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Die große Pause

In Frankreich begrüßte ich alle mit derselben Frage: Hast du auch an den Aufständen teilgenommen? Einige hatten ganz vergessen, dass es die émeutes, wegen denen der Präsident seinen Staatsbesuch in Berlin verschoben hatte, überhaupt gegeben hat. Es war, als seien die Republik, über die die Nachrichten berichten und die Lebenswelt der Menschen zwei völlig verschiedene Bereiche. Das eine ist eine Art Serie, die in Paris spielt, in der es Schurken, Helden und Verräter gibt und das andere ist das echte Leben. Durch die Schwäche der Volksparteien hat sich Politik professionalisiert und kaum jemand kennt jemanden, der in einer Partei aktiv ist. Es war wie der Besuch in einem Land, das aus der Zeit gefallen ist und wo der Präsident auf ewig François Mitterrand heißt. Für manche ist Macron ein neoliberaler Teufel, für die meisten ist er der Protagonist einer Serie, die sie nicht mehr verfolgen. Und das müssen sie auch nicht, denn seine letzte Amtszeit hat begonnen, die potenziellen Nachfolger laufen sich warm. Das letzte große Interview gab Macron aus einem Überseedepartement am Ende der Welt, die lange Leitung sorgte für einen recht absurden Fernsehmoment.

Der Krieg in der Ukraine ist weit weg, Deutschland leider auch. Eine Bekannte, Lehrerin, zeigte sich ganz erstaunt darüber, dass auch in Deutschland eine Krebsbehandlung nicht privat bezahlt werden muss, dass es Krankenkassen gibt. Es ist gerade eine Phase der Kontemplation, der Besinnung in Frankreich. Als wären die Jahre der Attentate, der Unruhen, der Streiks und die zweimalige Wahl ohne Alternative zwischen den Liberalen und der extremen Rechten ein nachwirkender Schock, von dem man sich auf dem Sofa der Geschichte erholen muss. Über Politik wird lokal und regional diskutiert. In Bordeaux traf ich einen uralten Zeitgenossen, der im Schreibwarenladen Tintenpatronen einkaufen war. Er war sehr elegant gekleidet – Jackett, gebügeltes Hemd, Bermudas – und klagte, dass er seine Wohnung nicht mehr gern verlässt. Der grüne Bürgermeister von Bordeaux, "dieser Pierre Hurmic" , der mit seinen Radwegen würde es ihm unmöglich machen, noch durch die Stadt zu flanieren. Heutige Radfahrer seien eine tödliche Gefahr, fand er. Und die Fachverkäuferin pflichtete ihm bei. Dass die Tour de France zum ersten Mal seit vielen Jahren in Bordeaux vorbeikam, fand er aber wieder gut. Radfahrer ist eben nicht gleich Radfahrer.

Vieles bleibt, manches muss sich ändern und die nächste Wahl ist noch lange hin. Frankreich holt Luft.

Zu den sieben Weltwundern würde ich heute die unabhängige Librairie Mollat in Bordeaux zählen. Sie umfasst einen ganzen Häuserblock und ihr Motto scheint zu sein, dass hier nichts Verlegtes fremd ist. Vom Kochbuch zum Comic, von religiösen Texten zu Krimis, Klassikern, Taschen- und Schulbüchern und alles in einer Vielfalt, Auswahl und Tiefe, die staunend zurücklässt. Mollat ist die totale Buchhandlung. Ich fand einen ganzen Stapel an Büchern und zum Schluss ein Taschenbuch, dass ich früher mal gelesen hatte, heute aber in meinem Wust an Büchern gar nicht mehr finden würde, weil es doch recht klein ist: Sartres Jugendbiografie Les Mots.

Nun lese ich sie ganz anders. Sartre wächst im Haus seines mütterlichen Großvaters Charles Schweitzer vor, einem gebürtigen Elsässer. Zwischen den Zeilen nur wird deutlich, dass es sich bei der Familie der Schweitzer um innerfranzösische Migranten handelt, die noch starke kulturelle Bindungen nach Deutschland, in die deutsche Sprache unterhielten. Als der kleine Jean-Paul in der Schule im Diktat das Wort sauvage, wild, schreiben soll kommt çovache dabei raus - also genau dem elsässischen, deutsch klingenden Dialekt entsprechend. Und es ist verblüffend, dass sich Jean-Paul Sartre in seinem Leben in einem winzig kleinen Umkreis bewegte: vom Haus des Großvaters zum Café de Flore und sogar zum Friedhof, auf dem er heute liegt, sind es jeweils nur wenige Hundert Meter.

Im Buch macht Sartre sich über den Geniekult in der bildungsbürgerlichen Familie lustig, wie seine Tanten und Nachbarinnen ihm eine große Zukunft als Literat vorhersagten. Aber diese Frauen haben recht behalten.

Heute regen wir uns über die Gedanken und Attitüden der Musks und anderer digitaler Superreicher auf und verklären die alte Zeit der Automobilkonzerne. Diese Doku erinnert noch mal an den völligen Größenwahn, der Ende des vorigen Jahrhunderts dort herrschte, personifiziert an der Figur des Carlos Ghosn. Der gute Mann verfiel auf die Idee, synchron zwei Konzerne zu leiten, Renault in Paris und Nissan in Tokyo - in wie man so schön sagt Vollzeit- und niemand war in der Lage ihm beizubringen, dass das nicht geht. Interessanter Nebenaspekt: Jahrelang konzentrierte man sich in dieser Branche allein auf Costcutting und Gewinnmaximierung, übrigens mit schrecklichen Folgen für die Arbeitsbedingungen. Hätten die Autofirmen diese Energie, dieses Geld in die Abkehr von fossilen Motoren gesteckt, sähe Europa heute ganz anders aus.

https://www.netflix.com/de/title/81227167 (Öffnet in neuem Fenster)

Uns ist meteorologisch ein schöner Spätsommer versprochen, vielleicht ergibt sich noch die Gelegenheit, diese Rezepte für ein Picknick auszuprobieren.

https://www.theguardian.com/food/2023/aug/05/roast-chicken-tomato-green-bean-salad-recipes-yotam-ottolenghi-alfresco-feast (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar

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