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Süße Stunden der Anarchie

Chemtrails flüstern: Mach dein Kreuz.

Heute ist ein besonderer Tag.  In unserem nach Planung und Ordnung süchtigen Land hängt, noch für einige Stunden, womöglich viel länger, alles in der Schwebe. Konzerne, Anstalten, Schulen und Hochschulen – alle haben ihre Grundsatz-und Planungsstäbe, fertigen und lieben strategische Zukunftsszenarien. Ganze Branchen leben von der Vorhersage der Börsenkurse, des Wetters und der Sportergebnisse. Es ist einfach so ein immenses, unbezwingbares Bedürfnis: Zu wissen, was wir doch nicht wissen können.

An wichtigen Tagen wie heute ist  die Spannung zwischen wissen wollen und nicht wissen können besonders groß. Ehrlich – selbst die Profis haben keinen Schimmer, wie heute Abend die Ergebnisse aussehen. Natürlich bilden die Umfragen einen deutlichen Trend ab – aber gerade der kann dafür sorgen, dass es anders kommt. Ich kann mich an so viele Wahlabende erinnern, wo man das Ergebnis spontan für einen großen Fehler halten wollte. Besser, man genießt diese Stunden in der Schwebe.

Es ist ein Tag der Anarchie in einer Gegenwart, die alles regeln möchte. Um zu wählen, diese Macht auszuüben, muss man kein Diplom abgelegt haben, nicht berufen werden und weder schön noch schlau sein. Eine lange, komplizierte und blutige Geschichte hat diese große Power heute in unsere Hände gelegt. Es gibt sie und sie wirkt wirklich. Es ist das Wunder im Wahllokal: Die Kulisse - Neonröhren, Linoleumboden ­- meist so prosaisch, der Akt eigentlich unfassbar.

Am 19. September starb Andrée Jonquoy. Sie wurde hundert Jahre alt. Unter diesem Namen ist sie allerdings gänzlich unbekannt.

Die Dame aus einer nordfranzösischen Arbeiterfamilie arbeitete in den sechziger Jahren als Sekretärin bei dem Lebensmittelkonzern Unilever. Dort hatte man Rezepte veröffentlicht, um die hauseigene Margarine und den Schnellkochtopf bekannt zu machen. Da sich eine persönliche Ansprache dabei immer gut macht, wurde eine Kunstfigur aus den beliebtesten Vornamen des Jahres erschaffen – Françoise Bernard. Die hatte aber so viel Erfolg, dass auch Radio und Fernsehen nach der Dame verlangten, die doch nur ein Produkt der Unilever-PR-Abteilung war. Also beraumte die Firma ein Casting an, bei dem Madame Jonquoy sich durchsetzte. Sie verkörperte fortan Francoise Bernard in Fernsehsendungen und kochte dort auch wirklich, nächtelang musste sie üben.

Ihr Kochbuch „Les Recettes Façiles“ wurde ein Millionenerfolg, steht in fast jeder französischen Küche. Es ist keine Hymne auf das Kochen als Selbstverwirklichung, sondern eher ein Handbuch für den Nahkampf zwischen Alltag und Kinderschar. Kochen soll nicht viel kosten, schnell gehen und noch Luft zum atmen lassen. Es ist ein Feminismus der Praxis, mit vielen Tricks und versteckten Bosheiten, sehr empfehlenswert. Wir hatten es zu Hause, vor einiger Zeit habe ich es mir dann wieder antiquarisch bestellt – und bemerkt, dass ich so banale Dinge wie ein Omelett viele Jahre völlig falsch zubereitet habe. 

(Alles, was ins Omelett gehört -etwa Zwiebeln oder Tomaten oder was auch immer - muss mit dem Ei verrührt werden, bevor irgendetwas in die Pfanne kommt. Auch das  Öl wird erst in der Pfanne erhitzt, dann  in die Eimasse gerührt und dann erst kommt alles zusammen in die Pfanne. Die Pfanne muss wirklich  heiß, aber völlig leer sein. Während des Garens dann mit einer Gabel rühren. Dann klappt es. Merci, Françoise)

Nach einigen Jahren kaufte sich Andrée Jonquoy den Namen von Unilever und wurde wirklich Françoise Bernard. Wieder ein Beispiel für den Satz des großen Michel de Montaigne: Ich habe mein Buch gemacht, aber noch mehr hat es mich gemacht.

Die Lektüreempfehlung heute ist noch  ein Klassiker: Es ist erschütternd, wie vergessen das italienische Kino und ein Meister wie Federico Fellini sind. Kurz nach meinem Abitur kaufte ich mir einen kleinen Band von ihm, Aufsätze und Notizen.

Ich hatte es immer dabei, dann aber verliehen und so an die weite Welt verloren. Nun habe ich es wieder bestellt und  staune, was ich noch wusste, was ich vergessen habe und was für eine wertvolle Schule des Denkens und des Lebens es doch ist: "Gut nachdenken kann ich nur, wenn ich eilig, völlig durcheinander, von lauter Schwierigkeiten bedrängt,Fragen zu regeln, Probleme zu lösen, wilde Bestien zu zähmen gezwungen bin."

Kopf hoch, 

ihr

Nils Minkmar

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