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Der Knick in der Logik

Das Kreuz mit dem X/Philip Blom/Yishai Sarids "Schwachstelle"/Le Fooding

Ich bin seit vielen Jahren auf Twitter aktiv und habe dort intensiv gelernt, tolle Menschen und Quellen entdeckt. Man darf es nicht zu ernst nehmen, es ist eine Art Hobby oder Zeitvertreib, – so dachte ich jedenfalls lange. Mittlerweile, die Plattform nennt sich nun X, sehe ich das anders. Es ist längst von einem digitalen Angebot unter vielen zum einflussreichsten globalen Massenmedium geworden. Natürlich sind nicht alle dort dabei, aber von denen, die viele erreichen, sind viele dabei. Wer irgendwo auf der Welt mit Politik, Medien oder Wissenschaft zu tun hat, ist wahrscheinlich auf Twitter/X angemeldet , und sei es nur als Mitleserin. Tweets sind Quellen, die Basis für Artikel und ersetzen oft eine ganze Pressestelle. Der Papst ist auf X, der UN-Generalsekretär und John Cleese ist es auch. Die Regeln sind theoretisch die anderer sozialer Netzwerke: Man behauptet irgendwas und die Community reagiert.

Nur, dass es nicht mehr so ist. Die Logik von X hat sich verändert. Manipulation ist nun Alltag. Es gibt Tage, an denen strömen mir Dutzende von gesichtslosen Followern mit seltsamen Namen zu. Wenn ich den Dienst aufrufe, erscheinen klimawandelleugnende, coronaskeptische und russlandfreundliche Gestalten, von denen ich sicher bin, dass sie keinem realen Menschen entsprechen. Niemand weiß mehr, wie X operiert und welche Regeln gelten. Mit Geld kann man einiges machen und ich bin nun davon überzeugt, dass Errungenschaften wie die Trennung von Redaktion und Verlag, Meinung und Nachricht, Politik und Presse hier keine Beachtung mehr finden. Die Bundesrepublik hat mühsam gelernt, gewisse Standards in ihrer Medienlandschaft zu etablieren: Es gibt Rundfunkgremien, Medienanstalten und den Presserat. Doch für die zentralen Plattformen gibt es all das nicht.

Und dann können wir natürlich über die Spaltung in der Gesellschaft klagen, alle Eltern aller Kinder verantwortlich machen, die Generation Sowieso analysieren – wir gehen damit schnurstracks am Punkt vorbei: Wie Mieter, die sich über die Feuchtigkeit in der Wohnung wundern, nach Lecks suchen und den Springbrunnen im Wohnzimmer übersehen. Hass, Hetze und der sich draus ergebende Ärger sind der Treibstoff des mächtigsten Mediums. Darum ist es kein Wunder, dass Elon Musk objektiv die Niederlage Putins verhindern möchte: Dessen Reich des Unsinns und die Milchstraße an aus Russland geförderten politischen Rumpelstilzchen sind unverzichtbar für X – worüber sollen sich die Leute sonst aufregen?

Individuell wegzugehen ist keine gute Lösung: Einmal wegen der dort immer noch versammelten spannenden Community und dann, weil es sich um eine institutionelle und politische Frage handelt.

An Festtagen betont man gern die Rolle der Medien in der offenen Gesellschaft. Im Alltag schaut man bei solch mächtigen Systemen aber weg, wundert sich dann über die vielen Schreihälse, die analog nachmachen, was rund um die Uhr auf dem Bildschirm stattfindet. Die Europäische Union muss diese Plattformen regulieren: Es sind mächtige Agenten der Gegenaufklärung, die das Imperium der Affekte und Ressentiments zum Zweck des Geldverdienens fördern.

Wenn ich Dinge erledigen muss, die mich nicht besonders interessieren oder sogar nerven (Überweisungen tätigen/Rechnungen schreiben/Steuer zusammensuchen/Reisen planen/Chaos bändigen) suche ich mir eine virtuelle Gesellschaft, die mich davon ablenkt, inspiriert und mir so über die Runden hilft. Lange Zeit nutzte ich dazu den Film von Corinna Belz über Peter Handke – keine Ahnung, wieso. Sehr gut eignet sich dazu aber auch dieses Gesprächsformat, vom Sender lauter angepriesen als die Konversation dann ist. Der engagierte Philosoph und Historiker Philipp Blom schreitet mit dem Journalisten Yves Kugelmann die Tour d'Horizon unserer Gegenwart ab. Ich bin nicht mit allem einverstanden, aber unmittelbar erfreut über diese Art, sich auszutauschen: Ohne Pointen, ohne Verkaufsabsicht, ohne Eitelkeit. Keine Spur von Precht oder Welzer. Es gibt eben noch freie Intellektuelle und nicht bloß Experten, Panelisten oder Studiobewohner. Man muß sie nur besuchen gehen.

https://www.arte.tv/de/videos/110190-004-A/deep-thought-das-grosse-gespraech-mit-philipp-blom/ (Öffnet in neuem Fenster)

Die Nachrichten aus Israel sind so gruselig, dass man gar nicht mehr hinsehen möchte, aber das geht natürlich nicht. Schon allein deshalb, weil die kleine Republik ein politisches Laboratorium des Westens ist und alles, was dort so passiert, früher oder später auch andernorts zum Thema wird. In diesen Tagen muss dort die offene Gesellschaft um ihr Leben kämpfen und der Ausgang ist knapper, als ich es wünschen würde. Zu den Autoren, die Leben und Gesellschaft in Israel immer besonders treffend beschreiben, zählt Yishai Sarid.

In diesem eben in deutscher Fassung erschienenen Roman erzählt er von einem jungen Mann, der nach der Schule einen guten Job in einer IT-Firma findet, die sich auf das Ausspionieren von Mobiltelefonen spezialisiert hat. Die Familie unseres Helden ist eine ziemliche Katastrophe und der Job bringt ihm mehr als Geld, nämlich Anerkennung und Respekt. Zum Teil kann er die Illusion nähren, etwas Gutes zu tun - und schraubt sich dann nur tiefer in abscheuliche Praktiken, lädt große Schuld auf sich. Keine beruhigende Lektüre, aber man versteht, was die Stunde in Tel Aviv geschlagen hat.

Es ist vielleicht nicht Sarids bester Roman – das ist für mich immer noch Limassol, – aber doch so gut gemacht, dass ich es an zwei Nachmittagen durchgelesen habe.

Wenn ich in Frankreich neue Adressen suche, nutze ich die App von le Fooding und bin eigentlich nie enttäuscht worden. Es ist eine Parallel- und Gegenwelt zum Michelin-Universum mit regionalen Produkten, weniger Drama und mehr Frauen in der Küche. Die Haute Cuisine und ihre Organisation sind noch stark vom Geist des Militärs geprägt, dessen Nachkommen sie in gewisser Weise auch sind: Wenn der Küchenchef eine Ansage macht, antworten alle in der Küche: Oui Chef! Bei le Fooding geht es eher zu wie in einer WG oder einem Start-Up und man langweilt sich nicht. Hier Rita Higgins mit Sonntagshuhn, aber auch ihre weiteren Rezepte klingen sehr anregend.

https://lefooding.com/recettes/poulet-roti-a-la-coriandre (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch,

Ihr

Nils Minkmar

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