Ein anderer Weg
Linke Selbstblockaden/ Wenders & Kiefer/Margot Friedländer/Geburtstagsessen
Still und heimlich wird in Hessen eine neue Regierung gebildet. Und weil das Land, das einst mitten im Zentrum der sozialen und politischen Konflikte der Republik stand, heute kaum noch für Nachrichten und Debatten sorgt, bekommt es kaum jemand mit. So wie man auch von der amtierenden Landesregierung wenig mitbekommen hat. Rein rechnerisch könnte die Union mit der AfD koalieren – aber der Mord eines Rechtsradikalen an dem CDU-Landrat Walter Lübke ist im Landesverband unvergessen und es wird nie dazu kommen. Insofern ist die große Koalition sehr okay.
Manchmal frage ich mich, wann ich mal wieder einen linken Regierungswechsel erleben werde. So wie die Wahl Mitterrands im Mai 1981, Oskar Lafontaines 1985 oder von Gerhard Schröder 1998 -(Präzision für die Jüngeren: Letztere waren damals Hoffnungsträger und nicht die Ritter von der trostlosen Gestalt, die wir heute kennen.) Gut stehen die Zeichen nicht: Die Bundestagsfraktion der Linken muss sich auflösen – was mögen die Menschen denken, die ihre Hoffnung in den Club gesetzt haben? Und in Frankreich gibt die France insoumise ein ähnlich trauriges Bild ab. Tagelang konnte sich die Partei nicht dazu durchringen, die Hamas als Terroristen zu bezeichnen. Was sollen die sonst sein? Ein Lesezirkel?
Doch ohne die Stimmen, die diese Parteien binden, gibt es als Alternative zu unserem seltsamen postmodernen Kapitalismus, in dem schon mal der Steuerzahler die Stromrechnung für Firmen übernimmt, nur eine rechte Regierung. Und die sind bekanntlich ein Traum für Oligarchen aller Art. Möchte man das nicht, bleibt nur ein je ökologisch oder sozialdemokratisch betupftes Weiter-so, eine atmende Große Koalition, die zügig wegregiert, was gerade anfällt.
Ich verstehe, dass das viele Wählerinnen und Wähler nervös macht. Die Möglichkeit, die Regierung gewaltfrei durch eine andere zu ersetzen, bildet das Kernstück der offenen Gesellschaft. Ein Stimmzettel muss diese Möglichkeit eröffnen. Aber derzeit ist das in vielen Ländern nicht möglich, weil die, die sich links nennen, dazu nicht in der Lage sind.
Vor einigen Tagen war die linke Clémentine Autain im französischen Radio. Mélenchon macht ihr das Leben schwer und die ganze Partei zum Zirkus. HörerInnen durften anrufen und Fragen stellen, aber viele redeten stattdessen wie verzweifelt auf sie ein, endlich den alten Mann loszuwerden und eine linke, regierungs- und zurechnungsfähige Alternative anzuführen.
Es wäre Zeit für eine linke, also das Klima wie die Freiheit schützende Politik. Nichts hat so viel Freude im Land ausgelöst, die Menschen so auf Beine und Räder gebracht wie das Neun-Euro-Ticket. Ich kann mich an keine Maßnahme erinnern, die keine Transferleistung ist und so umfassend und eindeutig denen zugutekam, die wenig Geld haben. Hielt leider nicht lange. Eine Regierung, die solche Maßnahmen mit politischer Phantasie verbindet, würde mehr Anklang finden als eine Ampel, die zerstritten scheint und hadert.
Weil die einzige Alternative rechts wohnt, schielen auch alle dahin. Immerzu. Frankreich und Deutschland sind sich derzeit einig, dass der beste Weg aus unseren multiplen Krisen darin besteht, Migranten das Leben schwer zu machen. Der französische Senat hat sogar die medizinische Versorgung für Migranten ohne gültigen Aufenthaltstitel abschaffen wollen – welches Problem soll das lösen? Sinn dieses politischen Voodoos ist es, irgendwie die Rechten zu beruhigen. Sie geben die Themen vor. Aber könnte ein anderer Weg nicht darin bestehen, linke Politik zu machen?
