statt eines Literaturthemas
Liebe Leser*innen,
eigentlich veröffentliche ich (als kleinen Dank für meine Steady Abonennt*innen) ein bis zwei Mal monatlich einen Text zu verschiedenen Aspekten des Lesens. Diese Literaturthemen werden im März und April ausfallen, dafür sammle ich nachfolgend (und öffentlich für alle) eine Liste mit Büchern aus der Ukraine und über die Ukraine.
Ich glaube fest daran, dass jetzt finanzielle Spenden und aktive Hilfe, politischer Protest und journalistische Arbeit wichtiger sind als alles andere. Ich glaube aber auch daran, dass (literarische) Stimmen gehört werden müssen und uns helfen können, solch unfassbare Situationen besser zu verstehen.
Diese Titelliste ist nicht vollständig. Oben die Literatur, darunter das Sachbuch. Die Autor*innen sind alphabetisch sortiert. Bei der Inhaltsangabe handelt es sich um die Klappentexte oder Teile daraus. Die Links im Titel führen direkt zu den Verlagen. Die Auswahl ist wie immer rein meine und völlig subjektiv.
Literatur
Yevgenia Belorusets, geboren 1980, ist Fotografin, Künstlerin und Schriftstellerin. Sie lebt abwechselnd in Kiew und Berlin und beschäftigt sich mit den Schnittstellen von Kunst, Medien und Gesellschaft. Belorusets engagiert sich in einer Reihe kultureller und politischer Initiativen und schreibt aktuell ein Tagebuch aus Kiew für Spiegel Online (Öffnet in neuem Fenster).
„Glückliche Fälle“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Claudia Dathe
Matthes & Seitz Berlin, 2019, 154 Seiten, 20€
Gespräche und Begegnungen sind das Material, mit dem Yevgenia Belorusets in einer eindringlichen Sprache und mit fotografischem Blick das Bild eines Landes einfängt, in dem Krieg herrscht und die unverwüstliche Alltagsroutine zur Groteske verkommt. Sie heißen Swetlana, Lena oder Xenia. Sie arbeiten im Nagelstudio, plaudern im Café oder bereiten die Revolution vor. Das Leben von Belorusets ukrainischen Protagonistinnen geht seinen Gang, in den Städten wie auf dem Land. Nur selten, schemenhaft, schieben sie sich in die äußeren Winkel des vom Alltag ausgefüllten Blickfelds – die Bürgerwehren, die Soldaten, das Blut. Die Realität des seit Jahren in der Ostukraine schwelenden Kriegs sickert langsam, aber stetig in das Leben der Menschen, an dem uns Belorusets’ in teils hyperrealistisch detaillierten, teils traumartigen und oft absurden Szenen teilhaben lässt. So eröffnet sich das Panorama einer Gesellschaft, die den Ausnahmezustand als Normalität akzeptiert hat.
Ljubko Deresch, geboren 1984, gilt neben Jury Andruchowytsch und Serhij Zhadan als einer der prominentesten Vertreter der postsowjetischen ukrainischen Literatur. In seinen Romanen Kult und Die Anbetung der Eidechse beschreibt er das Leben in der fiktiven Karpatenstadt Midni Buky, die Kämpfe zwischen rivalisierenden Jugendgangs, Drogenexzesse und das Vordringen der westlichen Popkultur. Deresch greift also die Themen der anspruchsvollen »Popliteratur« auf, für die in Deutschland Autoren wie Rainald Goetz, Thomas Meinecke und Andreas Neumeister stehen. Allerdings kombiniert er diese Motive mit Elementen des phantastischen Romans. Viele Rezensenten sehen in ihm daher einen literarischen Erben von H.P. Lovecraft, Ambrose Bierce oder Edgar Allen Poe.
