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Renaissance

Sekten/Nachtsitzungen/Succession/Eine deutsche Partei/Ottolenghi

Für ein Buchprojekt habe ich mich mit einer alten Geschichte beschäftigt: Anfang dieses Jahrtausends geriet eine angesehene adlige Familie aus Bordeaux in die Fänge eines Gurus. Es handelte sich um einen unscheinbaren jungen Mann, der ihnen erst zu helfen vorgab, aber innerhalb von zwei Jahren große seelische Macht über sie erlangen konnte. Er redete ihnen ein, zu einer auserwählten Gruppe zu gehören, stellte ihnen große Reichtümer in Aussicht und versetzte sie in Angst und Schrecken: Die Freimaurer seien hinter ihnen her, ihr Leben sei bedroht. Nur er, der in Wahrheit mit gewaltigen Mächten im Bunde sei, könne sie retten. 

Man lacht, wenn man das heute liest, aber die große Familie löste ihren gesamten Besitz auf und überwies alles ihrem Bienfaiteur, dem Wohltäter. Die Leute verschwanden von der Bildfläche, ließen sich scheiden und ertrugen ein Leben in Armut und Abhängigkeit. Und das alles völlig freiwillig. 

An diese Familie musste ich denken, als ich die Reaktionen der Republikaner auf die Anklage gegen Donald Trump las. Ausgerechnet der Obmann des Rechtsausschusses im Kongress twitterte ein heroisches Video von Trump und befand, der sei doch immer für uns dagewesen. Teile der Partei sind bereit,  den Rechtsstaat aufzugeben, um Trump beizustehen. Wie der kleine Guru aus Bordeaux macht Donald drei Dinge: Erklärt seine Anhänger zu ganz besonderen Menschen, verspricht ihnen eine goldene Zukunft und versetzt sie in Angst und Schrecken. Zugleich fungiert er als ihr mächtiges Medium: Was immer wirklich los in der Welt, das erfahren sie durch ihn, alle anderen lügen. 

So agieren Sekten. Als ich klein war, gab es viele Berichte und Debatten über diese Phänomene. Die Anhänger von Osho betrieben Restaurants und Clubs, gut zu erkennen an ihren roten Gewändern.In Indien wird man heute noch darauf angesprochen, warum gerade die Deutschen auf diese Flitzpiepe hereinfallen konnten. Dann gab es die Moonies, die Scientologen und alle möglichen anderen Vereine, aber irgendwann verschwand das Thema. 

Aber nicht das Problem. Warum folgte das vereinigte Königreich einem völlig selbstzerstörerischen Pfad aus der Europäischen Union? Warum sind die Anhänger eines Jean-Luc Mélenchon davon überzeugt, in einer neoliberalen Hölle zu schmoren? 

Es ist ein noch unerforschtes Phänomen unserer Mediengesellschaft: Seit dem Aufkommen des World Wide Webs und später der sozialen Medien stehen jeder und jedem Wissen und Informationen in nie dagewesenem Ausmaß zur Verfügung, jederzeit und gratis. Aber irgendwas am digitalen Kapitalismus fördert die Entstehung großer politischer Sekten und dagegen sollten wir uns schnell etwas einfallen lassen.

Dass es in der Ampelkoalition immerwährenden Streit gibt, liegt in der Konstellation selbst begründet. Sie ist eben etwas Neues, da ist nichts anderes zu erwarten als stop and go. In jeder Koalition träumen ihre AkteurInnen von einer besseren: In der großen von schwarzgelb oder rotgrün, hier vielleicht von Jamaika oder schwarzgrün. Manche mögen sehnsüchtig nach Saarbrücken schauen, wo Ulrich Commerçon und Anke Rehlinger die einzige Alleinregierung der Republik hinbekommen haben. 