Die Vermögensungleichheit hat groteske Züge erreicht: Eine Handvoll alter Männer besitzen so viel wie die Hälfte der Weltbevölkerung?
Worin besteht ihre Leistung? Eine im Satz moderate, aber umfassend erhobene europäische Finanztransaktionssteuer würde weder Musk noch Pinault in den Hungertod treiben. (Seit 1923 und bis in Helmut Kohls Amtszeit wurde in Deutschland eine Vermögenssteuer erhoben, warum hat man damit aufgehört?)
Viele Probleme und alle Krisen sind international, ihre Lösung also auch. Die frühe idealistische Linke war die erste universalistische politische Bewegung – heute sind davon nur noch Fragmente übrig.
Viele Menschen können die ihnen zustehenden Rechte gar nicht verwirklichen, weil sie im falschen Land geboren wurden und der dort regierenden Clique nichts entgegensetzen können. Das Recht der Staaten steht aber in der Praxis immer noch über dem Recht der Menschen. Mehr Nationalismus ist darauf keine Antwort – sondern mehr Universalismus.
Eine neue Generation von PolitikerInnen wird eines Tages den WählerInnen dieses Angebot machen und damit erfolgreich sein.
Ich habe keinen richtigen Bezug zu den Werken von Anselm Kiefer. Darum habe ich mich vergangenen Sonntag in eine Kinomatinee aufgemacht, um den Film von Wim Wenders über ihn anzusehen. Zu meiner Überraschung fand ich den Saal nahezu vollständig ausgebucht. Kiefer gehört zu jenen Künstlern, die überhaupt nicht in der Lage sind, zu erklären, was sie tun. Die Passagen mit den Gesprächen sind wenig aussagekräftig, das gilt insbesondere für die Ausschnitte aus früheren Dokumentationen, als man ihm eine Nähe zu Nazi-Ästhetik nachweisen wollte. Da redet er einfach drauflos. Der Film ist ein Streifzug durch eine von bösen Märchen und alten Fotos heimgesuchten Welt – eine Welt, die jede deutsche Familie zu gut kennt.
Kiefer gleicht vielen Männern seiner Generation, etwa Werner Herzog, Gerhard Richter und Wim Wenders selbst - die einfach immer weiter arbeiten. Die sich nicht schonen und manchmal den Eindruck erwecken, als würden sie keine Ruhe finden, ihr misstrauen oder sich sogar selbst bestrafen. Kiefer sagt - einziger Moment der Wahrheit in den Interviews – er fühle sich nicht angekommen, sondern immerzu auf dem Weg. Es ist dabei schlicht atemberaubend, welche Dimensionen die Installationen und Räume haben. Kiefer hat die zerstörten Städte seiner Kindheit und der Gegenwart im Maßstab 1:1 nachempfunden. Eine Welt, die von den guten Geistern restlos verlassen wurde.
Sicherheit am Arbeitsplatz ist nicht seine größte Sorge. Flüssiges Blei spritzt, Flammen lodern, es ist ein Wahnsinn. Und dann, immer wieder, legt sich Kiefer einfach auf den Rücken auf den Boden und schaut in den Himmel.
https://www.youtube.com/watch?v=ScN2RXINkm4 (Öffnet in neuem Fenster)Es ist ein Glück, in diesem schwierigen November noch eine Zeitzeugin wie Margot Friedländer sehen und hören zu können. In dieser sehenswerten Dokumentation erfährt man mehr über dieses einzigartige Leben.
https://www.zdf.de/dokumentation/terra-x-history/ich-bin-margot-friedlaender-holocaustueberlebende-100.html (Öffnet in neuem Fenster)Zu besonderen Anlässen, einem Geburtstag etwa gibt für mich keinen festlicheren Hauptgang als das klassische Brathähnchen. Wenn im Jenseits das jüngste Gericht vor Hühnergöttern gehalten wird, werde ich einiges zu erklären haben und dieser Newsletter kommt in die Anklage…
https://madame.lefigaro.fr/recettes/poulet-roti-ses-pommes-canailles-280509-202411 (Öffnet in neuem Fenster)Kopf hoch, ihr
Nils Minkmar
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