Mistelmondfunken
Seit Kindestagen gehe ich in den Nächten der Angst gern zur hohen Pappel am Ufer des Weihers. Dort reibe ich meinen schweren Kopf ein wenig am rauen Stamm, der gegerbten Borke. Fahre mit dem Finger über Furchen, die Narben. Berichte ihr von meinen Böseträumen, den Gesichtergeschichten. Spüre, wie der Baum zu beben beginnt, meine Bedrückung durch Äste und Zweige wandern lässt, auf dass die Blätter zu espen anfangen, zu flüstern. Bis ihr Zittern, das Zischeln wächst, immer stärker wird, lauter und meine Furcht schließlich rauschend in den Dunkelhimmel vertreibt. Durch die Wolkenbänke peitscht. Wie gut dies tut! Seit Jahrzehnten schon.
Besonders ist es in den Zeiten des Vollmondes. Der die Funkenblüten der Mistel im Kronenherz zum Erblühen bringt. Zum Erglühen. In jenen Stunden begegnete ich früher oft der alten Frau Bosse. Ich hörte sie schon von ferne, wie sie mit ihrem Rostrad langsam herangeklappert kam. Dann machte ich mich unsichtbar. Beobachtete sie. Sah staunend, immer wieder aufs Neue gebannt zu, wie sie einen kleinen Kescher hervorzauberte und begann, mit lustigen Verrenkungen die fliegenden Funken einzufangen, die, den Mistelnestern entflohen, durch die Lüfte schwirrten. Beinahe wie Glühwürmchen. Nur viel größer. Fast wie ein Spatz. Mindestens genauso flink. Dennoch gelang es der Alten, sie einzufangen und sodann, mit dicken Handschuhen gerüstet, behutsam aus dem Netz zu puhlen, um sie in leere Marmeladengläser zu stecken. Doch jedes Mal nur sieben Stück. Ganz genau sieben. Die sie anschließend in den speckigen Satteltaschen verstaute, wobei sie immer einen merkwürdigen Spruch vor sich hin murmelte. Komische Wörter wie Hekate, Phaeton und Freya kamen darin vor. Verstanden habe ich ihn nie. Und erst kurz vor ihrem Tod konnte ich herausfinden, wozu sie die eingefangenen Mistelmondfunken brauchte. Durch einen Zufall. Der mich …