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Folge 1: Autogrill – oder wie ich lernte, die Autobahnraststätte zu lieben

Das erste Apollo konnte ich kaum erwarten. 

Es war ein erwartungsgemäß sonniger, brüllend heißer Tag im Juli 2021 und ich rollte in unserem Auto durch den Trentino, die letzten Massive der Alpen auf beiden Seiten der Strecke. Es war die erste Reise nach Italien seit dem Ausbruch von Covid-19. Die erste nach 2020, dem bisher einzigen Jahr meiner eigenen Erinnerung,  in dem ich Italien kein einziges Mal betreten habe.

Dann sah ich endlich das grüne Schild am Rand der Autobahn A22: Adige Ovest.

Ich fuhr raus, stieg aus dem Auto. Maske auf, Tür auf – und endlich war ich wieder in einem autogrill.

Seit meiner Kindheit sind die Autobahnraststätten mit dem großen A auf dem Dach Etappen auf Reisen: erst auf Urlaubsreisen nach Italien, später auf Klassenfahrten und sonstigen automobilen Ausflügen durch Italien.

Ich holte mir ein Apollo, wie fast immer: Burgersemmel, Hähnchenschnitzel, Tomate, Salat, salsa tartara. Welches autogrill-Panino das beste ist, ist in Italien eine fast schon identitäre Frage. Ich bin seit zwei Jahrzehnten im Team Apollo.

Und natürlich wollte ich einen caffé. Es gab ja mal eine Zeit, da war der Espresso sogar gratis im autogrill, zwischen Mitternacht und 6 Uhr, um Auto- und Lkw-Fahrer für ihre Nachtfahrten besser auf Trab zu halten. Eine italienische Lobbyagentur für Kaffeehersteller behauptete im Jahr 2006 sogar (Öffnet in neuem Fenster), diese Maßnahme hätte "die tödlichen Unfälle auf der Autobahn um 80 Prozent gesenkt".  

Autogrill sind für mich seit fast drei Jahrzehnten Sehnsuchtsorte.

Ich erinnere mich, dass ich 1998, als bayerischer Sechstklässler, beim wahrscheinlich ersten Ausflug ins Internet meines Lebens, auf dem Computer vor mir in die Browserzeile als eine der ersten Adressen http://www.autogrill.it eingab.  Wir waren erst ein paar Wochen davor wieder aus dem Italien-Urlaub zurückgekehrt. 

Von einer dieser Urlaubsreisen in unserem weinroten Toyota Carina, auf denen meine Eltern sich am Steuer abwechselten und fast 24 Stunden lang von Bayern nach Süditalien fuhren, von Pausen unterbrochen. Auf der Hinfahrt hieß das immer: Abendessen in der Emilia-Romagna oder der Toskana, dann eine Nacht lang über die A1 oder die A14, die Autostrada del Sole oder die Adriatica. Und Stopps im autogrill.

Ich wurde eigentlich bei jedem autogrill-Halt wach. Zwei, drei Uhr morgens, durch ein paar Meter schwüle mittelitalienische Augustnachtluft hindurch in einen dieser hellen Rastorte, in denen die Kaffeuntertassen schepperten und ich immer eine große Aranciata bekam, wenn ich wollte. Wir waren ja auf dem Weg in den Urlaub.1995, auf dem Weg nach Apulien, sahen wir einmal von einem Autogrill-Parkplatz in den Abruzzen aus der Sonne dabei zu, wie sie aus der Adria stieg.

Autogrill, das begriff ich schon als Kind und habe es als in Italien lebender Teenager immer besser verstanden, haben einen Zauber, der Fürholzen West oder Soester Börde Süd fremd ist. 

(Der Brücken-Autogrill Scaligera, aufgenommen in einer Oktobernacht)

Später, als Erwachsener, habe ich mir nach und nach in Zeitungsartikeln und in einem Buch (Öffnet in neuem Fenster) die Geschichte von  autogrill angelesen – und begriffen, dass hinter dieser Kette von Autobahnraststätten eine Geschichte steckt, die viel schwerwiegender ist als meine private Urlaubsreisennostalgie. 

Dass Autogrill ein unübersetzbares italienisches Wort ist, dessen Bedeutung das deutsche "Autobahnraststätte" nicht ausfüllen kann.

Die Geschichte von Autogrill verrät viel darüber, wie Italien nach 1945 zu dem wurde, was es heute ist. Es ist eine Geschichte über die Jahre, in denen Italien besonders schnell nach vorne preschte auf dem Weg in die Wohlstandsgesellschaft. Eine Geschichte über mutige, zukunftsfrohe Architektur, über mächtigen Staatskapitalismus – und über Sandwiches, die zu Ikonen geworden sind. 