„Kult“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Juri Durkot und Sabine Stöhr
Suhrkamp, 2005, 259 Seiten, 12€
Jurko Banzai, Biologiestudent aus Lemberg, kommt als Referendar an ein College in der kleinen Karpatenstadt Midni Buky. Lebensgefährliche Experimente mit selbstgezüchteten Sporenarten liegen hinter ihm, die Neugier auf die Nachtseite der Realität ist geblieben. In seiner Dachwohnung, die er aus Geldmangel mit den Orchesternoten von Wagners Fliegendem Holländer tapezieren mußte, raucht er Wasserpfeife, hört Peter Hammill und übt sich in der Kunst des luziden Träumens, die ihn in die Bibliothek von Babel entführt.
Dmitrij Kapitelman, 1986 in Kiew geboren, kam im Alter von acht Jahren als »Kontingentflüchtling« mit seiner Familie nach Deutschland. Er studierte Politikwissenschaft und Soziologie an der Universität Leipzig und absolvierte die Deutsche Journalistenschule in München. Heute arbeitet er als freier Journalist. 2016 erschien sein erstes, erfolgreiches Buch Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters (Öffnet in neuem Fenster), für das er den Klaus-Michael Kühne-Preis gewann.
„Eine Formalie in Kiew“ (Öffnet in neuem Fenster)
Hanser Berlin, 2021, 176 Seiten, 20€
„Eine Formalie in Kiew“ ist die Geschichte einer Familie, die einst voller Hoffnung in die Fremde zog, um ein neues Leben zu beginnen, und am Ende ohne jede Heimat dasteht. Erzählt mit dem bittersüßen Humor eines Sohnes, der stoisch versucht, Deutscher zu werden.
Dmitrij Kapitelman kann besser sächseln als die Beamtin, bei der er den deutschen Pass beantragt. Nach 25 Jahren als Landsmann, dem Großteil seines Lebens. Aber der Bürokratie ist keine Formalie zu klein, wenn es um Einwanderer geht. Frau Kunze verlangt eine Apostille aus Kiew. Also reist er in seine Geburtsstadt, mit der ihn nichts mehr verbindet, außer Kindheitserinnerungen. Schön sind diese Erinnerungen, warten doch darin liebende, unfehlbare Eltern. Und schwer, denn gegenwärtig ist die Familie zerstritten.
Andrej Kurkow, geboren 1961 in St. Petersburg, lebt seit seiner Kindheit in Kiew und schreibt in russischer Sprache. Er studierte Fremdsprachen (er spricht insgesamt elf Sprachen), war Zeitungsredakteur und während des Militärdienstes Gefängniswärter. Danach wurde er Kameramann und schrieb zahlreiche Drehbücher. Sein Roman ›Picknick auf dem Eis‹ ist ein Welterfolg. Kurkow lebt als freier Schriftsteller in Kiew und arbeitet auch für Radio und Fernsehen.
„Graue Bienen“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Sabine Grebing und Johanna Marx
Diogenes, 2019, 448 Seiten, 13€
Der Bienenzüchter Sergej lebt im Donbass, wo ukrainische Kämpfer und prorussische Separatisten Tag für Tag aufeinander schießen. Er überlebt nach dem Motto: Nichts hören, nichts sehen – sich raushalten. Ihn interessiert nur das Wohlergehen seiner Bienen. Denn während der Mensch für Zerstörung sorgt, herrscht bei ihnen eine weise Ordnung. Eines Frühlings bricht er auf: Er will die Bienen dorthin bringen, wo sie in Ruhe Nektar sammeln können.
Svetlana Lavochkina ist Autorin sowie Übersetzerin ukrainischer und russischer Lyrik. Geboren und aufgewachsen in der östlichen Ukraine, lebt sie heute mit ihrer Familie in Leipzig, wo sie als Lehrerin arbeitet. Lavochkina schreibt auf Englisch, ihre Texte wurden bisher in zahlreichen Zeitschriften und Anthologien in den USA und Großbritannien veröffentlicht. 2013 wurde ihre Novelle »Dam Duchess« mit dem Pariser Literaturpreis ausgezeichnet. Der Roman »Puschkins Erben«, im Original »Zap«, stand 2015 auf der Shortlist vom Tibor Jones Pageturner Preis in London.
