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Der Olymp der Gauner

Das Russland-Tribunal/ Arbeit und Struktur/Hilary Mantel/Coronation Chicken

Jeden Freitag höre ich auf dem öffentlich-rechtlichen französischen Radiosender France inter eine sehr laute Sendung: Es ist eine wirtschaftspolitische Debatte zwischen dem Chefredakteur des Wirtschaftsmagazin Les Échos, Dominique Seux und dem Wissenschaftler Thomas Piketty – der erste moderat wirtschaftsliberal, der andere für Umverteilung. Beide reden fröhlich aufgekratzt die ganze Zeit, wenn sie sich nicht ebenso fröhlich auslachen. Manchmal schaltet sich der Moderator ein, dann reden sie zu dritt. Piketty weist jedes Mal auf die schwindelerregende Konzentration von Vermögen in Frankreich hin: Die Superreichen laufen den gewöhnlichen Reichen davon."Eines Tages", sagte er Freitag, "wird man auf  unsere Zeit zurückblicken und sich fragen, warum man alles versucht hat, außer die sehr Reichen um ihren Beitrag zu bitten!" 

Es gibt noch ein anderes Feld, auf dem es unfair zugeht und das seltener besprochen wird, das des Rechts. Im Alltag sind Recht und Gesetz omnipräsent. Konflikte am Arbeitsplatz, Familienstreit, Nachbarschaftsangelegenheiten oder geschäftliche Probleme – irgendwann führt der Weg zu einem Anwalt und zu einer juristischen Klärung. Der Sohn nutzt wegen der katastrophalen Busverbindungen einen elektrischen Roller, fährt damit auf dem Bürgersteig und man kann die Uhr danach stellen, wann der erste Ordnungshüter ihn ermahnt. Es ist Teil unseres zivilen Lebens und der Ordnung der Welt, in einem Rechtsstaat zu leben. 

Aber ganz oben gilt das nicht. Es ist, als lebten bestimmte Politiker-Gauner-Prominente auf einem Olymp, wo kein menschliches Gesetz mehr gilt. So empfinde ich das bei Silvio Berlusconi, der trotz epischer Skandale noch politisch aktiv ist, sogar kurz vor einem Wahlsieg steht. So empfinde ich es bei Donald Trump, gegen den längst Anklage wegen versuchten Umsturzes erhoben werden müsste. Und so ist das auch bei Wladimir Putin und seinen Kollegen. Der eher freundlichen Putin-Biografie von Philip Short kann man entnehmen, dass Putin die rechtlichen Aspekte seines politischen Handelns sehr wichtig sind. Er möchte als Biedermann gelten, der stets nach Recht und Gesetz handelt. Darum nun die lachhaften Referenden in den von seinen Truppen noch kontrollierten Gebieten der Ukraine.  Und aus diesem Grund wäre jetzt ein Russland-Tribunal wichtig, wie es Bertrand Russell es zu Zeiten des Vietnamkrieges initiierte. Zeugen hören, Beweise sichern und Anklage erheben. Da sich auch das Recht einer zunehmend global vernetzten Welt anpassen muss, wäre das ein guter Beginn: Angriffskrieg, Kriegsverbrechen, Massenmord und vermutlich versuchter Genozid, das wären die zu untersuchenden Punkte. Wer Short gelesen hat, weiß, dass ein internationaler Haftbefehl Putin schockieren würde –  er wäre darüber hinaus auch eine wichtige Selbstvergewisserung: Wir möchten auch für unsere Zeit sagen können, dass niemand über dem Gesetz steht. 

Manche Bücher entdeckt man erst Jahre später, dann aber genau zum richtigen Zeitpunkt. In all der Panikmache vor Herbst und Winter, während alles wieder startet und die Tage kürzer werden, wenn man über das Niveau der intellektuellen Debatten verzweifeln möchte und für nichs mehr Zeit hat, erweist sich ein älteres Buch als Elixier an Weisheit und Lebensfreude:

Der Autor von "Tschick" führt ein Tagebuch seiner letzten Lebenszeit. Ein unheilbarer Tumor bedroht ihn und er hält dagegen, in dem er schreibt und arbeitet. Es ist die Anwendung der Lehre von Montaigne, wonach das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit der Beginn der Philosophie ist. Herrndorf beschreibt Alltag, Klinik und Berlin mit einer Neugier und Güte, die einmalig sind und oft auch sehr komisch. Und obwohl die Geschichte mit seinem Tod endet und viele traurige Momente hat, sorgt die Lektüre zuversichtlich für gute Laune. Der Klassiker für diesen Herbst. 

Mitten in einem hektischen Nachmittag kam die Todesnachricht und es ist kaum zu glauben, dass Hilary Mantel mit erst siebzig Jahren gestorben ist. Für mich ragte sie weit über ihre KollegInnen hinaus, sie hatte einfach Mut, während andere Literaten thematisch und stilistisch auf Nummer sicher bleiben..

Wer ihre politischen Essays nicht kennt, sollte sich diesen Text über die Royals und die heutige Prinzessin of Wales durchlesen:

https://www.lrb.co.uk/the-paper/v35/n04/hilary-mantel/royal-bodies (Öffnet in neuem Fenster)

Es gab ja eine Menge über das britische Königshaus zu lesen, zu sehen und zu hören und man konnte wirklich etwas lernen. Mir war völlig neu, dass seiner zur Krönung der verstorbenen Queen ein eigenes Hühnchenrezept kreiert wurde – passend zur Frugalität der Zeit ein kaltes Gericht mit wenigen Zutaten. Die Geschichte des Rezepts wäre Stoff für einen britischen Fernsehfilm: 

https://www.sudouest.fr/gastronomie/qu-est-ce-que-le-poulet-reine-elizabeth-ce-classique-culinaire-britannique-cree-pour-la-souveraine-11143457.php (Öffnet in neuem Fenster)

Aber ob das schmeckt?

https://www.bbc.co.uk/food/recipes/coronation_chicken_30402 (Öffnet in neuem Fenster)

Kopf hoch, 

ihr

Nils Minkmar

PS: Es kommen immer wieder gut gemeinte Anregungen, diesen Newsletter mit Anzeigen profitabel zu machen oder ihn unter die Fittiche einer Medienmarke schlüpfen zu lassen – aber das passt nicht so recht zur Anarchie, zur Freiheit des Sonntags. Umso mehr weiß ich es zu schätzen, wenn Menschen durch eine Mitgliedschaft die Arbeit daran finanziell unterstützen und das geht hier:

    

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