Das ist die Geschichte, die ich in der ersten Episode meines Podcasts Kurz gesagt: Italien erzähle. Sie ist jetzt online: Nachzuhören über den Link hier unten – und auf allen gängigen Podcast-Plattformen.

https://kurzgesagt-italien.podigee.io/1-neue-episode (Öffnet in neuem Fenster)

Autogrill sind heute Teil der nationalen Identität Italiens.

Das mag übertrieben wirken – aber wer diese Podcast-Episode hört, versteht vielleicht, warum ich zu diesem Schluss gekommen bin. 

Wer in Italien lebt, stößt auf autogrill  auch längst nicht nur auf Autobahnreisen. Diese unübersetzbaren Raststätten sind ein popkulturelles Phänomen.

Autogrill in italienischen Filmen

Nehmen wir Brot und Tulpen (Originaltitel: Pane e tulipani), eine romantische Komödie aus dem Jahr 2000 (Öffnet in neuem Fenster), Regie von Silvio Soldini. Die Handlung nimmt ihren Lauf, als die Protagonistin, eine Hausfrau aus Pescara in den Abruzzen, auf einem Ausflug ins süditalienische Paestum vom Bus ihrer Reisegruppe in einem autogrill vergessen wird – und eine Mitfahrgelegenheit bekommt, die ihr Leben auf den Kopf stellt.

https://vimeo.com/413071576 (Öffnet in neuem Fenster)

(Die Autogrill-Szene aus Pane e Tulipani)

In Tre uomini e una gamba aus dem Jahr 1997 sind autogrill noch wichtiger. 

Tre uomini e una gamba (zu Deutsch: Drei Männer und ein Bein) (Öffnet in neuem Fenster) ist eine Komödie mit dem Komikertrio Aldo, Giovanni e Giacomo – bei dem die drei in Zusammenarbeit mit Massimo Venier auch Regie geführt haben. Vermutlich fast jede Italienerin und jeder Italiener, die oder der zwischen 1970 und 1990 geboren ist, kennt diesen Film: die Geschichte der Reise dreier Freunde aus Mailand via Autobahn durch Italien, gepflastert von  unfassbaren Pannen. Einer der drei, Giacomo, muss zu seiner Hochzeit nach Gallipoli, ins südlichste Apulien, an den westlichen Teil des italienischen Stiefelabsatzes. Ausgerechnet er verknallt sich während dieser Reise in eine andere Frau.

Gleich drei legendäre Szenen aus Tre uomini e una gamba spielen an oder in einem Autogrill. Eine, in der Giovanni das mit dem Beine Vertreten beim Reisestopp zu ernst nimmt.

https://youtu.be/aZjnDFvkwdI (Öffnet in neuem Fenster)

Eine, in der Giovanni und Aldo im Autogrill Giacomos Flirtversuche durch den Kakao ziehen.

https://www.youtube.com/watch?v=is_GpouewPQ (Öffnet in neuem Fenster)

Eine, in der sich für Giacomo am Ende alles verändert.

https://www.youtube.com/watch?v=LObf87rk2Qc (Öffnet in neuem Fenster)

Und dann sind da die autogrill-Szenen aus Bianco, Rosso e Verdone: einem Kultfilm, der dieses völlig ausgefranste Etikett ausnahmsweise verdient hat. 

Bianco, Rosso e Verdone (Öffnet in neuem Fenster) kam 1981 in die Kinos. Es ist der zweite Film, bei dem der heute in Italien zu Recht hochrenommierte Schauspieler, Regisseur und Comedian Carlo Verdone Regie geführt hat.

Den Soundtrack hat Ennio Morricone komponiert, der kürzlich verstorbene Über-Maestro der Filmmusik (Öffnet in neuem Fenster).  Carlo Verdone spielt selbst sämtliche männlichen Hauptrollen. 

Bianco, Rosso e Verdone ist ein Roadmovie. Er handelt  davon, wie ganz unterschiedliche Menschen in drei unterschiedlichen Autos durch Italien fahren, um bei der Parlamentswahl ihre Stimme abzugeben. 

Einer der von Verdone gespielten Protagonisten ist Pasquale Ametrano: ein italienischer Emigrant, der in München lebt – und der, nach dem Abschied von seiner überfürsorglichen deutschen Frau (Öffnet in neuem Fenster), alleine in seinem roten Alfa Romeo Alfasud die 1.300 Kilometer über den Brenner in seine Heimatstadt Matera in der süditalienischen Basilikata abreißt. Pasquale erlebt bei jedem Stopp, wie sehr ihn das Italien, in das er nach längerer Abwesenheit wieder zurückkehrt, überfordert. 

Das passiert ihm natürlich auch im autogrill. Und da Verdone diesen Pasquale Ametrano als stumme Figur spielt, die – bis zu einem Ausbruch wenige Sekunden vor den Schlusstiteln (Öffnet in neuem Fenster) – kein einziges Wort spricht, ist diese Szene auch ohne Italienischkenntnisse verständlich.

https://www.youtube.com/watch?v=7p30gP0mUP4 (Öffnet in neuem Fenster)

Das ist nur ein Teil der italienischen Filme, in denen autogrill zentrale Orte sind.