„Puschkins Erben“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Diana Feuerbach
Voland & Quist, 2019, 367 Seiten, 24€
Sommer 1820: Alexander Puschkin, auf dem Weg in die Verbannung, verliert beim euphorischen Bad im wilden Dnjepr bei Zaporoschje, einem langweiligen ukrainischen Nest, seinen wertvollen Türkisring und bekommt starkes Fieber. Neun Monate später gebärt die Wirtin des ihn beherbergenden Gasthauses ein Kind. 31. Dezember 1976, Zaporoschje: Die Familie Katz feiert in großer Runde Silvester, selbst die über Hemingway promovierende Alka hat den langen Weg aus Moskau auf sich genommen. Doch sie ist mal wieder enerviert ob der provinziellen Rückständigkeit ihrer Verwandten, einzig der schöne Schwarzmarktkaufmann Mark aus Odessa scheint sich abzuheben vom familiären Pöbel. Schließlich nutzt Möchtegernpoet Josik, Ehemann von Alkas Cousine Rita, die Gelegenheit, Mark seine große Entdeckung zu verkünden: Die Familie stammt vom berühmten russischen Dichter Alexander Puschkin ab!
„Die rote Herzogin“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Diana Feuerbach
Voland & Quist, 2022, 128 Seiten, 22€
Zaporoschje in der Ukraine, Ende der 1920er Jahre: Stalin will den Dnjepr-Staudamm bauen, Herzstück und Prestigeobjekt der sowjetischen Industrialisierung. Zum Bauleiter wird Chaim Katz ernannt, zur Propagandachefin seine Frau Darja, die sich nach ihrer glanzvollen Jugendzeit als Herzogin sehnt. Um ihrem Dasein wieder einen Sinn zu geben, plant die Ex-Herzogin inmitten der unheilvollen Atmosphäre von Verrat und drohenden Säuberungen einen Weihnachtsball. Lange können aber derartige konterrevolutionäre Aktivitäten nicht geheim bleiben – und Darja Katz muss dafür einen hohen Preis bezahlen. In dem Roman »Die rote Herzogin« erzählt Svetlana Lavochkina die Vorgeschichte zu ihrem viel besprochenen Roman »Puschkins Erben«. Eine groteske Parabel über Megalomanie und Menschenverachtung und ein sprachgewaltiges und sinnlich pralles Portrait der Ukraine zu Zeiten des Roten Terrors.
Tanja Maljartschuk, geboren 1983 in Iwano-Frankiwsk in der Ukraine, Schriftstellerin. Lebt in Wien. Sie debütierte 2004 mit dem Buch Endspiel Adolfo oder eine Rose für Lisa. Seither zahlreiche Veröffentlichungen, darunter Neunprozentiger Haushaltsessig (Erzählungen) und der Roman Biografie eines zufälligen Wunders. Tanja Maljartschuk gewann 2018 den Ingeborg-Bachmann-Preis.
„Von Hasen und anderen Europäern“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Claudia Dathe
edition.fotoTapeta, 2014, 256 Seiten, 19,80€
Neun Erzählungen aus Kiew, und in jeder Erzählung treffen die Bewohnerinnen auf ein Tier. Ob sie es wollen oder nicht, das Tier teilt mit ihnen das Leben in der großen Stadt. Das Buch wird zur Begegnung mit recht eigenwilligen Figuren und gleichzeitig zu einem exzentrischen Gang durch die ukrainische Hauptstadt.
Maria Matios, geboren 1959 in Rostoky in der Bukowina, lebt und arbeitet in Kiew. Sie zählt zu den bedeutendsten Gegenwartsautorinnen der Ukraine. Ihre Werke wurden in viele slawische Sprachen, aber auch ins Japanische und Chinesische übersetzt. Der Roman "Darina, die Süße" (in dt. Übersetzung bei Haymon 2013) wurde mit dem wichtigsten ukrainischen Literaturpreis, dem Schewtschenko-Preis, sowie als Buch des Jahres 2007 in der Ukraine ausgezeichnet. "Mitternachtsblüte" (in dt. Übersetzung bei Haymon 2015) war nominiert als BBC Ukraine Buch des Jahres 2013 und liegt nun erstmals auf Deutsch vor. Bei den Parlamentswahlen 2012 kandidierte Maria Matios für die Partei UDAR (Ukrainische Demokratische Allianz für Reformen) von Vitalij Klitschko. Sie nahm an den Protesten am Kiewer Majdan-Platz teil. Regelmäßig macht sie auf fehlende demokratische Strukturen und Rechtsunsicherheit in der Ukraine aufmerksam.
