Ein Jahr und ein Monat
Fast ein Jubiläum/ Der offene Brief und die Konservenwurst/ Serie "Ballouz"/ Nigel Slater
Vor einem Jahr und einem Monat begann dieser Newsletter. Nach dem Frust bei meiner früheren Arbeit, wo jeder Artikel zig Mal redigiert und umstrukturiert wurde, war mir nach einer maximal freien Form. Es ging beim ersten Post um Jens Spahn, um Duploriegel und die generelle Nervenschwäche in dieser Coronazeit. Wenn ich diesen ersten Newsletter heute wieder lese, kommt mir der Text vor wie eine Flaschenpost aus einer anderen Zeit. Von Corona redet kaum noch jemand, Spahn ist vergessen, Merkel verschwunden und zu den übrigen Problemen von seinerzeit sind neue oben drauf gekommen.
Auch formal hat sich der "siebte Tag" verändert - der erste Post war nur ein Fließtext, heute gibt es drei bis vier Elemente: Eine Geschichte, eine Interpretation, ein Tipp oder ein Rezept. Die Zahl der AbonenntInnen wächst beständig und die guten Instrumente hier von Steady zeigen mir auch, woher die LeserInnen kommen. Die meisten finden den Weg von Twitter hier her, so hat dieser Zirkus eines sozialen Netzwerks auch seine guten Seiten. Und immer mehr Menschen schließen eine Mitgliedschaft ab, um diese Arbeit zu unterstützen. Danke und auf ein neues Jahr.
Am Freitagnachmittag rief mich der nette Redakteur einer ARD-Hörfunksendung an, um wegen eines Interviews für die frühen Morgenstunden des nächsten Tages anzufragen. Es sollte um den "offenen Brief" in der Emma gehen, in dem sich deutsche Leute zum Ukrainekonflikt äußern. Ich lehnte gleich dankend ab. Erstens halte ich mich an Tagen, an denen unser Sohn nicht zur Schule muss, so lange wie möglich im Bett auf und zweitens hat dieser Brief wenig mit der Ukraine, mit Russland oder der Gegenwart zu tun. Er ist vielmehr ein schriftliches Ringen mit der Angst, die noch im Keller der Familienerinnerung wohnt und bei bestimmten Nachrichtenlagen wieder stöhnend die Treppe hoch kommt.
In einer Metzgerei in unserer Stadt gibt es ein ganzes Wandregal voller glänzender Konserven mit Dosenwurst. Ich habe nie erlebt, dass jemand so etwas kauft, aber sie stehen bereit. Das Regal ist für mich das Sinnbild dieser deutschen Traumata. Krieg mit Russland - das sind Begriffe und Vorstellungen, die viele Deutsche im Innersten betreffen und vor Angst lähmen. Verständlicherweise - nur mit der aktuellen Problematik haben sie nichts zu tun. Abscheu vor Waffen, Friedensbewegung - das sind tolle Errungenschaften der Bundesrepublik im Hinblick auf die deutsche Geschichte und die lange Tradition des deutschen Militarismus. Nur sind sie im Fall der Ukraine nicht anwendbar. Es handelt sich um eine ganz andere Problemlage, als jene, die noch in den alten Fotoalben und Familienerzählungen herum spukt. Es geht jetzt gar nicht in erster Linie um Deutschland 1945. Es geht um Kinder, die heute leben, deren Eltern und eine Gegenwart, die auch einmal eine Erinnerung sein soll. Der "offene Brief" ist intellektuelle Dosenwurst.
Er ist Arzt, Chef und Witwer. Kommt aus dem Nahen Osten und ist in der Uckermark zuhause. Beruflich genial, gastronomisch oft auf Irrwegen. Und schaut auf die Menschen, in ihrer ganzen Cringeness, mit Wohlgefallen. Das ist Ballouz, der Protagonist der gleichnamigen Serie. (Full disclosure: Diese schöne Medical-Serie entstand in der Hauptabteilung, die meine Frau leitet).Die zweite Staffel ist nun in der ZDF-Mediathek zu sehen und sehr zu empfehlen. Untertitel: Geschichten von Mut und Hoffnung - man kann es gebrauchen.
https://www.zdf.de/serien/doktor-ballouz/leere-seiten-102.html (Öffnet in neuem Fenster)An manchen Tage denke ich, Nigel Slater ist die Geisel finsterer Mächte und möchte uns, seinen Freunden, ein Signal senden, damit wir seine Bedrängnis verstehen, seine Kidnapper von seinem Hilferuf aber nichts mitbekommen. Etwa, wenn ich sowas lese. Wer grillt eine Ananas ? Das ist doch Quatsch.
https://www.theguardian.com/food/2022/apr/29/nigel-slaters-recipe-for-grilled-pineapple (Öffnet in neuem Fenster)Aber dann gibt es auch die anderen Tage. Und an denen feiere ich ihn einfach von ganzem Herzen:
https://www.theguardian.com/food/2022/apr/25/five-ways-with-chicken-by-nigel-slater (Öffnet in neuem Fenster)Kopf hoch,
ihr
Nils Minkmar
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