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TEXTE VOM VORHANDENSEIN

TEIL 16: VOM BETEN

„Ich benutze manchmal die beiden Wörter ‚beten‘ und ‚dichten‘ synonym, als sagten sie das Gleiche, so ein Versuch des Selbstausdrucks, auch des ausgedrückten Schmerzes.

-Dorothee Sölle

Eine Zeitlang habe ich mich immer unwohl gefühlt, wenn ich zu frommen Veranstaltungen eingeladen war und vor oder nach einem Auftritt im Interview zu meinem Gebetsleben befragt wurde. Ich verstehe natürlich, warum man so etwas fragt. Im besten Fall erhofft sich der Fragestellende davon Inspiration für seine eigene spirituelle Praxis. Und im schlimmsten steckt da vielleicht auch ein wenig der Wunsch dahinter abzuklopfen, wie weit es denn mit der privaten Frömmigkeit desjenigen bestellt ist, der da gerade vor vielen Menschen auf einer Bühne steht und über Gott und Glaubensthemen redet. Vielleicht auch so eine Art Selbstvergewisserung, dass wir irgendwie zum selben Team gehören. Warum war mir das oft unangenehm? Zum einen, weil ich diese skizzierten Motivationen für nicht besonders erstrebenswert halte und davon höchstens der ersten noch ein wenig abgewinnen kann. Aber selbst da, ist mir die Frage eigentlich zu persönlich und intim, als dass ich sie gerne auf einer Bühne beantworten würde. Und zum anderen, und das war der weitaus gewichtigere Grund, weil ich mir selbst gar nicht sicher war, was ich darauf antworten soll. Weil ich keine feste Gebetspraxis hatte. Keine festgelegte Tageszeit, keine besonderen Rituale, oder vorformulierte Worte, auf die ich gerne zurückgreife, kein besonderer Ort, kein Tischgebet. Hätte man mich ganz allgemein gefragt, ob ich hin und wieder bete und ob ich das grundsätzlich für eine schöne und hilfreiche Idee halte, hätte ich wiederum sofort ja gesagt. Nur eben nie so, dass ich daraus eine Form oder gar einen Tipp für andere hätte ableiten können. Und oft genug stellten sich dann direkt auch wieder Scham udn ein schlechtes Gewissen ein. Bete ich überhaupt noch? Bete ich genug? Und wieviel ist denn eigentlich genug?

Heute sehe ich das wesentlich entspannter. Ich bin irgendwann darauf gekommen, dass ich den Begriff “Gebet” einfach viel zu eng und klein betrachtet habe. In meiner Vorstellung war das einfach immer das konkrete Händefalten und Worte sprechen und am Ende “Amen” sagen. Mir wurde klar, dass mein Schreiben, mein künstlerischer Ausdruck meine primäre Gebetsform ist. In meinem Schreiben verarbeite und reflektiere ich meine Sorgen und Ängste, meine Freundschaften und Beziehungen, mein Hoffen und mein Zweifeln. Manche Texte haben dann auch soetwas wie eine Gebetsform. Es gibt sogar ein “Du”, das man wohl Gott nennen könnte. Bei dem Text “Damn Good Coffee” (Öffnet in neuem Fenster) ist das zum Beispiel ganz eindeutig so. Bei der Mehrzahl meiner Gedichte ist das aber überhaupt nicht so. Trotzdem halte ich einen Text über Freundschaft genauso für (m)ein Gebet, wie ein Liebesgedicht für Kaffee und ein politisches Stück gleichermaßen wie ein Gedicht über Sexualität und Körperlichkeit.

Wenn ich darüber nachdenke, was Gebet ist und was ein Gedicht ist, wofür beide da sind und wie sie “funktionieren”, komme ich für mich zu dem Schluß, dass ich sie nicht getrennt betrachten kann, obwohl sie natürlich nicht dasselbe sind. Ein Gebet ist nicht zwangsläufig immer ein Gedicht. Umgekehrt glaube ich aber, dass alle meine Gedichte irgendwie Gebete sind, auch wenn in ihnen nicht explizit von Gott oder zu Gott gesprochen wird. Dorothee Sölle, von der das Eingangszitat stammt, hat weiter gesagt:

“Es geht mir oft so, wenn ich Meldungen lese in der Zeitung oder in Briefen, die Leute mir schreiben, Meldungen des Entsetzens, etwas Grauenvolles, dann ist es manchmal so, als könnte ich nicht atmen. Und dann hab ich das Bedürfnis, irgendetwas damit zu tun, aber manchmal denke ich auch, ich will es Gott erzählen und deswegen schreib ich es auf, damit er es endlich mal hört.“

Ich mag diesen Gedanken, dass ich durch und in meinem Schreiben, Gott ein bisschen davon erzähle, was mich gerade umtreibt und was aus meiner kleinen Perspektive aus los ist auf diesem Planet. Was schön ist und was schief läuft.