„Darina, die Süße“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Claudia Dathe, mit einem Nachwort von Andrej Kurkow
Haymon, 2014, 200 Seiten, 9,95€
Ein kleines Dorf im südlichen Grenzland der Ukraine: Dort lebt Darina scheinbar stumm und nicht ganz bei Verstand. Ihre aufrüttelnde Geschichte gewährt vielfältige Einblicke in ein Land, das vor großen Herausforderungen steht. Mit unverfälschter Hingabe zeichnet Maria Matios die Identitätssuche der Ukraine nach, macht die sprachlichen Trennlinien innerhalb des Landes sichtbar und nicht zuletzt die Sehnsucht der Menschen nach einem friedlichen Leben.
Katja Petrowskaja, 1970 in Kiew geboren, lebt seit 1999 in Berlin. Sie studierte in Tartu, Stanford und Moskau Literaturwissenschaft und ist als Journalistin für deutsch und russischsprachige Medien tätig. Ihr literarisches Debüt Vielleicht Esther (2014) wurde in über 30 Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Sie lebt in Tbilissi und Berlin.
„Vielleicht Esther“ (Öffnet in neuem Fenster)
Suhrkamp, 2014, 285 Seiten, 10€
Hieß sie wirklich Esther, die Großmutter des Vaters, die 1941 im besetzten Kiew allein in der Wohnung der geflohenen Familie zurückblieb? Die jiddischen Worte, die sie vertrauensvoll an die deutschen Soldaten auf der Straße richtete – wer hat sie gehört? Und als die Soldaten die Babuschka erschossen, »mit nachlässiger Routine« – wer hat am Fenster gestanden und zugeschaut?
In Kiew und Mauthausen, Warschau und Wien legt Katja Petrowskaja Fragmente eines zerbrochenen Familienmosaiks frei – Stoff für einen Epochenroman, erzählt in lapidaren Geschichten. Die Autorin schreibt von ihren Reisen zu den Schauplätzen, reflektiert über ein zersplittertes, traumatisiertes Jahrhundert und rückt Figuren ins Bild, deren Gesichter nicht mehr erkennbar sind. Ungläubigkeit, Skrupel und ein Sinn für Komik wirken in jedem Satz dieses eindringlichen Buches.
Walerjan Pidmohylnyj (1901-1937) wurde als Sohn eines Gutsverwalters im Donbas, in einem Dorf nahe der heutigen Stadt Dnipro geboren. Mit den Kindern des wohlhabenden Grundbesitzers konnte er Französisch lernen. Ob Pidmohylnyj nach seinem Schulabschluss ab 1918 am Bürgerkrieg teilnahm, wie es eine Quelle besagt, ein Hochschulstudium in Kyjiw absolvierte oder als Lehrer in seiner Heimatregion arbeitete, ist ungewiss. 1920 wurde eine erste Erzählungssammlung gedruckt, daneben übersetzte er französische Autoren wie Anatole France und Guy de Maupassant ins Ukrainische. 1922 nahm Pidmohylnyj eine Lehrerstelle in Kyjiw an und arbeitete als Redakteur bei einer ukrainischen Kulturzeitschrift. In den 1930er-Jahren konnte er nicht publizieren, er verlor seinen Redakteursposten, siedelte in die damalige Hauptstadt Charkiw um und wurde mehrfach inhaftiert und gefoltert. 1935 wurde er wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu Lagerhaft auf den Solowezki-Inseln verurteilt, wo er 1937 durch Erschießung hingerichtet wurde. Erst ab 1991 konnten seine Werke wieder gedruckt werden.