Was mich hingegen frustriert hat, ist die Wiederkehr der politischen Nachtsitzung: Am Ende des vorigen Wochenendes wurde "durch verhandelt". Politik lebt auch von Stilfragen. Nach einer durchwachten Nacht ist man in einem ähnlichen Zustand wie nach zuviel Alkohol. 

https://studyfinds.org/sleeping-six-to-seven-hours-best-for-heart-health/ (Öffnet in neuem Fenster)

Die heroische Pose – Mann braucht keinen Schlaf, keine Pause, kein Essen - gehört einer überkommenen Zeit an, als die Männer lange vor Erreichen der Rente einfach tot umfielen.  Mit Entsetzen erinnere ich mich an den Wahlkampf 2013, als der SPD-Kandidat Peer Steinbrück, den ich damals für ein Buch begleitete, in seinem Tagesplan nicht die geringste Lücke für Ruhepausen, vernünftiges Essen oder zum Nachdenken hatte. Seine berüchtigten Sprüche oder Pannen – es waren gemessen an den Umständen überraschend wenige und sein Wahlergebnis ist seitdem unübertroffen – lassen sich auf diese schlechten Bedingungen zurückführen.  Es ist also kein Wunder, wenn Parteien über den Mangel an Nachwuchs klagen. Aber es signalisiert auch Ignoranz gegenüber der Forschung und gibt ein schlechtes Vorbild ab. Es gehört in die gleiche Abteilung wie krank ins Büro kommen, Mahlzeiten durch Schokoriegel und Cola zu ersetzen oder extralange Meetings – hat man früher so gemacht, heute nicht mehr. Die Ampel muss ihren Stil und ihre Geschichte erst noch finden. 

Man verliert den Überblick mit all den Abos und Apps, aber ich habe glatt wieder eines abgeschlossen, um bei Wow oder Sky die vierte und finale Staffel der HBO-Serie Succession ansehen zu können. In dieser lose an die Geschichte des australischen Medienunternehmers Rupert Murdoch angelehnten Saga findet sich eine Menge an satirischer Gegenwartsanalyse. Gäbe es eine zurechnungsfähige Linke in Europa, würde sie die Folgen im public viewing zeigen und dann den klugen französischen Umverteilungsökonomen Thomas Piketty dazu einladen. Ziemlich witzig ist Succession allerdings auch. 

https://youtu.be/t3D3ewle7XY (Öffnet in neuem Fenster)

Die Kinoausstrahlung im vorigen Sommer habe ich verpasst, aber nun ist Simon Brückners wichtiger Dokumentarfilm über die AfD in der 3Sat-Mediathek zu sehen. Es ist ein atemberaubendes Dokument und absolut sehenswert. Brückner durfte an  allen möglichen internen Besprechungen, Konferenzen aber auch an Parteitagen filmen. Einmal geht es um den Vorschlag, jedes Klassenzimmer mit einer Deutschlandfahne und einem Exemplar des Grundgesetzes auszustatten. Doch sofort gibt es parteiintern Widerspruch: Da stehe doch gleich dieser Artikel 1, der mit der Menschenwürde. Der werde der AfD doch immer um die Ohren gehauen, wäre also ein Eigentor. Würde außerdem all jene in der Partei frustrieren, die noch auf die richtige Verfassung hoffen. 

https://www.3sat.de/film/dokumentarfilm/eine-deutsche-partei-100.html (Öffnet in neuem Fenster)

Kurz bevor der Frühling loslegt, wird es noch mal ordentlich nass und kalt. Man darf den Winterrezepten noch eine letzte Chance geben - und wie immer be Ottolenghi – einfach der interessanteste Koch für Amateure wie mich, finde ich - sind auch hier die Beilagen der Star. 

https://www.theguardian.com/food/2023/mar/11/yotam-ottolenghi-recipe-oregano-stuffed-porchetta-lemony-potato-rainbow-chard-apple-kohlrabi-salad-horseradish (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch, 

ihr

Nils Minkmar

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