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Die große Freude

Was uns eint/Die deutsch-französische Krise/ Teresa Bückers neues Buch

Gehen und gehen und gehen. Gehen durch die Universitäten der amerikanischen Ostküste, durch Paris, Rom, London und bis Tel Aviv und weiter nach Tokyo. Ohne das zivile, maximal undramatische Frankfurter Gallus-Viertel zu verlassen. Das sind die schönen Stunden auf der Buchmesse, wo sich an den Seiten sehr langer Gänge die Bücher der Welt zeigen. Gehen, ohne mit jemandem zu reden und doch zu verstehen: Obwohl es überall anders ist, gleichen sich die Themen. Man erkennt sie am Cover, auch wenn man die Schriftzeichen nicht entziffern kann: die gerechte Ordnung, das schöne Leben in Heim und Garten, spannende Krimis und die Liebe. Sich ohne Aufwand etwas Gutes kochen; verwegen reisen und sei es per Buch; besser schlafen, denken und mit einfachen Tricks viel Geld verdienen.

Und überall Kinderbücher: Die Namen der Tiere, die ersten Buchstaben und Zeichen, die erste Geschichte. Ich sagen, du sagen, die Welt benennen, Lesen lernen. Solche Bücher gibt es überall, von China bis Amerika. Weltweit geht die Armut zurück, wächst die Zahl derer, die die Möglichkeit bekommen,  ihren Kindern etwas zeigen und beizubringen, sich an ihnen zu erfreuen. 

Vierzehntausend Schritte durch die Welt in drei Frankfurter Messehallen und am Ende diese schlichte Erkenntnis: Bei all dem, was uns trennt, gibt es noch mehr, das uns verbindet. 

Es wurde auf der Buchmesse viel über die miserablen deutsch-französischen Beziehungen geredet. Ich musste an einen französischen Freund aus Studientagen denken. Er ist heute Professor an einer frankophonen Uni. Neulich schickte er mir eine Nachricht um bat um eine Verabredung, um mal länger zu telefonieren. Ich antwortete, dass es sich hoffentlich um nichts Schlimmes handele, er bedankte sich und beruhigte mich. Das ging noch einige Male per SMS hin und her, bis der Telefontermin stand. Er bedankte sich für meine Zeit und ich versicherte ihm, wie schön es sei, mit ihm zu sprechen. Er fragte nach meinen Kindern und dann nach meiner Frau. Ich gab ausführlich Auskunft und fragte meinerseits nach dem Befinden seiner Töchter, seiner Frau und seines betagten Vaters. Dann schilderte er mir seine Lage an der Arbeit und wir näherten uns, unter vielen Beteuerungen der Wertschätzung und Rückfragen nach der Einschätzung des anderen, dem Thema des Gesprächs. Er wollte einen Forschungsantrag bei einer deutschen Institution einreichen und also fragen, ob er mir den dreißigseitigen Antrag  per Mail schicken dürfe. Ich bejahte emphatisch, es ist wirklich ein schönes Thema. Er wollte, um es deutlich zu schreiben, weiter nichts – nur, dass ich es einmal lese. Zum Schluss des Telefonats versicherte mir mein Freund, dass er nie in Deutschland etwas beantragen würde, ohne dass ich davon weiß, denn am Ende erfahre ich das über Umwege und dann sei ich womöglich verärgert. 

Wir verabredeten uns herzlich auf ein baldiges Wiedersehen, bestellten Grüße an den Rest der Familie und wünschten uns eine belle journée. Wenige Tage später folgte wie angekündigt der Antrag zu meiner Kenntnisnahme, versehen mit einem ausführlichen Begleitschreiben und warmen Worten des Dankes für das schöne Gespräch. So geht Kommunikation in Frankreich. 

Nun Textaufgabe: Wäre mein Freund der französische Präsident und ich der deutsche Bundeskanzler – wie gehe ich vor, wenn ich in Prag eine Rede zur Zukunft Europas halten möchte? Oder wenn ich 200 Milliarden in unserer gemeinsamen Währung auf den Tisch legen werde, um die Krise zu mildern? Kurz: Wie auch immer man es angeht zwischen Berlin und Paris, was nicht geht, ist nicht oder nur einsilbig  zu kommunizieren. Nach dem Motto Élysée hat doch W-LAN, da sehen sie doch, was der Kanzler macht. 

Norddeutsch by nature schön und gut, aber die Welt kann gerade keine Missstimmung zwischen Scholz und Macron gebrauchen.  

Wer kleine Kinder hat und arbeitet, kennt dieses rätselhafte Zeitloch am Nachmittag. Plötzlich muss man los, um die Kinder von der Betreuung abzuholen, aber für alle anderen ist es mitten am Arbeitstag und man muss wortreich erklären, warum man so früh losmuss. Kommt man dann am Kindergarten oder der Grundschule an, ist man froh, wenn das eigene Kind nicht als Letztes wartet, denn dort ist man wie durch ein Wunder stets zu spät. Aber muss das eigentlich so sein? Um die politische Dimension der gesellschaftlichen Zeitverteilung geht es in dem Buch von Teresa Bücker. 

Die Ordnung der Zeit ist weder unvermeidlich noch natürlich, sondern politisch gewollt. Teresa Bücker greift sich diesen Faden, wickelt daran die Art, wie wir Leben und Arbeiten auf und macht daraus einen modernen utopischen Text. Wem nutzt es eigentlich, das Leben, die Liebe und auch die Demokratie dem Ideal des Achtstundentages unterzuordnen und Arbeit immer nur als Erwerbsarbeit zu begreifen? Man geht Kapitel für Kapitel mit und wundert sich, wie viel von den Schäden und Lasten einer nur auf Erwerbsarbeit orientierten Gesellschaft beharrlich verdrängt werden. Endlich ein Buch nach dem Motto: Alles könnte anders sein. 

Es tut einem in der Seele weh, die britische Innenpolitik zu verfolgen und unweigerlich fragt man sich, wie es in einem kulturell und intellektuell so gut aufgestellten Land so weit kommen konnte. Aber zum Glück gibt es nicht nur Liz Truss und Boris, sondern eben auch Nigel Slater auf der Insel. Niemand kocht so tröstlich wie er: 

https://www.theguardian.com/food/2022/oct/09/nigel-slater-recipes-chicken-with-olives-lemon-chicken-with-mushrooms-soured-cream (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch, 

ihr

Nils Minkmar

PS: Dank vielen Zuspruchs und herzlicher Empfehlungen findet mein Roman "Montaignes Katze" seine Leserinnen und Leser. Die dritte Auflage wird vorbereitet, Gespräche wegen Übersetzungen sind im Gange. Danke. 

PPS: Der "siebte Tag" hatte letzte Woche Zustellprobleme, die aber nun hoffentlich gelöst sind. Für viele gehört er zum Sonntag dazu und es werden immer mehr. Unterstützen kann man ihn übrigens hier: 

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