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"Wir haben es nicht gut gemacht."

Protokoll einer Leseerfahrung

Anmerkung der Redaktion: Aufgrund der Länge des Newsletters, schneidet Googlemail oft den Text ab. Wenn man links auf die drei kleinen Pünktchen klickt, geht der Text vollständig weiter. Wir wünschen viel Vergnügnen bei dieser Ausgabe, die recht merkwürdig ist. 

Nachricht an Clint / 22.11.2022, 9:04:

Bist du schon wach? Ich bin es seit 7 und lese neugierig den Briefwechsel weiter. Als würde ich einen Rekord aufstellen wollen. Judith Poznan, die schnellste Korrespondenzleserin seit dem Mauerfall! Eine richtige Lukas-Disziplin, mit Bleistift in der Hand, hat mich erwischt. Jonas erhob sich einmal, rief Guten Morgen!, drehte sich auf die Seite und schlief weiter. Gerade habe ich mir Kaffee gemacht. (...)

Liebe Leser und Leserinnen,

dies ist keine Rezension. Es sollte eine werden. Über den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Max Frisch. Ab 1958 etwa 300 Briefe, die ich innerhalb einer Woche wie im Fieber las.

Nun stehe ich seit ein paar Tagen vor dem Problem, dass ich nicht weiß, wie ich über diesen Briefwechsel schreiben möchte. Der Briefwechsel traf mich auf so vielen Ebenen. Nennen wir es ein Protokoll.

1.  Briefe schreiben. Was für eine schöne Art des Austauschs. Und gleichzeitig ist es so unpraktisch. Ständig sind sie auf Reisen. Oft wissen sie nicht, ob jener Brief vom 13. Jänner noch angekommen ist, bevor der andere nach Zürich, Rom, Hamburg oder irgendwo anders hin ist. Manchmal schreiben sie mehrere Briefe im Abstand von nur ein paar Stunden. Sie bereuen vielleicht den ersten, aber packen ihn trotzdem mit dazu. Sie geben sich Mühe. Holen viel Welt rein in ihre Zeilen. EXPRESS! Telegramme! Zwischendurch wird telefoniert. Und immer wieder: Hast du meinen Brief bekommen?

2.  Schreiben nicht nur aneinander vorbei wegen des Postwegs. Frisch, der Denker, der Pragmatische, sehr genau im Beschreiben seiner Gefühle. Sie: immer ein bisschen bedeckter, märchenvoller im Stil, alltäglicher, sehnsüchtig und doch distanziert.

3.  Warum reisen die so viel getrennt und nicht miteinander? Nachdenken über Fernbeziehung.

4.  „Ich bin nicht verliebt, Ingeborg, aber erfüllt von dir, Du bist ein Meertier, das nur im Wasser seine Farbe zeigt, Du bist schön wenn man dich liebt und ich liebe dich. (…) Wenn ich Dich verliere (wenn ich dich verliere, bevor ich es gewagt habe mit Dir zu leben), dann habe ich in meinem Leben auf nichts mehr zu warten …“

Fünfmal gelesen.

5.  Sind die überhaupt beziehungsfähig? Hier öffnet sich das ganze Loch „Toxische Beziehung“. Ich erwische mich dabei, wie ich zur Richterin werde. Was mich in dieses Loch stürzen lässt. Also wer hat nun Schuld? Wer ist das Opfer? Judith, ermahne ich mich, sei keine Richterin. Es gibt immer Perspektiven. Das Uneindeutige interessiert mich daran. In allem eigentlich. Abends eine Folge The Crown geschaut. Über Charles und Diana nachgedacht. Vergleich möglich?

6. Ingeborg Bachmann trinkt Gin und Tonic und liest Balzac. Was die alles wegsaufen!

7.

8.  Resümee über Gespräche mit ehemaligen Männern über gemeinsame Zukunft. Problem: Ich wusste immer genau, was ich gerne hören möchte.

9.  Neubewertung. Ich denke über die Rezension von Iris Radisch nach. Die irgendwie das Bild vermittelt, Ingeborg Bachmann sei ein Opfer von Frisch. Er verlässt sie für eine Jüngere. Aber sie hat ihn doch auch betrogen. Ist es möglich über Beziehungen zu sprechen, ohne daraus einen Geschlechterkampf zu machen? Möchte ich es mit Iris Radisch aufnehmen? Lieber lassen.

10.  Rezension von Franziska Hirsbrunner vom SFR (Öffnet in neuem Fenster) gelesen. Schließe mich dem an. Vielleicht fehlinterpretiere ich doch nicht. Erinnerung: In der Literaturwissenschaft gibt es kein richtig oder falsch. Man muss nur gut argumentieren können.

11.  Immer wenn es dramatisch wird, schäme ich mich. Darf ich das lesen? Bachmann wollte nicht, dass ich das lese. Sie hat die Briefe von Max Frisch zerstört. Ich lese Durchschläge, die er angefertigt hat. Die Geschwister von Bachmann haben der Veröffentlichung zugestimmt. Beide Schriftsteller mausetot. Ihr Briefe sind von hoher, literarischer Qualität. Gepfiffen sei auf das Persönlichkeitsrecht. Gespräch mit Clint darüber. Welchen Wert hat das Briefgeheimnis? Steht Text über Autorenschaft?

12.  Gruppe 47. Michael König schickt mir Video-Ausschnitt von Marcel Reich-Ranicki über Ingeborg Bachmann. Reich-Ranicki auf You-Tube (Öffnet in neuem Fenster) zum Einschlafen.

