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Folge 7: Cinepanettone – Die italienischsten Weihnachtsfilme, gegen den Strich gebürstet 

Inzwischen bin ich seit gut 13 Jahren Journalist. Damit meine ich, dass ich in der Zeit seit Ende Februar 2010 meinen Lebensunterhalt  ununterbrochen zu einem erheblichen Teil bis vollständig mit Journalismus verdiene. 

Ich liebe diesen Beruf. 

Einer der Gründe für diese Liebe ist ein recht egoistischer: Journalistisch zu arbeiten hat mich persönlich reifen lassen. Denn guter Journalismus – und vor allem guter politischer Journalismus – verlangt den Menschen, die an ihm arbeiten, immer wieder ab, das eigene Urteil über die Welt zu hinterfragen. 

Das ist eine Zumutung, vor allem am Anfang des Berufslebens.  Politiker X, den man vielleicht in der eigenen vorjournalistischen Zeit immer für einen ausgemachten Haubentaucher gehalten hat, erlebt man im Hintergrundgespräch als reflektierten Menschen, der mit seinen Entscheidungen mehr ringt, als man sich das je hätte vorstellen können. Und wenn man das Wahlprogramm von Partei Z, die man daheim am Küchentisch so oft als Deppenverein beschimpft hat, systematisch studiert, entdeckt man Argumente und Einwände, die so hirnverbrannt doch nicht sind.

Wer eine gute Journalistin, ein guter Journalist sein will, sollte immer wieder einen oder gar ein Dutzend Schritte weg vom Gegenstand der eigenen Arbeit machen – und sich überlegen: Habe ich etwas übersehen? Ist ein Sachverhalt wirklich so einfach, eine Situation wirklich so schlimm oder so schön, handelt eine Person wirklich so klug oder so dumm, wie ich bisher gedacht hatte?

Es ist ein Privileg, sich diese Fragen in der eigenen Arbeitszeit stellen zu können. Es ist ein demokratisches Privileg, die Antworten dann in die eigene Arbeit einfließen lassen zu dürfen.  

Und diese Fragen regelmäßig zu stellen, verbessert eben nicht nur die eigene journalistische Arbeit. Es ist ein fabelhafter Beitrag zur eigenen Reifung, zur crescita personale, wie das auf Italienisch heißt.

Womit wir beim cinepanettone wären.

Beliebter als Hollywood-Blockbuster, so kontrovers wie Berlusconi

Ich bin in meiner Schulzeit in Italien erwachsen geworden mit einem eindeutig verheerenden Urteil über den cinepanettone: über dieses Genre von Weihnachtsfilmen, von denen von 1990 bis 2005 Jahr für ein neues Exemplar in den italienischen Kinos erschienen ist. Komödien, mit deren locandine (Filmplakate) in den frühen 2000ern selbst in meinem kleinen Wohnort Castellabate die wenigen metallenen Plakatträger zugepflastert waren. In jedem Dezember lief im Cinema Angelina, unten am Meer in Santa Maria di Castellabate Abend für Abend der cinepanettone der Saison, Jahr für Jahr mit den Hauptdarstellern Christian De Sica und Massimo Boldi. 

Christian De Sica (links) und Massimo Boldi in einer Szene des 1995 erschienenen cinepanettone Vacanze di Natale '95

Im Dezember 2001 schaute ich mir im Angelina also Merry Christmas an, den cinepanettone dieses Jahres. 

