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Neunundvierzigdrei

Macrons Wette/Salman Rushdie/Gerd Dudenhöffer/Boeuf Bourguignon

Seit Donnerstag 15 Uhr ist es völlig unmöglich, französische Talkshows oder Radiosendungen zu verfolgen: alle brüllen ununterbrochen. 

Was ist passiert? Zur Verabschiedung der Rentenreform hat sich die Regierung von Elisabeth Borne auf den Quarante-neuf-trois berufen. Der Effekt ist spektakulär: Ungefähr so, wie einem  beruflichen Kontrahenten zur Beruhigung der Lage zu Hause Bett und Vorhänge anzuzünden. Danach ist restlos alles klar. 

Der  Verfassungsartikel 49.3 erlaubt es der französischen Regierung, ein Gesetz ohne Abstimmung im Parlament in Kraft treten zu lassen. Um das zu verhindern, hat die Assemblée Nationale nur eine Möglichkeit, nämlich der Regierung das Misstrauen auszusprechen, sie zu stürzen. Sinn dieses Artikels war es, dem Präsidenten die Möglichkeit zu geben, das Land auch dann zu führen, wenn sich Parteien und Parlament mal wieder unmöglich benehmen. Er stammt aus einer Zeit, als Katholiken und Kommunisten sich gegenüberstanden und General de Gaulle als Vater des Volkes und Stimme der Vernunft auftreten wollte. Offenbar funktioniert er aber auch umgekehrt,  als Brandbeschleuniger. 

Diese Woche war ich in Paris, wo sich der Müll türmt. Besonders vor den Restaurants stapeln sich schwarze Säcke mit Essensresten, die bestialisch stinken. Die tierische urbane Müllabfuhr in Gestalt fleißiger Ratten ist zur Stelle: Sie sind en famille unter die neuen Hügel aus Essen gezogen und denken, endlich tut man mal was für uns.  Außer den possierlichen Nagern hassen alle den Müllstreik. Müll brennt leicht und am Donnerstagabend zündeten Demonstranten die Säcke  an. Feuerwehrleute auf Motorrädern mussten mit Feuerlöschern eingreifen, die hatte ich noch nie gesehen. 

Vermutlich erinnert sich Macron an ein legendäres Fernsehinterview von Charles de Gaulle 1968. Der befand, die Franzosen schätzten zwar den Fortschritt, aber nicht das Durcheinander - le progrès, pas la pagaille. Was er damit meinte? Der General erklärte, dass die französische Hausfrau sich über Staubsauger, Kühlschrank und Waschmaschine als Zeichen der neuen Zeit freut, aber nicht möchte, dass Sohn und Ehemann beseelt vom  Geist von Achtundsechzig plötzlich die Füße auf den Tisch legen oder die Tochter abends nicht nach Hause kommt. De Gaulle wusste natürlich, dass Frankreich politisch  patriarchalisch verfasst ist, aber sozial das Matriarchat herrscht. Darauf setzt vielleicht auch Macron: Die Szene, wie die Premierministerin im Parlament niedergebrüllt und gedemütigt wurde, empfinden nicht nur die meisten Frauen als widerwärtig.  Auch wer seine Rentenreform für schlecht getimt oder überflüssig hält, wird von Müllbergen, grölenden Abgeordneten und ewigen Streiks derart abgeschreckt sein, dass Macron wie die Stimme der Vernunft dasteht. Dialektik eben: Ich oder das Chaos.

 Kapiert hat das alles die eine, die nie mehr die Stimme erhebt. Marine LePen gibt es nurmehr in Zimmerlautstärke. Und die Männer ihrer Fraktion tragen Krawatte.

Als in der vergangenen Woche China, Saudi-Arabien und Iran vor die staunende Weltöffentlichkeit traten, um ihre neue Allianz zu demonstrieren, musste ich sofort an Salman Rushdie denken. Mit dem Todesurteil gegen ihn im Jahre 1989 begann eine Ära der Konfrontation zwischen autoritär-fossilen Regimen und der offenen Gesellschaft. Damals war die Solidarität mit Rushdie übrigens recht verhalten. Niemand dachte daran, dass dieser gezielte Angriff auf die Freiheit der Literatur, mithin einer zentralen Säule der Moderne, das geheime Signal war, so schnell wie möglich aus fossiler Energie auszusteigen, um solchen Horrorregimes, die nur darauf warten, uns anzugreifen und damit mit der Fatwa gegen Rushdie auch begonnen haben, die Mittel dazu zu entziehen.In Wahrheit geschah genau das Gegenteil, wir machten sie reich, mächtig und zu engen wirtschaftlichen Partnern. 

