unlängst war meine Frau mit der Bahn unterwegs, wollte sich einen Café holen. Da bat sie das ältere Ehepaar, das ihr gegenüber saß, auf ihre Tasche aufzupassen. Beide sahen sich an und verneinten von Herzen. Kommt nicht in Frage. Sie wirkten zufrieden, als hätten sie eine international operierende Trickdiebin größten Kalibers durchschaut.
Das Misstrauen ist groß geworden.
Die Verfilmung des Reisebuchs Sur les Chemins Noir von Sylvain Tesson ist ein Beispiel dafür, wie ein hohes Budget und die Absicht, viel Geld zu machen, ein Werk ruinieren können.
Das Buch schildert eine lange Tour, die Tesson zu Fuß durch Frankreich unternommen hat. Dabei nutze er die elementarsten noch verzeichneten Wege auf den amtlichen Landkarten: jene, die in Schwarz gezeichnet sind. Er hatte einen schweren Unfall überlebt und sieht noch arg zerknautscht aus. Auf diesen Wegen begegnet er nur wenigen Seelen und muss keine dummen Fragen beantworten. Im Film wird daraus ein dekorativer roter Streifen im markanten Gesicht von Jean Dujardin, dem erfolgreichsten französischen Schauspieler. Im Buch von Tesson steht die Beschreibung der Landschaft und des Gehens selbst im Fokus – im Film leider das Gesicht von Dujardin und pompöse Passagen über das Wesen der Zeit, die man im Buch einfach überblättert. Tesson selbst hatte neulich Stress, weil er Schirmherr einer Veranstaltung namens Le Printemps des Poetes werden sollte. Dann haben aber zig Poetinnen und Poeten dagegen protestiert, ihm eine rechte, ja direkt faschistische Gesinnung vorgeworfen. Die wesentlichen Merkmale dieser Ideologie - Führerprinzip, Freund-Feind-Denken, Gewaltverherrlichung, Rassedenken und Antisemitismus – habe ich bei ihm noch nicht entdeckt. Er ist ein postmoderner Katholik. Aber solche Sachen schaukeln sich schnell hoch in Frankreich. Jedenfalls.Besser das Buch lesen als den Film schauen. (Öffnet in neuem Fenster)
https://www.youtube.com/watch?v=oTjA4Ru3b0A (Öffnet in neuem Fenster)Als unkorrigiertes Leseexemplar liegt es schon eine Weile bei mir, aber ich wollte in die Nähe der Sperrfrist am 15. Februar kommen, um darauf hinzuweisen:
Uwe Wittstock rekonstruiert die Abenteuer von Hannah Arendt, Varian Fry, Anna Seghers, Heinrich Mann und vielen anderen im Stil einer erzählenden Chronik. Es liest sich wie ein spannender Roman, dessen Protagonisten Figuren der Geistesgeschichte sind. Man kann bei der Lektüre nicht umhin, an heutige Gefahren der Demokratie zu denken. Und daran, wie schnell und widerruflich alles kippen kann, wenn die Nazis einmal einen Fuß in die Tür bekommen. Marseille war damals und ist auch heute noch eine politische Stadt, die Mittelmeer-Metropole an der französischen Küste. Lieblingsstadt von Emmanuel Macron. Das Buch sollte auch den Bundeskanzler inspirieren: Ein gemeinsamer Besuch mit Macron in Marseille, der Partnerstadt Hamburgs, wäre ein ideales Signal in diesen Zeiten.
Der Februar ist ein Monat zum Luft holen und der Vorfreude. In der Küche fährt man am besten mit Klassikern.
Hier entlang:
https://www.instagram.com/p/C1rCiotI_ZK/ (Öffnet in neuem Fenster)Weiterer Klassiker vom großen Klink, der auch ein neues Buch veröffentlicht:
https://www.wielandshoehe.de/recipes/huhn-im-topf/ (Öffnet in neuem Fenster)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
PS: Wenn Sie den siebten Tag gerne lesen, können Sie hier eine Mitgliedschaft erwerben und meine Arbeit daran unterstützen: