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Die  Zeit der Welt

Stunde vor oder nach?/Zwanzig Jahre Irakkrieg/Valentin Groebner/Alexandre Marchon

Letzte Woche besuchte ich wieder mal die Völklinger Hütte (Öffnet in neuem Fenster), ein Unesco-Weltkulturerbe-Denkmal. Ich bin gerne an Orten, an denen etwas begann. In der Agora von Athen erfand und praktizierte Sokrates den modernen Widerspruchsgeist, im Palais-Royal von Paris entstand die bürgerliche Öffentlichkeit und in Völklingen und an anderen solchen Standorten entwickelte sich die Industriegesellschaft. All die Themen, die uns jeden Tag in den Nachrichten und auch sonst heimsuchen, lassen sich hier hin zurückführen: der Beginn der Nutzung fossiler Energie im industriellen Maßstab, die Globalisierung, der Kapitalismus und der Protest dagegen, der Krieg und seine Folgen für die Menschen. Sogar so etwas intimes wie unser Verständnis von Zeit. Ab hier teilte sie sich in bezahlte männliche Lohnarbeit und billige weibliche Hausarbeit. Im Wortsinn heißt Industrialisierung die Verfleißigung: Wo das agrarische und vormoderne Leben noch Pausen und Stillstand durch den Lauf der natürlichen Dinge, etwa der Jahreszeiten, kannte, regierte im Zeitalter von Kohle und Stahl die Uhr. Sie kolonisierte das ganze Leben, aber nach den Kämpfen der Arbeiterbewegung für das Recht auf Faulheit half sie auch, Grenzen zu setzen. Feierabend und Wochenenden konnten kommen. Noch in meiner Kindheit waren die Erwachsenen stolz darauf, für Anliegen der Chefs nicht erreichbar zu sein. Wer nicht gerade bei der Feuerwehr war oder als Krankenschwester arbeitete, tippte mit dem Zeigefinger an die Schläfe, wenn es darum ging, in der eigenen Zeit für andere zu arbeiten. 

Heute verschwimmen diese Grenzen. Es wäre lächerlich, auf eine Mail nicht mehr zu antworten, weil sie um 17.01 kommt. Andererseits wäre das, womit ich so mein Geld verdiene, in den Augen der Männer und Frauen der Industriezeit bestenfalls ein niedliches Hobby. Und eine einzige körperliche Schonung. 

Aber wir leben noch immer in den Ruinen der alten Arbeitsgesellschaft. Wenn jemand damit prahlt, viele Stunden zu arbeiten oder gar krank zur Arbeit erscheinen zu müssen, wird er nicht etwa ausgelacht, sondern gilt als echter Mann der Tat.  In vielen Redaktionen gibt es noch so einen Kult des Malochers, der gar nicht mehr in die Zeit passt. In meiner wie in vielen anderen Branchen ist es unsinnig, nach Stunden zu denken und zu bezahlen. Wenn man keine gute Idee hat, nutzt es wenig, die zehn Stunden lang nicht zu haben. Umgekehrt kann sich die Lösung einer Aufgabe schnell einstellen, aber man muss entsprechend der überkommenen Angestelltenkultur dann noch stundenlang Zeit absitzen. Und wieviele Leute habe ich erlebt, die den zähen Bürotag damit herum bringen, im Netz zu spielen oder einzukaufen, bis sie sich endlich trauen, dem Chef guten Abend zu sagen und möglichst noch das Licht brennen oder eine alte Jacke über dem Bürostuhl hängen lassen. Privat und politisch sind wir so viel weiter als zu den Hochzeiten der Völklinger Hütte, aber die Arbeitswelt ist von ihrem Rhytmus, den Hierarchien und in der Wachstumsfixierung noch sehr von diesem Geist geprägt. 

An diesem Sonntag steht die Uhr wieder im Zentrum vieler Fragen: Kann ich länger schlafen oder kürzer? Bekomme ich eine Stunde mehr oder weniger? Es ist ein Lieblings-Aufregerthema. Schon Michel de Montaigne amüsierte sich darüber, wie sich die Zeitgenossen bei der Umstellung auf den gregorianischen Kalender anstellten: Bauern klagten, dass die Kühe wegen der Kalenderreform keine Milch mehr geben. 

In Wahrheit wird die Zeit nicht mehr oder weniger, es sind bloß Zeiger und Zahlen. Von Geburt an hat man in jedem Moment alle Zeit der Welt. 

Es ist ein schwieriger Jahrestag: Vor zwanzig Jahren begann der Bush-Blair Golfkrieg und veränderte die Welt bis heute. Amerikaner und Briten verrieten ihre Werte, machten sich schuldig, bis dato ohne strafrechtlichen Konsequenzen. Bekanntlich machten Paris und Berlin nicht mit, aber wenn seitdem von den universalistischen Werten des freien Westens die Rede ist, erntet man in vielen Ecken der Welt höhnisches Gelächter. Ich bin schon lange der Meinung, dass eine juristische Aufarbeitung der Verantwortlichkeiten unumgänglich ist. Der internationale Strafgerichtshof kann sich nicht immer nur um die Gauner an der Spitze kleiner Staaten kümmern. Einen guten Text zu dieser Thematik, vor allem zur Rolle der Medien und der Sprache,  habe ich im Guardian gefunden. Sein Autor, Armando Ianucci,  ist ein  Genie unserer Zeit und der Kopf hinter The Thick of it (Öffnet in neuem Fenster) und Veep (Öffnet in neuem Fenster).

https://www.theguardian.com/commentisfree/2023/mar/18/thick-of-it-iraq-war-anger-truth-tony-blair-power (Öffnet in neuem Fenster)

Bald geht das Gefluche los: Ich werde Schränke, Schubladen und Regale aufräumen im Versuch, im Frühjahrsputz eine frische Ordnung zu schaffen und darüber fluchen, wie viel Zeug sich wieder angesammelt hat. Im ersten Schwung werde ich alles wegwerfen wollen, im zweiten doch viel entdecken und  besser ausstellen. Eigentlich bin ich schnell davon zu überzeugen, dass weniger mehr ist - aber doch bitte nicht, was mein Depot an Notizbüchern und Stiften betrifft. 

Warum haben wir so viele Sachen und wozu eigentlich? Was hat es mit den privaten Altaren auf sich, die wir in fast jeder Wohnung finden und in denen Fotos und Bücher ausgestellt werden? Viele bewundern japanische Leere und seufzen sehnsüchtig vor den Fotos von minimalistisch leeren Wohnungen, leben selbst aber ganz anders. In diesem schönen Buch meines Freundes Valentin Groebner (Öffnet in neuem Fenster) finden sich mehrere kurze und kluge Essays dazu- es ist übrigens auch als Objekt sehr schön, kompakt und mobil. 

Heute wieder mal ein Rezept von einem Quereinsteiger in die französische Gastronomie: Alexandre Marchon war lange in der Werbung, bevor er sein erfolgreiches Bistro in Paris eröffnete. In der Woche stehen bei ihm regionale Gemüserezepte auf der Karte, aber der Sonntag ist anders: Sonntag ist für ihn ein poulet rôti. Hier bereitet er es auf einem Bett aus Heu zu, sehr interessant:

https://www.nouvelobs.com/o/20230318.OBS71009/le-poulet-roti-au-foin-du-chef-alexandre-marchon-et-nouveau-candidat-de-top-chef.html (Öffnet in neuem Fenster)

In eigener Sache: Seit bald zwei Jahren schreibe ich diesen Newsletter und es ist die reine Freude. Mittlerweile gehört er bei vielen Menschen zum Sonntag dazu und das soll auch so bleiben.  Dazu muss er aber finanziell besser ausgestattet werden.

Ich möchte keine Werbung  auf der Seite und auch nicht unter eine Medienmarke schlüpfen. Allerdings ist mir die Arbeit daran so wichtig, nimmt Zeit in Anspruch, dass ich, wenn es so weiter gehen soll, auch mehr Mitgliedschaften brauche, um das Projekt weiter zu finanzieren.

Das Ziel ist, bis Mai  auf 300 Mitglieder zu kommen. Wer den "Siebten Tag" gern liest und das Geld erübrigen kann, möge es bitte tun (Alle, die knapp bei Kasse sind, lesen selbstverständlich gratis weiter, wir machen Robin-Hood-Prinzip) Montag reicht auch, heute ist ja der siebte Tag.

Kopf hoch, 

ihr Nils Minkmar

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