Im bis heute populären 1980er-Jahre-B-Movie Fratelli d'Italia (Öffnet in neuem Fenster) (Regie: Neri Parenti) etwa geraten Fußball-Ultras von AS Rom und AC Mailand am autogrill aneinander (Öffnet in neuem Fenster). In Mario Missirolis Literaturverfilmung La bella di Lodi (Öffnet in neuem Fenster)aus den 1960ern mit Stefania Sandrelli als Protagonistin ist ein autogrill an der A1 Mailand-Neapel eine der beeindruckendsten Kulissen. (Öffnet in neuem Fenster)

Autogrill in italienischen Songs

Es gibt mehrere italienische Songs, die Autogrill im Titel tragen.

Zwei davon möchte ich hier empfehlen:

  • Autogrill (1992) der Hardrock-Band "Rats" aus der Provinz nahe Modena, in der norditalienischen Emilia. Ihr Autogrill ist die Beschreibung einer Heimreise nach einem Konzert: die Band im Auto, der autogrill als Zwischenstopp zum Bierauffüllen, mit einer Kassiererin, die überraschend human wirkt (la cassiera sembra umana) und einem Comic-Regal, aus dem man sich sogar die neueste Nummer von Dylan Dog (Öffnet in neuem Fenster)holen kann (hanno anche Dylan Dog!).

https://www.youtube.com/watch?v=PK6q1q5Qb6o (Öffnet in neuem Fenster)
  • Autogrill von Francesco Guccini, einem der (meiner Meinung nach) größten italienischen Singer-Songwriter. Ein altlinker cantautore, der im Gegensatz zu manchen Kollegen aber nie ideologisch verbohrt war. Guccini setzte 1968, nach der Niederschlagung des Prager Frühlings durch Warschauer-Pakt-Panzer dem tschechischen Studenten Jan Palach nach dessen Selbstverbrennung (Öffnet in neuem Fenster) ein Denkmal, mit dem Song Primavera di Praga (Öffnet in neuem Fenster). Im Februar 2022 bezog Guccini (im Gegensatz zu vielen anderen italienischen Linken) klar Position (Öffnet in neuem Fenster) gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine.

    Guccini hat seinen Song Autogrill 1983 veröffentlicht. Er beschreibt darin eine Liebe, die nie entstanden ist: eine ergebnislose cotta (so nennt man das flüchtige, heftige Verliebtsein auf Italienisch) in eine Frau, die an der Theke eines autogrill bedient. Es ist ein autogrill, den Guccini in seinem Text amerikanisiert und somit aus der italienischen Realität entrückt: mit einer soda fountain und fünf Dollar-Cent Trinkgeld (nichel di mancia), die er der Frau hinterlässt – ohne den Mut gefunden haben, sie anzusprechen.

    Das Video hier unten ist eine schöne Liveaufnahme aus dem Jahr 2004, auf der Guccini Autogrill im Amphitheater von Cagliari singt, der Hauptstadt Sardiniens.

https://www.youtube.com/watch?v=rLzqnSmbt3I (Öffnet in neuem Fenster)

Conan O'Brien im autogrill

Wie stark die Strahlkraft der autogrill ist, das sieht man besonders gut daran, dass sie  auch außerhalb Italiens ihre Spuren in der Popkultur hinterlassen. Zwei Beispiele aus dem deutschsprachigen Raum erwähne ich in meiner Podcast-Episode.

In den USA ist Late-Night-Showmaster Conan O'Brien auf die autogrill aufmerksam geworden – und hat ihnen im Jahr 2018 einen Backstage-Clip seiner Sendereihe Conan Without Borders: Italy gewidmet. 

O'Brien und sein Teammitglied Jordan Schlansky besuchen einen Brücken-Autogrill an der A1 in der Toskana. Schlansky greift sich dort das Bufalino, eines dieser ikonischen autogrill-Panini, über die ich am Anfang geschrieben habe.

https://www.youtube.com/watch?v=GXhoKJaTFnk (Öffnet in neuem Fenster)

Er nennt den Autogrill this fantastic italian creation,  "diese wunderbare italienische Erfindung".


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Korrekturhinweis:

In einer früheren Fassung dieses Textes hatte ich geschrieben, dass Bianco, Rosso e Verdone der erste Film sei, bei dem Carlo Verdone Regie geführt hat – und dass er 1980 erschienen sei. Beides ist falsch: Bianco, Rosso e Verdone ist 1981 erschienen, es ist Verdones zweiter Film.
Der erste von Verdone verantwortete Film ist Un sacco bello, der tatsächlich im Jahr 1980 erschienen ist. (Öffnet in neuem Fenster)

Kategorie Mensile

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