“Hier kann ich ganz ich selbst sein” - über Authentizität bei der Arbeit

Bei Diskussionen über Authentizität bei der Arbeit scheiden sich die Geister. Einige sind total begeistert und feiern Authentizität als einen wichtigen Baustein neuer, humaner und erfolgreicherer Formen der Zusammenarbeit. Andere sind eher abgeschreckt und meinen „Ich will aber doch kein:e Therapeut:in für meine Kolleg:innen sein“.
Mein Eindruck ist: Die großen Meinungsunterschiede basieren auf unterschiedlichen Verständnissen über das Wesen der Authentizität. Ich selbst bin ehrlich gesagt die Erste, die davonläuft, wenn mit Authentizität gemeint ist, dass ein Kollege mir zu jeder Zeit ungefiltert alles erzählt, was emotional in ihm vorgeht. Aber laut Authentizitätsforschung ist das auch kein hilfreiches Verständnis von Authentizität. Die Forschung macht ein anderes, spannendes Definitionsangebot.
In diesem Artikel möchte ich dich mitnehmen in die spannende Welt der Authentizitätsforschung: Wie Authentizität definiert wird, welche positive Wirkung sie auf Zusammenarbeit haben kann und was sie stärkt.
Was ist Authentizität?
Authentizität meint das „ganz ich selbst sein“. Aber was ist das Selbst? Die Soziologen Gerth und Mills schreiben: „Die Frage, was wirklich hinter all den Bildern des Selbst […] liegt und was das Individuum wirklich ist, ist ohne Frage eines der größten menschlichen Rätsel“ (1970, S.85). Auf wissenschaftstheoretischer Ebene stehen sich hier Essentialismus und Konstruktivismus gegenüber. Essentialistisch ist das Selbst eine tatsächliche, statische Gegebenheit. Konstruktivistisch betrachtet gibt es das Selbst nicht.
Klingt nicht einfach. Aber aus Psychologie und Soziologie gibt es hilfreiche Vorschläge, um die beiden Perspektiven zusammenzubringen. Der Tenor ist, dass das Selbst zwar existiert, aber nichts Statisches ist. Es gibt kein „eigentliches, unveräußerliches, in den verschiedenen Lebenslagen sich durchhaltendes Ich“ (Keupp et al., 2002, S. 20). Vielmehr ist das Selbst komplex, veränderlich und oft inkonsistent (Erickson, 1995). Es ist prozesshaft, immer im Werden und besteht aus den momentanen inneren Zuständen, Gefühlen, Gedanken, Einstellungen, Bedürfnissen, Werten etc. (Rogers, 1961; 1981).
Somit hätten wir eine Antwort für das Selbst. Wie beschreiben wir darauf basierend nun Authentizität? Aus der empirischen Authentizitätsforschung (u.a. Kernis & Goldman, 2006; Wood et al., 2008) lässt sich folgender Vorschlag ableiten:
Authentizität besteht aus
Selbst-Wahrnehmung = Wissen über eigene, momentane körperliche Zustände, Gefühle, Wünsche, Gedanken, Motive
Authentischer Selbstausdruck = Handeln in Übereinstimmung mit momentanen körperlichen Zuständen, Gefühlen, Wünschen, Gedanken, Motiven
Laut dieser Ableitung ist der erste Schritt zur Authentizität die Selbst-Kenntnis über den momentanen Zustand . Ohne einen guten Selbstkontakt ist es demnach kaum möglich, sich authentisch auszudrücken. Und wir sehen im zweiten Schritt, dass es bei Authentizität nicht darum geht, jedem alles von sich preiszugeben. Vielmehr geht es um ein Gefühl der Stimmigkeit, ein Gefühl des sich treu zu sein. Das kann auch bedeuten, etwas nicht mitteilen zu wollen. Es kann auch bedeuten, auf eine Art zu handeln, die für andere nicht nachvollziehbar ist, aber für dich selbst in Übereinstimmung ist mit deinem eigenen inneren Erleben.
Ich finde, das klingt zwar gut, aber nicht einfach zu erreichen. Aber vielleicht ist es auch nicht nötig. Der große humanistische Psychologe Carl Rogers schreibt dazu:
„das ganze Selbst in jedem Augenblick zu sein mit aller Reichhaltigkeit und Komplexität mit völliger Offenheit und ohne eine Spur von Angst […], [ist] schwer und in einem absoluten Sinne unmöglich zu erreichen“ (1942, S. 173)
Welche Wirkung hat Authentizität bei der Arbeit?