2001 war ich ein 14-jähriger Schüler an der scuola media in Castellabate. Ich habe in diesem Jahr zwei ganz unterschiedliche Ereignisse so intensiv vor dem Fernseher verfolgt, dass ich mich an sie bis in die absurdesten Details erinnere: in einer Bar den Gewinn der  in 40 Jahren einzigen Fußballmeisterschaft durch den AS Rom (Öffnet in neuem Fenster); daheim vor dem Bildschirm die zwei Flugzeuge, die am 11. September in die Türme des World Trade Center in New York flogen und mich wie ein großen Teil meiner Generation prägten wie wohl kein zweites Ereignis (Öffnet in neuem Fenster)

An einem der letzten Tage dieses schwerwiegenden Jahres 2001 saß ich also im Cinema Angelina in Santa Maria di Castellabate, um mich herum ein paar Klassenkameraden, die vor dem Film auf ihren Nokia- und Ericsson-Handys simsten oder Snake spielten (Öffnet in neuem Fenster). Dann begannen auf der Leinwand die Bilder von Merry Christmas zu flirren und ich tauchte zum ersten und für lange Jahr einzigen Mal ein in die cinepanettone-Welt. In einen dieser Filme nach diesem einzigartigen Rezept aus dem römischen Hallodritum De Sicas, der grotesken Klischee-Mailänderhaftigkeit Boldis, aus gut aussehenden weiblichen Fernsehstars, aus Gags um Essen, Körperausscheidungen, Sex.

https://youtu.be/BMyCUlolUgw (Öffnet in neuem Fenster)

Der Trailer von MerryChristmas, dem cinepanettone von 2001

2001 waren die cinepanettoni auf dem Höhepunkt ihrer Wirksamkeit: 2002, 2006 und 2007 war der jährliche cinepanettone jeweils der erfolgreichste Film des Jahres in italienischen Kinos. Die Boldi-De-Sica-Werke zogen Jahr um Jahr mehr Zuschauer in die Säle als die meisten Hollywood-Blockbuster – und das, obwohl sie dort nur zwischen Adventsanfang und dem 6. Januar zu sehen waren.

Ich habe diese Filme verachtet, wie die meisten der Menschen, die sich selbst für gebildet hielten und Ministerpräsident Silvio Berlusconi für eine Gefahr für die Demokratie.  Sie waren mir, wie vielen anderen, ein Symbol für die Ignoranz, die Oberflächlichkeit, den selbstbewusst nach außen getragenen Sexismus des berlusconismo. 

Die cinepanettoni sind mir nie ganz aus dem Kopf gegangen. 

Es sind Filme, die es so nur in Italien gibt. Filme, die das Land auf eine Weise gespaltet haben und teils bis heute spalten,  die viel mit der Entwicklung von Gesellschaft, Politik, Medien- und Kulturlandschaft im Italien der vergangenen 30 Jahre zu tun hat.

Als es im vergangenen Frühjahr ernst wurde mit diesem Podcast und ich unübersetzbare italienische Wörter sammelte, die dabei helfen, fiel mir cinepanettone als eines der ersten ein.  

Die cinepanettoni werden und wurden einerseits von Millionen Menschen in Italien geliebt – und andererseits haben Filmkritiker, Journalisten und viele andere die Filme selbst und ihr Publikum jahrelang regelrecht beschimpft: die cinepanettoni als unkreative, handwerklich schlecht gemachte Machwerke, die Sexismus und Homophobie verherrlichten – ihre Zuschauer als angeblich dümmliche, hinterwäldlerische Berlusconi-Fans.

Ein Ire hat die cinepanettoni am gründlichsten untersucht

21 Jahre später, in der Vorweihnachtszeit  2022, habe ich meine Urteile über die cinepanettoni noch einmal hinterfragt – mit den Werkzeugen, die mir meine journalistische Ausbildung mitgegeben hat. Ich habe viel zu den cinepanettoni gelesen, ich habe mehrere dieser Filme noch einmal angeschaut. Dabei herausgekommen ist die aktuelle Episode von Kurz gesagt: Italien

In ihr geht es um die Frage, wie diese Filme so populär und umstritten werden konnten, warum ausgerechnet diese derben Komödien so heftig empörte Ablehnung erfahren haben – und was im Italien von heute von ihnen geblieben ist.

https://kurzgesagt-italien.podigee.io/7-cinepanettone (Öffnet in neuem Fenster)

