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Herbst der dummen Fragen

Die große Orientierungslosigkeit/Die Super-8-Filme der Familie Ernaux/ Le Hachis Parmentier

Der Mann hatte große Angst. Unsere morgendliche Sportstunde war vorüber, er zog sich seine in der Umkleide die dünnen Socken an und war  den Tränen nahe. Durch unsere Plaudereien wusste ich, dass mein hoch betagter Sportsfreund ein äußerst vermögender Mann ist, der seit vielen Jahren beruflich Geld anlegt. Nun fürchtete er, alles wieder zu verlieren und arm zu werden, wie früher, weil doch ein Roter nun Bundeskanzler ist. Ich konnte ihn halbwegs beruhigen, eine Revolution mit Vermögensbeschlagnahmung sei nicht geplant und wenn doch, würde ich ihm ein Zeichen geben. Immerhin konnte ich ihn amüsieren, aber wieder einmal zeigte sich die emotionale und existenzielle Dimension, die  Geld in der Volksseele hat. Und zwar nicht nur bei den vielen, die zu wenig davon haben, sondern gerade auch bei all denen, die nicht wissen, wohin damit.

Selten so eine Orientierungslosigkeit im Land erlebt, denn die nun offensichtliche Klimakrise und der grausame Überfall Russlands auf die Ukraine offenbaren schonungslos, woran es fehlt: einem Plan für eine Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung, die nicht mehr wie gewohnt wächst. Bislang war das wie beim Fahrradfahren: Bewegung und Fortschritt waren eins, sorgten für Gleichgewicht, es ging einfach immer weiter. Die Fairness der Verhältnisse wurde irgendwie unterstellt, die Zufriedenheit war hoch, weil man ja auch mehr durfte, konnte und hatte als frühere Generationen. Und nun diese kognitive Dissonanz: Die Stauseen sind leer, Brände in ganz Europa, Temperaturrekorde zum nicht mehr aushalten und  zugleich stehen die SUVs über drei Spuren im Stau auf der Autobahn, als sei nichts geschehen. Es kann einem schwindlig werden.  

Dumme Fragen stehen im Raum: Was ist Deutschland für ein Land, wenn es nicht immer reicher wird? Was, wenn die Chinesen die teuren Autos nicht mehr kaufen, wenn der Export stockt und gleichzeitig sich hierzulande niemand mehr etwas kauft, dass er nicht zum blanken Überleben braucht? Warum liegen die einen wach, weil die Konten so überzogen sind, die anderen aber, weil sie kaum noch wissen, wo sie die Kohle sicher anlegen sollen? Soll man sich nicht lieber wieder gut stellen mit den Russen, wegsehen? 

Was sind uns die Werte wert? Gibt es Sinn, Sicherheit und Verbindlichkeit auch jenseits von Arbeit, Geld und Waren?  

Wer diskutiert darüber und wo? Das Land ist voller Hochschulen und Thinktanks, aber am Abend sitzen immer dieselben in den Talkshows und improvisieren in die Kamera. Als wäre die Republik gerade aus jahrzehntelangem intellektuellen Tiefschlaf erwacht, aber noch reden nur die üblichen Schlafmützen. Denen alte Gewissheiten, nationale Selbstgespräche und Gespenster vertrauter, somit wohliger sind als die Frage, ob sie zur Gegenwart oder gar zur Zukunft passen. 

Die kommende Krise darf nicht verschwendet werden: Das Ende der fossiler Energie, ein Umbau des Sozialstaats, eine europäische Partnerschaft der Werte und eine intellektuelle und kulturelle Renaissance sind möglich – wenn wir jetzt tun, was wir längst wissen. Neue Begriffe, neue Organisationsformen und neue Verfahren werden uns einfallen und dann blicken wir auf dieses Jahr zurück und erkennen, dass alles schon anders war, nur wir noch nicht. 

Einen ganz besonderen Fernsehmoment kann man derzeit in der arte-Mediathek erleben. David Ernaux-Briot, der Sohn der Schriftstellerin Annie Ernaux, hat die alten Super 8 Filme der Familie bearbeitet und für ein großes Publikum aufbereitet. Seine Mutter hat den Kommentar dazu geschrieben und im Original auch eingesprochen, es ist der Versuch einer kollektiven Biografie anhand privater Bilder. Gefilmt hat es Philippe, der Mann der Schriftstellerin, der schon verstorben ist. Man sieht, wie er ihr Glück filmen möchte, das aber mehr und mehr entflieht. Der Kommentar macht klar, dass die Ehe am Ende unglücklich war, die Trennung eine Befreiung. Mit ihr endeten auch die Super8 Filme, denn die Söhne kamen zur Mutter, Philippe behielt die Kamera. Gegen Ende sieht man ihn, als jemand einmal ihn filmt, nur für einen Moment und da tut er einem fast leid, aber nur kurz. Zu sehen ist der Versuch einer Wahrheitsfindung, es ist große Kunst. 

https://www.arte.tv/de/videos/101402-000-A/annie-ernaux-super-8-tagebuecher/ (Öffnet in neuem Fenster)

 Es wird merklich kühler, die oben erörterten Entwicklungen lassen auch frösteln und es geht auf die Buchmesse, dann auf meinen Geburtstag zu, so daß ich wieder öfter an das Lieblingsgericht meiner Kindheit denke, hachis parmentier, ein simpler Auflauf aus Püree und Hackfleisch.  Bis heute handelt es sich um das Lieblingsgericht der meisten FranzösInnen und ist so schlicht und wirksam, dass jede und jeder es hinbekommt.

https://www.youtube.com/watch?v=lUzqiY3ChRE&t=1s (Öffnet in neuem Fenster)

PS: Zu meinem Roman Montaignes Katze durfte ich ein Gespräch mit Johannes Schröer vom Domradio führen, es war sehr angenehm. 

Nachzuhören hier:

https://www.domradio.de/audio/nils-minkmar-ueber-seinen-roman-montaignes-katze (Öffnet in neuem Fenster)

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Kopf hoch,

ihr

Nils Minkmar 

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