Hohes individuelles Authentizitätserleben auf der Arbeit hat sehr viel positive Wirkung auf die Arbeit. Es steht im Zusammenhang mit
Individueller Leistung (u.a. Abbott, 2016 & Cable et al., 2013)
Teamproduktivität (Hannah, Walumba & Fry, 2011),
Arbeitsengagement (u.a. Metin et al., 2016 & van den Bosch & Taris, 2013)
Arbeitszufriedenheit (u.a. Lopez & Ramos, 2015 & Calbe et al., 2013)
Kund:innenzufriedenheit (Cable et al., 2013)
Mitarbeitendenbindung (Cable et al., 2013; van den Bosch & Taris, 2014)
weniger Stress (Lopez & Ramos, 2015)
mehr Wohlbefinden (Menard & Brunet, 2011, Wood et al., 2008)
Es gibt also viele gute Gründe, um sich anzuschauen, was sich für mehr Authentizität bei der Arbeit tun lässt.
Was stärkt Authentizität bei der Arbeit?
Die Studienlage zu der Frage, wie sich Authentizität bei der Arbeit stärken lässt, ist relativ dünn. Ich persönlich sehe für den ersten Punkt – Selbst-Wahrnehmung – aber viele praktische Möglichkeiten, die eigene, wertungsfreie Selbst-Kenntnis zu stärken. Zum Beispiel finde ich Achtsamkeitskurse gut, da diese auf die wertungsfreie Wahrnehmung des Selbst zielen. Auch Kurse in Gewaltfreier Kommunikation können hilfreich sein, um die eigenen Gefühle und Bedürfnisse zu erkunden. Ebenso können bestimmte 1:1 Coachings oder auch Meditation den Kontakt mit deinem Inneren stärken. Hier kann jede:r für sich selbst das finden, was zu ihr passt.
Kommen wir nun zum authentischen Selbstausdruck. Zu der Frage, wie dieser sich stärken lässt, habe ich vor einigen Jahren eine sehr (!) kleine, explorative Studie durchgeführt. Die Ergebnisse sind nicht als “die Wahrheit” zu sehen, aber ich finde sie zur Reflexion recht interessant. Hier sind die fünf Punkte, die sich für mich herauskristallisiert haben:
1) Akzeptanz von Unterschieden
Es geht um das Gefühl, akzeptiert zu werden. Dies drückt sich zum Einen darin aus, dass Unterschiedlichkeit wertgeschätzt und ihr Ausdruck akzeptiert wird. Zum anderen geht es um eine Kultur, in der Mitarbeiter:innen in ihren Fähigkeiten gesehen werden, in der Schwächen und Fehler als normal akzeptiert und Kritik konstruktiv und wertschätzend formuliert wird.
2) Persönlicher Kontakt zu Kolleg:innen
Beim Einstieg in eine neue Organisation kann es schwieriger sein, man selbst zu sein, da man die Kolleg:innen noch nicht so gut kennt. Je schneller man Anschluss findet und je mehr die Kolleg:innen sich von ihrer persönlichen Seite zeigen, desto eher kann man auch mehr von sich selbst zeigen.
3) Ehrlichkeit und Transparenz
Ein ehrliches und transparentes Verhalten von Kolleg:innen in der Zusammenarbeit ist förderlich. Weniger dienlich ist, wenn eine Kultur herrscht, die politisch motiviertes Verhalten fördert und in der Kolleg:innen sich gegenseitig nicht die Motive ihres Handelns offenlegen.
4) Starre Hierarchien als Hindernis
Starre Hierarchien sind potenzielle Hindernisse. Je höher die wahrgenommene Distanz zur hierarchisch höher gestellten Person, desto schwieriger ist es, sich authentisch zu zeigen. Diese wahrgenommene Distanz kann je größer sein, je größer der Abstand in der Hierarchie ist, muss es aber nicht. Dies ist abhängig davon, wie die jeweilige Führungskraft ihre Rolle ausfüllt. Je nahbarer die Führungskraft sich gibt, desto eher können Mitarbeiter:innen in ihrer Gegenwart authentisch sein. Eine andere Möglichkeit, diese starren Hierarchien abzubauen, sind selbst-geführte Teams.