Nun sind sie groß und es wird eng. 

Dass Rushdie noch lebt, noch schreibt, grenzt an ein Wunder. Er macht das Maximum aus seiner singulären symbolischen Situation, in dem er die naheliegende Rolle des Opfers oder des weisen Versöhners  so gar nicht annimmt. Sein neuer Roman  ist eine einzige Extravaganz, bei der man sich den Romancier als kichernden Mann vorstellen darf, der Figuren und Welten erschafft, wie es ihm gerade gefällt. Es gibt, so scheint es wie ein Wasserzeichen aus jeder Seite, die Macht der Autokraten, der religiösen Fanatiker und ihrer Schergen und dann, dann gibt es die unverschämte Freiheit des Schriftstellers und die ist eben auch eine Macht.

 Wer wie ich im Saarland groß geworden ist, ist auch mit Heinz Becker groß geworden. Der konnte ein Nachbar sein, der Vater eines Schulfreundes oder eben die von Gerd Dudenhöffer ersonnene Figur. Schaut man seine Sachen mit geborenen SaarländerInnen, bleiben die Lacher aus, denn sie sehen dann ein schlichtes Abbild der Wirklichkeit. Dabei überschreitet seine Arbeit alle Genregrenzen: Es ist kein Kabarett, keine Comedy und keine Sitcom, sondern eine Meditation über Sprache, Leben und Klassenkampf. Heinz Becker ist einer der letzten Vertreter der Arbeiterschaft im deutschen Fernsehen. Wenn von Diversity die Rede ist, beinhaltet das oft nur die Abbildung schöner junger Menschen in einer Werbeästhetik, aber kaum je eine Vielfalt der Bildungsgrade und Klassenstandpunkte. Bei Heinz Becker wird die conditio humana aus der saarländischen Wohnküche heraus erörtert. Seiner sprachlichen Fertigkeit merkt man die saarländische Tradition von Ludwig Harig und Johannes Kühn an. Es ist weise und super lustig ist es auch. 

https://www.daserste.de/unterhaltung/comedy-satire/comedy-satire/videos/heinz-becker-deja-vu-2-folge-1-video-102.html (Öffnet in neuem Fenster)

Die Porträts erfolgreicher Gastronomen in Le Monde sind auch eine Auskunft über das französische Bildungssystem. Kreative Menschen, die es mit Stillsitzen und Auswendiglernen nicht so haben, stehen in Frankreich vor der Wahl auszuwandern oder eben in die Gastronomie zu wechseln – mit der Mode die einzige Handwerksbranche, die so halbwegs als äquivalent zu akademischen Berufen gilt. In dieser Woche ist es der Sohn eines der berühmtesten französischen Journalisten, der sich auf eine kulinarische Spurensuche begibt und ein heute aus der Mode gekommenes Gericht zu Ehren kommen lässt. 

In der alten Zeit war es übrigens nicht ohne, seinen Gästen so etwas aufzutischen. Meine Großmutter hatte einmal den halben Vormittag mit der Zubereitung so einer Daube verbracht, denn ihr Cousin vom Lande wurde zum Mittagessen erwartet. Cousin André führte übrigens immer sein eigenes Messer mit sich, auch im Restaurant. Der sprach der Sache aber nur verhalten zu. Als mein Großvater ihn fragte, ob es ihm nicht schmeckt oder er keinen Appetit habe, antwortete er höflich, er halte sich zurück, um noch vom Hauptgericht essen zu können. Fleisch mit Gemüse in einer Soße galt auf dem Land als Zwischengang. Er wartete auf Braten. 

https://www.lemonde.fr/le-monde-passe-a-table/article/2023/03/15/le-b-uf-bourguignon-la-recette-d-alexandre-giesbert_6165564_6082232.html (Öffnet in neuem Fenster)

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Ich möchte keine Werbung  auf der Seite und auch nicht unter eine Medienmarke schlüpfen. Allerdings ist mir die Arbeit daran so wichtig, nimmt Zeit in Anspruch, dass ich, wenn es so weiter gehen soll, auch mehr Mitgliedschaften brauche, um das Projekt weiter zu finanzieren.

Das Ziel ist, bis Mai von (seit vorigem Sonntag schon ) 208 auf 300 Mitglieder zu kommen. Wer den "Siebten Tag" gern liest und das Geld erübrigen kann, möge es bitte tun (Alle, die knapp bei Kasse sind, lesen selbstverständlich gratis weiter, wir machen Robin-Hood-Prinzip) Montag reicht auch, heute ist ja der siebte Tag.

Kopf hoch, 

ihr

Nils Minkmar

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