Gast der Episode ist Alan O'Leary. Er ist Filmwissenschaftler, forscht und lehrt derzeit an der Universität im dänischen Aarhus (Öffnet in neuem Fenster)  – und er ist der Mensch, der die wohl gründlichste wissenschaftliche Analyse zu den cinepanettoni und zu ihrer Wirkung auf die italienische Gesellschaft geschrieben hat. Sie ist 2013 auf Italienisch erschienen, heißt Fenomenologia del cinepanettone (Öffnet in neuem Fenster)und ist eine Lektüre, die bereichert und bemerkenswert viel Spaß macht. O'Leary ist Ire – und es ist in meinen Augen kein Zufall, dass ein nicht-italienischer Wissenschaftler eine so erhellende Arbeit über diese Filme geschrieben hat.

O'Leary hat die cinepanettoni und die gängigen negativen Urteile über sie gegen den Strich gebürstet.

Erhellend war das gerade für mich, der ich die Ablehnung der cinepanettoni in meiner Teenagerzeit in Italien aufgesogen und seither verinnerlicht hatte. 

Arroganz gegenüber allem, was volgare ist

O'Leary kommt in meiner Episode mehrfach zu Wort, sein Buch zitiere ich mehrfach. Aber da die Arbeit an Podcasts wie an anderen journalistischen Formaten  die unangenehme Aufgabe mit sich bringt, Inhalte wegkürzen zu müssen – um Zuhörerinnen und Zuhörer nicht zu langweilen oder um die Erzählung nicht so abgleiten zu lassen, dass es beim Zuhören keinen Spaß mehr macht – haben es manche Teile des Interviews, das wir in der Voradventszeit über Skype geführt haben, nicht in die Folge geschafft. 

Zum Beispiel O'Learys Antwort auf meine Frage, ob der abschätzige Blick vieler italienischer Kritikerinnen und Kritiker auf die cinepanettoni und ihre Zuschauerinnen und Zuschauer Teil desselben Problems ist, das ich schon in meiner Podcast-FolgeMagnamagna (Öffnet in neuem Fenster) angesprochen habe: der Arroganz, mit der gerade in Italien viele mittig-linke oder linke Politikerinnen, Intellektuelle und Aktivisten auf alles blicken, was aus ihrer Sicht volgare ist: vulgär, unintellektuell, typisch für das einfache Volk.  

Hier O'Learys Antwort:

Ich würde mich darauf beschränken zu sagen, dass die Wurzeln vielleicht dieselben sind. Der kulturelle Paternalismus, der sich in der Herabschätzung vieler Filmkritiker des cinepanettone und des Publikums des cinepanettone gezeigt hat, kommt vielleicht vom gleichen politischen Paternalismus.
(...)
Aber mehr würde ich nicht sagen.
Denn ich glaube, wir müssen uns ein wenig vor einer Tradition des herablassenden Diskurses über Italien hüten, der aus dem Ausland kommt.

Alan O'Leary – der jahrelang zur italienischen Komödie und besonders zu den cinepanettoni geforscht und sich an den Urteilen der italienischen Filmkritik gerieben hat – will nicht in die Haltung des belehrenden Ausländers aus dem Norden verfallen.

Ich hoffe, ihr erkennt und Sie erkennen diese Haltung auch in Kurz gesagt: Italien. Ich hoffe, dass durch diese Podcast-Folgen und Newsletter-Ausgaben mein von vielen Erfahrungen geprägter, aber weiter neugieriger und gründlicher und sich vor Übermut und einfachen Urteilen hütender Blick auf Italien durchscheint. 

Mit dieser Haltung möchte ich polenterrone mitteleuropeo (Öffnet in neuem Fenster)Folge für Folge, Newsletterausgabe für Newsletterausgabe, dazu beitragen, Italien besser zu verstehen. Ohne zum Besserwisser zu werden.

Buone feste, besinnliche Tage – und einen prächtigen Rutsch ins neue Jahr.

A presto!

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Sebastian Heinrich

Kategorie Mensile

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