5) Kleidungsvorschriften
Für einige Menschen kann formale oder auch informelle Kleidungsvorschrift behindern, sie selbst sein zu können.
Insgesamt lässt sich viel tun, um Raum für Authentizität bei der Arbeit zu schaffen. Gleichzeitig kann auch unsere individuelle Vergangenheit dem authentischen Selbstausdruck im Weg stehen. Gerade schwierige Erfahrungen aus unserer Kindheit/Jugend (Entwicklungstrauma) können dazu führen, dass wir uns grundsätzlich nicht sicher fühlen, uns selbst zu zeigen.
Trotzdem denke ich, lohnt es sich, an einer Arbeitskultur zu arbeiten, die es Menschen einfacher macht, sich authentisch zu zeigen. Ein Konzept, das zusätzlich zu den oben genannten Punkten hilfreich sein kann, ist das sog. Teamklima psychologischer Sicherheit. Les dir dazu gerne meinen Artikel „Psychologische Sicherheit verstehen und stärken (Öffnet in neuem Fenster)“ durch.
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Herzliche Grüße aus Dresden
Lyn
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(Photo von Brooke Cagle auf Unsplash)
Über Lyn von der Laden
Als Coach und Beraterin für Zusammenarbeit (Öffnet in neuem Fenster) begleite ich Teams und Organisationen, ihre Zusammenarbeit wirksam, anpassungsfähig und freudvoll zu gestalten.
Außerdem schreibe ich auf Steady regelmäßig über meine Herzensthemen, z.B. über Selbstorganisation, psychologische Sicherheit oder die Bedeutung des Nervensystems für wirkungsvolle Teamarbeit.
Quellen
Abbott, M. (2016). Authenticity at Work from a Person-Environment Fit Perspective. Christchurch: University of Canterbury. Online verfügbar unter: https://ir.canterbury.ac.nz/handle/10092/13356 (Öffnet in neuem Fenster) [24.06.2018]
Cable, D. M., Gino, F. & Staats, B. R. (2013). Breaking Them in or Eliciting Their Best? Reframing Socialization around Newcomers’ Authentic Self-expression. Administrative Science Quarterly, 58 (1), 1–36.
Erickson, R. J. (1995). The importance of authenticity for our self and society. Symbolic Interaction,18 (2), 121 – 144.
Gerth, H. & Mills, C. W. (1970). Person und Gesellschaft. Frankfurt am Main: Athenäum.
Hannah, S. T., Walumba, F. O. & Fry, L. W. (2011). Leadership in action teams. Team leader
and members’ authenticity, authenticity strength, and team outcomes. Personnel Psychology, 64, 771 – 802.
Kernis, M. H & Goldman, B. M. (2006). A multicomponent conceptualization of authenticity:
Theory and research. Advances in experimental social psychology, 38, 283 – 357.
Keupp, H., Ahbe, T., Gmür, W. et al. (2002). Identitätskonstruktionen. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Hamburg: Rowohlt.
Lopez, F. G. & Ramos, K. (2016). Predicting well-being in managers: Test of a positive psychology model. The Journal of Positive Psychology, 11 (4), 378-387.
Menard, J. & Brunet, L. (2011). Authenticity and well-being in the workplace: A mediation model. Journal of Managerial Psychology, 26 (4), 331-346.
Metin U., Taris, T., Peeters, M., van Beek, I., & Van den Bosch, R. (2016). Authenticity at work: A job-demands resources perspective. Journal of Managerial Psychology, 31 (2), 483-499.
Rogers, C. R. (1972). Die nicht-direktive Beratung. Frankfurt am Main: Fischer.
Rogers, C. (1961). On becoming a person: A therapist’s view of psychotherapy. Boston: Houghton MiZin.
Van den Bosch, R. & Taris, W. T. (2014). The Authentic Worker's Well- Being and Performance: The Relationship Between Authenticity at Work, Well-Being, and Work Outcomes, The Journal of Psychology, 148 (6), 659-681.
Van den Bosch, R., & Taris, T. W. (2013). Authenticity at work: Development and validation of an individual authenticity measure at work. Journal of Happiness Studies, 15, 1–18.
Wood, A. M., Linley, P. A., Maltby, J., Baliousis, M., & Joseph, S. (2008). The authentic personality: A theoretical and empirical conceptualization, and the development of the Authenticity Scale. Journal of Counseling Psychology, 55, 385-399.