13.  Zurück zu der Beziehungsebene. Der „Venedig-Vertrag“. Sexuelle Untreue ist erlaubt, emotionale Untreue ist es nicht. Nachdenken über offene Beziehung.

Nachricht an Clint, 22.11.22, 12:25:

Es ist ein italienischer Germanist namens Paolo Chiarini. Frisch will sich mit ihm treffen. „Wozu? das habe ich mir nächtelang überlgt.“ Sie treffen sich um 6 mit einen Aperitif. Er schreibt, er will ihr nichts zerstören, aber er kann nicht länger mit einem Gespenst leben.

/12:28

Sie hatte eine Affäre mit Enzensberger. Da waren sie ein Jahr zusammen. Völlig verrückt, wie sie ihn immer Hans nennen. Der hat Frisch nicht so viel Kummer bereitet.

/12:35

Liebschaften hatte er auch. (Und wird sich später verlieben, in eine Jüngere) Aber dass sie sich nun verliebt hat, erträgt er nicht. Die Angst herrscht, sie würde, wenn sie bei ihm ist, sich woanders hinwünschen.

/12:50

Stand: Sie schweigt dazu.

Dann der Twist: Chiarini ist nicht aufgetaucht. „Der Unbekannte verweigert sein Gesicht“. Er hat Frisch aber einen Brief dagelassen. Chiarini will seine Frau und seine beiden Kinder nicht für Bachmann verlassen. Sie nie wieder sehen. Er schreibt, Frisch kann wieder zu ihr zurückkehren.

Frisch hat den Brief an Bachmann geschickt.

/12:52

Und das alles in Rom! Mein Gott, was für eine Geschichte.

14.  Bachmann schreibt übers Alleinsein. Später unauffällig neben dem Jungen geweint, als wir König der Löwen schauten.

15. Gedanken über „Die Jüngere“. Ich bin selbst drauf reingefallen. Die Jüngere, ja was heißt das denn eigentlich? Sind die alle dumm und merken nicht, dass ihre jungen Körper nur einem Zweck dienen? Frisch war mit der Jüngeren elf Jahre verheiratet. Sie heißt Marianne Oellers. Artikel über Leonardo Di Caprio in der SZ gelesen. 

16. Vielleicht will ich keine Meinung zu "der Jüngeren" im Allgemeinen haben.

17.  Hotel Minerva, zwei Gehminuten vom Pantheon entfernt. Rom bekommt einen ganz neuen Reiz. Ich markiere alle genannten Orte. Erster Entschluss: ich ziehe in 20 Jahren nach Rom. Zweiter Entschluss: ich sollte vorher einmal nach Rom reisen, um zu schauen, ob es mir gefällt.

18. 

19.  Brief 207. Ingeborg Bachmann unterwirft sich. Erneute Scham. Wegen meiner eigenen Erfahrung mit Unterwürfigkeit. "Warum zerstören wir einander?" -Frisch an Bachmann. Rächt sich Frisch an ihr? Stelle verblüfft fest, ich kenne Neid, ich kenne Eifersucht, ich kenne Wut und Enttäuschung, die ganze Palette Selbsthass, aber ich kenne keine Rache. 

20. Die intellektuelle Ebene, die sie miteinander verband. Sie schicken sich Notizen zu ihren Arbeiten. Mein Name sei Gantenbein ist jenes Buch, welches Frisch während seiner Zeit mit Bachmann schrieb. Muss man das Buch nun neu bewerten? Steht ein Text für sich allein? Malina nochmal lesen.

21.

22.  In New York kann man sehr gut Burgunder Schnecken essen. Bessere als in Paris, schreibt Bachmann.

Mögliche französische Restaurants, wahrscheinlich East River NY:

-Perinne / 2 E 61st St 

-Le Coucou / 138 Lafayette St

-La Grenouille / 3 E 52nd St

-Le Bilboquet / 20 E 60th St

23.  Der Trennungsprozess wird für mich zur Belastung. Es geht um jedes Handtuch. Immer wieder die Erkenntnis: Nichts zwischen Paaren ist unwichtig. 

Notiz bei Instagram / 27.11.2022

Die Phase einer Trennung, die besonders traurig ist: Wenn zwei Menschen, die sich liebten, plötzlich ganz höflich, ganz förmlich miteinander sind. Ein enger Korridor durch den man dann geht. Von der Nähe ab, raus zur Distanz. 

Nachricht an Clint/ 28.11.2022, 14:15

(...) In mir arbeitet viel. Vorschnell gab ich ja mein Urteil, sie hätte sich auch fangen können. Dann las ich aber ein Zitat von ihr, indem sie schrieb, es war ihr mit gebrochenem Herzen unmöglich, sich weiter in der Welt zu bewegen. Ich muss es nochmal nachblättern. Es bewegt mich jedenfalls sehr.

24. Kein Bock auf 300 Seiten Stellenkommentar. 

25. Wer sind eigentlich diese vier Herausgeber Höller, Langer, Strässle, Wiedemann? 

26. Im Kommentarteil ein Foto von Frisch bei der Premierenfeier nach der US-Erstaufführung von Andorra am Biltmore Theater in New York. Rechts von ihm steht Horst Buchholz, Darsteller des Andri. Horst Buchholz ist der ehemalige Nachbar von Opa Wolfgang. Wenn Opa Wolfgang jemals auf etwas stolz war, dann, dass er Horst Buchholz gekannt hat. 

27. Wieder zurück ins Leben finden. Einen kleinen Weihnachtsbaum für den Tisch gekauft.

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