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Vom Hölzchen in den Wald oder „Luxus der Neugier“

Seit ein paar Jahren erinnern sich gleichaltrige Freund:innen immer öfter und meist voller Sehnsucht an Zeichentrickserien, Spielzeuge und andere kulturelle und gesellschaftliche Erzeugnisse, die ihre westdeutsche Kindheit der 1980er und 1990er Jahre geprägt haben. Ich ernte hingegen öfter überraschte Blicke, wenn ich zugeben muss, dass ich eine bestimmte Kinderserie, einen beliebten Song oder ein kultiges Getränk nicht kenne. Diese “Bildungslücken” waren mir unangenehm, bis ich verstanden habe, dass ich diese Dinge nicht kannte, weil es sie in der Sowjetunion oder später in der Russischen Föderation schlicht nicht gab. Ich bin erst mit dem Tamagotchi eingestiegen… Dafür kenne ich andere Sachen.

Zu meinen absoluten Lieblingsbüchern als Kind gehörte die Science-Fiction-Serie rund um Alissa, ein Mädchen aus der Zukunft, von Kir Bulytschow. In einer Szene kommt Alissa (oder ihr Freund Pawel?) heim und sagt dem Fernsehappart, was sie sehen möchte, beispielsweise Nachrichten. Das gewünschte Programm wird sogleich gezeigt. Heute ist es Realität, aber für das Kind, dem zweieinhalb Fernsehprogramme zur Verfügung standen, die langweilige Erwachsenensendungen zeigten, war es unvorstellbar.

Köln, Oktober 2009 © Kristina Klecko

Vorgespult in die späten Nullerjahre. Die US-amerikanische Bloggerin Tavi Gevinson ist elf Jahre alt, als ihre Karriere in der Modewelt startet. Über sie schreiben Medien, sie finde alles im Netz, mische Jahrzehnte und Trends, finde Verknüpfungen.

“Du bist zu jung, das kannst du noch nicht wissen, da warst du nicht dabei: Tavi Gevinson zeigt, dass solche Sätze von nun an ihre Gültigkeit verloren haben. Im Zweifel hat sie im Netz genauer recherchiert, als sich andere erinnern.” Christoph Amend, Der coolste Teenager der Welt, Zeit Online

Ich bin fasziniert davon, wie diese Generation aufwächst, dass alles sofort verfügbar ist, wie Gevinson von einer Info zur nächsten springen kann. (Ich wohne in der Zeit in einem Studentenwohnheim, bei dem das Internet so langsam ist, dass ich in der Zeit, die ein Musik-Video zum vollständigen Laden braucht, Nudeln kochen kann – und zwar nicht auf einem Induktionsherd…) 

Noch ein paar Jahre vorgespult. Meine Internetverbindung kommt mit Musik-Videos nun besser zurecht und ich kann mich endlich ebenso verknüpfend durch das Netz bewegen:

Jemand erzählt, dass der Film 12 Monkeys aus dem Jahr 1995 mit Bruce Willis und Brad Pitt in den Hauptrollen auf einen französischen Kurzfilm zurückgeht. Nach kurzer Suche kann ich mir diesen Film online ansehen.

Ich lese in einem Roman von „Graphomanie“ und kann das Wort sofort nachschlagen, mich, wenn ich möchte, weiter informieren. (Der Wikipedia-Eintrag dazu liest sich wie ein Witz, in einem Beitrag auf VICE.com erklärt Journalistin Theresa Locker das Phänomen ausführlicher.)

Ich lösche meinen Instagram-Account, weil ich immer unzufriedener damit bin, wie viel Zeit ich in der App verbringe, wie undemokratisch die Chefs dieser Netzwerke agieren, und kaufe Alexandra Polunins E-Book No Social Media.

Ich lese:

“Gerade mal 3-5% der digitalen Gewalt werde von Facebook angegangen, so [ehemalige Facebook-Produktmanagerin Frances] Haugen. Und Facebook habe auch nicht vor, etwas daran zu ändern. Denn sie wissen genau, dass sie mit Emotionen wie Wut oder Hass Menschen länger auf der Plattform halten können.” Alexandra Polunin, No Social Media

Und:

“Schaut man sich nur die Kandidierenden der drei großen Parteien an, so zielten 71% der Falschnachrichten auf die Grünen, 29% auf die CDU und 0% auf die SPD.” Alexandra Polunin, No Social Media

Obwohl wir alles haben, jede Information so einfach wie noch nie zu beschaffen ist, geben wir uns viel zu oft mit Erklärungen und “Wahrheiten” zufrieden, die man uns in Memes und Überschriften präsentiert. Noch nie waren wir mehr für unsere eigene Täuschung verantwortlich.