„Die Stadt“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Alexander Kratochvil, Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok, mit einem Nachwort von Alexander Kratochvil, Lina Zalitok und Susanne Frank
Guggolz, 2022, 413 Seiten, 26€
Walerjan Pidmohylnyj hat mit »Die Stadt« 1928 einen Roman geschaffen, der von der psychologischen Prosa des französischen Naturalismus, die Pidmohylnyj selbst ins Ukrainische übersetzt hat, inspiriert ist und zum Kernbestand der ukrainischen literarischen Moderne gehört. Der Existenzialismus blitzt schon durch die Zeilen, die sanft ironische Erzählweise schlägt immer wieder in bissigen Spott um - und dennoch vermag Pidmohylnyj es auf atemberaubende Weise, von den sozialen und gesellschaftlichen Verwerfungen der Zeit nicht nur zu berichten, sondern sie uns erzählerisch vor Augen zu führen und begreifbar zu machen. Stepan, dessen Weg wir lesend miterleben, kommt voller Erwartungen und mit großen Zielen in die Metropole Kyjiw, wo er ein Studium beginnen und dabei mithelfen möchte, den Sozialismus aufzubauen.
Die Stadt und ihre Bewohner faszinieren ihn, stoßen ihn aber gleichzeitig auch ab und genügen seinen überzogenen Ansprüchen nicht. Vor allem aber stürzen sie ihn in chaotische Verhältnisse und machen seine hehren Pläne zunichte: Als Stepan dann auch noch Feuer für die Schriftstellerei fängt, kommt er endgültig vom Kurs ab. Alexander Kratochvil hat in Zusammenarbeit mit Lukas Joura, Jakob Wunderwald und Lina Zalitok die abgründig schillernde Erzählung in ein elegant doppelbödiges Deutsch gebracht, mit einer Vielzahl an geschliffenen Formulierungen und zugespitzten Dialogen. »Die Stadt«, dieses Meisterwerk der ukrainischen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, fügt der vielstimmigen europäischen Moderne eine hierzulande bisher unbekannte weitere Facette hinzu.
Joseph Roth, geboren 1894 in Brody, Ostgalizien, gestorben 1939 im Pariser Exil, wurde mit den Romanen „Hiob“ (1930) und „Radetzkymarsch“ (1932) zu einem Klassiker der Weltliteratur des 20. Jahrhunderts. Auf seinen Expeditionen nach Kiew, Moskau und Odessa, nach Lemberg, Baku oder Astrachan taucht der in Galizien geborene Schriftsteller und Journalist Joseph Roth in den vielgestaltigen Kosmos des östlichen Europa ein. Seine Berichte und Essays aus den 1920er Jahren sind bewegende Zeugnisse von großer Aktualität!
„Reisen in die Ukraine und nach Russland“ (Öffnet in neuem Fenster)
Beck Verlag, 2015, 136 Seiten, 14,95€
hrsg. und mit einem Nachwort von Jan Bürger
Die Aufmerksamkeit von Joseph Roth gilt den Menschen und ihrer Lebenswirklichkeit in der Sowjetunion, die von einem Nebeneinander an Sprachen, Kulturen und Religionen geprägt ist. Ob im Alltagstrubel auf den Straßen von Leningrad, am Grenzübergang von Niegoreloje oder an Bord eines Wolga-Dampfers: Stets bestechen Roths Schilderungen durch fundierte Recherchen und seinen besonderen Stil. Dabei entwirft er spannungsreiche Bilder gesellschaftlicher Realitäten zwischen den gegensätzlichen Polen von Staat und Kirche, Diktatur und Pressefreiheit, Armut und Reichtum. Und zeigt damit gleichzeitig, wie er, der heimatlos Gewordene, sich reisend, schreibend und kritisch sondierend ein Stück Heimat zurückerobert.
Oksana Sabuschko, geboren 1960 in der Ukraine, steht für den intellektuellen und künstlerischen Aufbruch ihres Landes. Ihre Arbeiten umfassen Lyrik, Prosa, Essays und wissenschaftliche Studien. Ihre Prosawerke und Essays gehören zu den meistgelesenen und intellektuell einflussreichsten Büchern der Ukraine und Ostmitteleuropas mit zahlreichen Übersetzungen und Auszeichnungen. Die amerikanische Übersetzung ihrer Kurzprosa wird von der New York Times zu den 100 besten Büchern des Jahres 2020 gezählt.