Ein Gedicht ist wie das Gebet auch eine Art Achtsamkeitsübung. Beide verwenden Worte. Und bei beiden ist es spannend zu sehen, was zwischen den Worten, in der Stille, in den Leerstellen zwischen zwei Zeilen, geschieht. Beide finden Verwendung für Verzweiflung. Beide verweben Erfahrung mit Sprache. Beiden ist es nicht fremd die Sprache dabei zu biegen, wenn alle bekannten Vokabeln nicht mehr reichen, um auszudrücken, was man meint. Beide haben das Potenzial Menschen Worte zu geben in Zeiten und für Situationen, wo ihnen die eigenen Worte fehlen. Beide wollen nicht die Welt erklären, sondern menschlisches Empfinden ausdrücken. Beiden wohnt die Hoffnung inne, auf einen Zuhörer zu treffen und nicht ungehört an der Decke zu verhallen. Beide kennen Einsamkeit. Schreiben und beten tue ich meistens allein. Aber beide entwickeln eine ganz neue Dimension, wenn sie in Gemeinschaft geteilt und erlebt werden. Ein Gebet, eine Fürbitte, die eine ganze Glaubensgemeinschaft gleichzeitig gemeinsam spricht und das Flirren in einem Raum, wenn ein Gedicht vor Menschen laut gesprochen wird und Zuhörende findet.

Da lassen sich also schon beim oberflächlichen Nachdenken sehr viele Parallelen finden. Nicht dass man die bräuchte, um den Gedanken zu rechtfertigen. Ich schreibe sie auf, weil ich es schön finde diese Parallelen zu entdecken und wahrzunehmen. Der Gedanke ist da natürlich auch nicht, diese Form des Gebets nun allen anderen nahezulegen. Die Spur scheint mir eher zu sein, den Begriff viel weiter zu fassen und allen alltäglichen Tätigkeiten das Potenzial einzuräumen Gebet zu sein. Oder zu werden. Mit und ohne Worte.

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Ich möchte Dir gerne ein Buch vorstellen, an dem ich mitschreiben durfte. Von den Perlen des Glaubens bis zu christlichem Yoga, von Bibelatmen bis Ikonenmalerei: Das Christentum hat einen großen Reichtum an Gebets-, Glaubens- und Achtsamkeitspraktiken, die darauf warten (neu) entdeckt zu werden. Dieses Buch ist ein Reiseführer durch die Welt der christlichen Spiritualität. Kurz und knapp stellt es 40 Dinge vor und inspiriert mit praktischen Tipps dazu, andere Zugänge auszuprobieren. Ein Buch, das zeigt: Glaube und Spiritualität ist so viel vielseitiger als der Besuch eines traditionellen Gottesdienstes mit starrer Liturgie und alten Kirchenbänken. Probier es einfach aus! Keines der Dinge, die du hier findest, braucht Vorwissen, den Glauben an Gott, Kenntnisse in der Verteidigung gegen die dunklen Künste oder andere spirituelle Skills. Sie sind einfach anzuwenden und können dir Aha- und Wow-Effekte schenken – müssen es aber nicht.

Ich durfte einiges zu dem Bereich Kreativität und Sprache beitragen. Teilweise Übungen, die ich auch gerne in meinen Workshops mit den Teilnehmenden ausprobiere.

https://store.ruach.jetzt/produkt/40-dinge-die-du-ausprobieren-musst-bevor-du-aufhoerst-zu-glauben/ (Öffnet in neuem Fenster)

Und in der letzten Hossa Talk- Folge habe ich mich mit Jay ganz ausgiebig über Hoffnung unterhalten und über die Frage, was wir überhaupt hoffen können und wollen. Hör gerne mal rein.

https://hossa-talk.de/229-was-wollen-wir-hoffen/ (Öffnet in neuem Fenster)

MEIN NEUES BUCH

Hier kannst Du das Buch direkt bei mir bestellen. Wenn du magst auch mit Widmung. Wie auch schon der Vorgänger, erscheint es im wundervollen Lektora Verlag. Ich freue mich sehr, wenn ich diese Wegstrecke und diese Spurensuche mit Dir teilen darf:

https://store.ruach.jetzt/produkt/wir-werden-alle-verwandelt-werden-marco-michalzik-buch/ (Öffnet in neuem Fenster)

Liebe Grüße und bleib neugierig

Marco

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