An dieser Stelle wollte ich ursprünglich einen wütenden Punkt setzen.

Ein paar Tage darauf las ich im Essay The Age of the Essay von Paul Graham eine Passage, in der er der Frage nachgeht, warum Essays mit englischer Literatur (oder allgemeiner mit Textinterpretation) gleichgesetzt werden.

“Um das zu beantworten, müssen wir fast 1 000 Jahre zurückgehen. Etwa um 1 100 konnte Europa nach Jahrhunderten des Chaos endlich aufatmen, und als [die Europäer] über den Luxus der Neugier verfügten, entdeckten sie, was wir ‘die Klassiker’ nennen.” Paul Graham, The Age of the Essay (eig. Übers.)

Alles nicht so einfach, viele Ebenen und Perspektiven. Neugier als Luxus, und Luxus muss man sich leisten können. Das hatte ich doch schon…?  

“Die Journalistin Teresa Bücker schreibt in ihrem Buch Alle_Zeit, wie sehr Erwerbsarbeit und „privates Beschäftigtsein“ unser Leben strukturieren und wofür Zeit fehlt (…).” 🔗 Zeit für unhöfliche Gesten (Öffnet in neuem Fenster)

Was tun? Sackgasse?

Der taz-Redakteur Bernhard Pötter widersprach 2016 in seiner Kolumne Wir retten die Welt Winfried Kretschmanns Aussage, Verzicht habe noch nie funktioniert. Verzichtet, so Pötter, werde immerzu. Wir sollten nur nicht gedankenlos verzichten.

Können wir uns den Luxus der Neugier wirklich nicht leisten? Diese Frage muss jede:r ehrlich für sich beantworten.

Vielen Dank, dass du mitliest. Bis in zwei Wochen.

Kristina

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Quellen:

Autorenseite von Kir Bulytschow im Memoranda Verlag, der offensichtlich bis heute Bulytschows Science Fiction auf Deutsch verlegt. 🔗 ansehen (Öffnet in neuem Fenster)

ZEIT Online über Tavi Gevinson 🔗 lesen (Öffnet in neuem Fenster) (Registrierung nötig)

Theresa Locker über Graphomanie 🔗 lesen (Öffnet in neuem Fenster)

The Age of the Essay von Paul Graham 🔗 lesen (Öffnet in neuem Fenster) (englisch)

Kolumne von Berhard Pötter 🔗 lesen (Öffnet in neuem Fenster)

Was andere machen
https://www.youtube.com/watch?v=LD9iOCg50hs (Öffnet in neuem Fenster)

“Man kann es also als Mädchen nie richtig machen, man kann nur unterschiedlich scheitern.” Constance Grady, Journalistin, Britney ohne Filter

Ein paar interessante Post-Instagram-Tage verbrachte ich bei Bluesky (Öffnet in neuem Fenster). Dieser Text aus dem Jahr 2021 über die Frauenfeindlichkeit der Nullerjahre wurde mir in die Timeline gespült. Es ist schlimm. 🔗 Britney, Paris und Monica - das eigene Narrativ zurückerobern (Öffnet in neuem Fenster)

Gleiches Thema behandelt die arte-Doku Britney ohne Filter. In fünf Folgen, jeweils kaum länger als 15 Minuten lang, wird der Weg der Pop-Prinzessin nachgezeichnet – und unsere Gesellschaft unter die Lupe genommen.

https://www.arte.tv/de/videos/RC-025912/britney-ohne-filter/ (Öffnet in neuem Fenster)
Hier schreibt

…Kristina Klecko, 1986 in Tscheljabinsk/Sowjetunion (heute Russland) geboren, seit 1997 in Deutschland, seit 2006 in Köln. Nach Stationen in Literaturvermittlung und der Nachhaltigkeitsbranche, bin ich seit 2024 freiberufliche Autorin, Texterin und Schreibdozentin.

Weitere Infos zu mir, meinen Texten und Schreibkursen gibt es unter 🔗 www.kristina-klecko.de.

In diesem Mailing veröffentliche ich alle 14 Tage, jeweils am Freitag, kurze Essays über das Lesen, das Schreiben und das Leben. Immer am ersten eines Monats gibt es zudem einen neuen Text in der Rubrik 🔗 Romansuche (Öffnet in neuem Fenster) – über Fortschritte und Rückschläge auf der Weg zu meinem Debütroman. Die Texte sind kostenlos, über eine Mitgliedschaft kannst du mich finanziell unterstützen.

Archivblick

🔗 Was geht mich San Francisco an? (Öffnet in neuem Fenster)

🔗 Empört euch nicht mehr (Öffnet in neuem Fenster)

🔗 Sätze, die tragen (Öffnet in neuem Fenster)

Kategorie Essays

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