„Schwestern“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Alexander Kratochvil
Klak Verlag, 2020, 244 Seiten, 16,90€
"Nun, ich bin auch Europäerin. Schlimmer noch, Osteuropäerin, ein Kind der ,Bloodlands', um die Formulierung von Timothy Snyder zu verwenden. Ich denke, das erklärt viel." Oksana Sabuschko
Intensive Beziehungen zwischen Schwestern oder Mädchen sind das Leitthema der in "Schwestern" miteinander verflochtenen Erzählungen. Gleichzeitig zeichnet diese Sammlung persönliche und politische Narrative der Ukraine nach. Das Mädchen Daryna, Protagonistin der ersten beiden Erzählungen, wächst in der sowjetischen Unterdrückung auf. In "Schwester, Schwester" wird aus der Perspektive eines ungeborenen Kindes über die Tragik nicht-realisierter Lebensmöglichkeiten reflektiert. Ihre Schwester erzählt in "Die Mädchen" über sexuelle Erfahrungen und verknüpft damit Genderfragen und soziale Rollenbildern in der sowjetischen und postsowjetischen Ukraine. Von einem Volksmärchen inspiriert ist "Die Schneeballflöte". Eine solche wird zur Stimme der Gerechtigkeit in den seelischen Abgründen zweier Schwestern und verwirft dabei das Stereotyp von Schuld und Sühne. In "Ich. Milena" löst sich die Identität einer zunehmend schizophrenen Fernsehmoderatorin in einem medialen Hyperraum auf.
Oksana Sabuschko, die wichtigste ukrainische Autorin der Gegenwart, schreibt mit frappierender Offenheit aus einer alltäglichen Realität, die "zu viel Geschichte für einen Quadratmeter" enthält. Vielseitig in Stil und Blickwinkeln bietet sie einen unterhaltsamen und anspruchsvollen Lesegenuss.
Oleksij Tschupa wurde 1986 im ostukrainischen Makijiwka geboren – der Ort liegt heute in der nicht anerkannten "Volksrepublik Donezk". Er studierte an der Universität Donezk ukrainische Philologie und hat seit 2014 zahlreiche Romane veröffentlicht. Als Autor setzt sich Oleksij Tschupa mit der Identität und den sozialen Verwerfungen des Donbas auseinander und wendet sich dabei intensiv der Geschichte der Sowjetunion und der ersten Jahre der ukrainischen Unabhängigkeit zu. Heute lebt er in Letytschiw in der Zentralukraine. Mit "Märchen aus meinem Luftschutzkeller" erschien 2019 erstmals ein Werk des Autors auf Deutsch.
„Märchen aus meinem Luftschutzkeller“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Claudia Dathe
Haymon, 2019, 208 Seiten, 19,90€
Ein brütend heißer Juli im ostukrainischen Makijiwka – und ein Haus, das es in sich hat: Im Erdgeschoss feiern die durchgeknallte Lebefrau Viraund ihre mit Schrotflinten und Wodka bewaffneten Bodyguards apokalyptische Feten. Ein paar Türen weiter schmieden zwei expansionswütige Business-Profis Pläne, um den Obst- und Gemüsemarkt der Region an sich zu reißen. Zwei Stockwerke höher leben Olga, die sich für eine Nachfahrin des französischen Königshauses hält, und Firman, der sämtliche Lenin-Denkmäler der Stadt zu Fall bringen will. Dann ist da noch der junge Mann aus der berüchtigten Spezialeinheit Berkut, der sich bei einem Einsatz in eine Demonstrantin verliebt. Und was hat es eigentlich mit der Gruselwohnungauf sich, in der es spuken soll? Exzentrische Hedonisten und Kleinganoven, einsame Existenzen und widerspenstige Underdogs – Oleksij Tschupa versammelt in seinem Roman eine anarchische Hausgemeinschaft, deren Schicksale fesseln und aufwühlen. Mit farbenprächtiger und virtuoser Sprache und feinem Gespür für das Tragikomische und die Absurditäten des menschlichen Daseins schafft der junge ukrainische Schriftsteller eine elektrisierende Atmosphäre, in der alles möglich zu sein scheint.
Serhij Zhadan, 1974 im Gebiet Luhansk/Ostukraine geboren, studierte Germanistik, promovierte über den ukrainischen Futurismus und gehört seit 1991 zu den prägenden Figuren der jungen Szene in Charkiw. Er debütierte als 17-Jähriger und publizierte zwölf Gedichtbände und sieben Prosawerke. Für Die Erfindung des Jazz im Donbasswurde er mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis und mit dem Brücke-Berlin-Preis 2014 ausgezeichnet (zusammen mit Juri Durkot und Sabine Stöhr). Die BBC kürte das Werk zum »Buch des Jahrzehnts«. Zhadan lebt in Charkiw.
„Internat“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Juri Durkot und Sabine Stöhr
Suhrkamp, 2018, 300 Seiten, 22€
In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert Serhij Zhadan, wie sich die vertraute Umgebung in ein unheimliches Territorium verwandelt. Mindestens so eindrucksvoll ist seine Kunst, von trotzigen Menschen zu erzählen, die der Angst und Zerstörung ihre Selbstbehauptung und ihr Verantwortungsgefühl entgegensetzen. Seine Auseinandersetzung mit dem Krieg im Donbass findet mit seinem Roman Internat ihren vorläufigen Höhepunkt.
Ein junger Lehrer will seinen 13-jährigen Neffen aus dem Internat am anderen Ende der Stadt nach Hause holen. Die Schule, in der seine berufstätige Schwester ihren Sohn »geparkt« hat, ist unter Beschuss geraten und bietet keine Sicherheit mehr. Durch den Ort zu kommen, in dem das zivile Leben zusammengebrochen ist, dauert einen ganzen Tag.
Der Heimweg wird zur Prüfung. Die beiden geraten in die unmittelbare Nähe der Kampfhandlungen, ohne mehr sehen zu können als den milchigen Nebel, in dem gelbe Feuer blitzen. Maschinengewehre rattern, Minen explodieren, öfter als am Tag zuvor. Paramilitärische Trupps, herrenlose Hunde tauchen in den Trümmern auf, apathische Menschen stolpern orientierungslos durch eine apokalyptische urbane Landschaft.
Sachbuch
Stanislaw Assejew, geboren 1989 in Donezk, Schriftsteller und Journalist. Von 2015 bis 2017 schrieb er unter Pseudonym für verschiedene ukrainische Medien aus dem besetzten Osten der Ukraine. Im Juni 2017 verschwand er spurlos. Erst später wurde offiziell bestätigt, dass er von Kämpfern der sogenannten Volksrepublik Donezk verschleppt worden war. Erst nach zahlreichen internationalen Protesten kam Assejew im Dezember 2019 im Zuge eines Gefangenenaustausches frei. Er hatte 962 Tage in Isolation verbracht. Der Autor lebt jetzt in Kyjiw.
„In Isolation“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Claudia Dathe und Sofiya Onufriv
edition.fotoTapeta, 2020, 224 Seiten, 15€
Ein fast vergessener Krieg im Osten der Ukraine: Stanislaw Assejew ist Journalist und Augenzeuge, der in seinen Texten festhält, was vor sich geht im Donbass, in diesem Teil Europas, in dieser Gegend, die Russland und seine Freunde vor Ort gern als das „märchenhafte Neurussland“ bezeichnen und aus der sie Pseudo-Republiken gemacht haben, die mit der Ukraine nichts mehr zu haben wollen. Den Autor treibt die Frage um: „Wie konnte es zu dieser Eskalation kommen?“, und er beschreibt und reflektiert das Leben der Menschen im Krieg, ihr Verhalten, ihre Einstellungen. Diese Texte haben ihn ins Gefängnis gebracht. Sie erscheinen jetzt mit Unterstützung des PEN Zentrums der Ukraine zum ersten Mal auf Deutsch.
Nataliya Gumenyuk ist Autorin, Dokumentarfilmerin und Journalistin mit dem Schwerpunkt Konfliktberichterstattung. Seit dem Euromaidan und Beginn des Krieges in der Ukraine 2014 berichtet sie über die Ereignisse im Donezbecken und reist als eine von wenigen Reportern regelmäßig auf die besetzte Krim. Gumenyuk war 2013 Mitgründerin und bis 2020 Sonderberichterstatterin des ukrainischen Internet-Fernsehsenders Hromadske TV. Sie hat in über 60 Ländern gearbeitet und ist die Autorin des 2015 in der Ukraine erschienenen Buches Der Tahrir-Platz. Auf der Suche nach einer verlorenen Revolution über den Arabischen Frühling. Gegenwärtig leitet sie das Public Interest Journalism Lab, welches auf die Popularisierung eines Journalismus im Dienste der Öffentlichkeit sowie die Überwindung gesellschaftlicher Polarisierung hinarbeitet.
„Die verlorene Insel“ (Öffnet in neuem Fenster)
übersetzt von Johann Zajaczkowski, Dario Planert und Simon Muschick
ibidem Verlag, 2020, 260 Seiten, 24,90€
Die verlorene Insel ist eine Sammlung faszinierender Reportagen von der besetzten Krim, die die namhafte ukrainische Journalistin Nataliya Gumenyuk im Zeitraum von 2014 bis 2019 bereist hat. Das Buch erzählt die wahren Geschichten und Tragödien der Menschen und ihrer Lebensumstände, die sich seit 2014 grundlegend verändert haben. Seitdem leben die einen Bewohner der Krim unter Besatzung, die anderen schlicht in einem anderen Land. Doch wie sieht ihre Lebenswirklichkeit aus? Unternehmer und Rentner, Krimtataren, Studenten und Aktivisten, Menschenrechtler und Militärangehörige, Menschen mit unterschiedlichen politischen und ideologischen Ansichten – sie alle erzählen offen ihre Geschichten: Einige versuchen, ihrem stillen, dumpfen Schmerz Worte zu verleihen, andere haben genug vom Schweigen und der Angst. Dieses Buch ist die Stimme der annektierten Krim – in einer beeindruckenden Vielstimmigkeit von Einzelschicksalen, die zu einer einzigen großen und gemeinsamen Erzählung verschmelzen, die noch nicht abgeschlossen ist.
Karl Schlögel, geboren 1948, hat an der Freien Universität Berlin, in Moskau und Sankt Petersburg Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert. Er war bis 2013 Professor für Osteuropäische Geschichte an der Europa Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 1990 erhielt er den Europäischen Essaypreis Charles Villon, 1999 den Anna-Krüger-Preis des Wissenschaftskollegs zu Berlin sowie 2005 den Hamburger Lessing-Preis. 2018 wurde er in die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung gewählt.
„Entscheidung in Kiew“ (Öffnet in neuem Fenster)
S. Fischer, 2017, 304 Seiten, 15€
Karl Schlögel beweist mit dem Titel ›Entscheidung in Kiew: Ukrainische Lektionen‹ erneut, dass er der Kenner Osteuropas und seit vielen Jahren in der Ukraine unterwegs ist. Er zeigt uns, dass man auf die Städte der Ukraine schauen muss, wenn man wirklich wissen will, was in Europa gerade passiert. Darunter zählen unter anderem Lemberg, Odessa, Czernowitz, Kiew, Charkiw und Donezk. All diese Namen stehen für einst blühende Städte, für eine Kultur von eigenem Rang. Doch mit dem Krieg ist eine Kontroverse über die politische und kulturelle Eigenständigkeit des Landes und seiner Städte ausgebrochen. Selbst in der unruhigen jüngsten Zeit hat Schlögel Reisen in die kulturell vielfältige Ukraine unternommen. Er führt mit seinen Städtebildern dem Leser vor Augen, was gar nicht fern von uns auf dem Spiel steht.