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Diktatur der anderen

Ich möchte mit einem Zitat von Carolin Emcke beginnen:

„Manchmal frage ich mich, ob ich sie beneiden sollte. Manchmal frage ich mich, wie sie das können: so zu hassen. Wie sie sich so sicher sein können.“ Carolin Emcke, Gegen den Hass

Wann immer ich zweifle, und ich zweifle oft, frage ich mich, wie es wäre, sich seiner Sache so sicher zu sein, dass weder Meinungen noch Fakten die eigene Standfestigkeit erschüttern könnten. Wie leicht wäre das Leben?

Köln, Februar 2010 © Kristina Klecko

Im Intro eines Musikvideos des russischen Rappers Noize MC hört man einen Ausschnitt aus einem Interview mit Wladimir Putin aus dem Jahr 1996. Wörtlich sagt er: „Wir glauben alle, und ich leugne nicht, ich glaube das manchmal auch, dass, wenn wir mit einer starken Hand eine harte Ordnung durchsetzen, wir alle besser leben werden, bequemer und sicherer. In Wirklichkeit vergeht diese Bequemlichkeit schnell, weil die starke Hand uns sehr schnell zu würgen beginnt.“ (eig. Übers.)

Noize MC lebt inzwischen in Litauen, weil er als „ausländischer Agent“ in Russland nicht mehr als Musiker tätig sein kann.

„Vor dem Hintergrund der Bolotnaja-Proteste hat die russische Staatsduma im Jahr 2012 das sogenannte „Agentengesetz“ verabschiedet. Es sanktioniert „politisch aktive“ Nichtregierungsorganisationen (NGOs), die finanziell aus dem Ausland unterstützt werden. (…) Seit November 2017 können auch Medien zu „ausländischen Agenten“ erklärt werden, seit Ende November 2019 auch Einzelpersonen.“ Anton Himmelspach, dekoder.org (Öffnet in neuem Fenster)

Auch im Westen werden Rufe laut nach einem, der durchgreift, der „Deutschland wieder in Ordnung“ bringt, nach mehr „maskuliner Energie“. Soll ich sie beneiden? Diejenigen, die glauben, dass sich die ersehnte starke Hand, nachdem sie die anderen erfolgreich diszipliniert hat, nicht auch zu ihrer Gurgel vortastet?

Wie sie sich so sicher sein können.

In einer Reportage aus dem Jahr 2016 über Geflüchtete auf der sogenannten “Balkanroute” zitiert Schriftsteller Navid Kermani den kroatischen Innenminister mit den Worten: 

„Menschen, die so verzweifelt sind, können Sie nicht aufhalten. Wenn sie an der einen Stelle nicht durchkommen, suchen sie sich eine andere. Und wenn Sie Mauern errichten, bleiben sie vor den Mauern sitzen, bis wir den Anblick nicht mehr aushalten.“ Navid Kermani, Einbruch der Wirklichkeit

In letzter Konsequenz, so der Politiker, sei ein Schießbefehl nötig.

Ich frage mich: Wie viele Menschen in Deutschland einen Schießbefehl an den Außengrenzen befürworten würden. Nicht viele, hoffe ich.

Ich frage mich: Welche Regierung, ob in Gegenwart oder Vergangenheit, hat mit Schießbefehlen an den Außengrenzen agiert, die eigenen Bürger:innen aber in Ruhe gelassen? Wie lebt es sich in so einem Staat? Welcher Mensch ist man bereit zu werden?

Über die großartige Schriftstellerin Yoko Tawada habe ich bereits in Akzentfrei mit Yoko Tawada (Öffnet in neuem Fenster) geschrieben. In ihrem Essay Die unsichtbare Mauer heißt es:

„Wer heute in einer beständigen Demokratie zu leben glaubt, kann nicht davon ausgehen, dass es ewig so bleibt. (…) Eine Diktatur ist leichter zu erkennen, wenn sie hinter einer Mauer entsteht.“ Yoko Tawada, „Die unsichtbare Mauer“ in Akzentfrei

Ist eine Diktatur zudem leichter zu erkennen, wenn andere sie entstehen lassen?

Wie wir so sicher sein können.

Vielen Dank, dass du mitliest.

Liebe Grüße und bis in zwei Wochen!

Kristina

PS: Geburtstag! 🎊 Am ersten März 2024 habe ich den ersten Essay in diesem Blog veröffentlicht. Somit feiere ich mit diesem Beitrag Einjähriges! 🎂 Beim Auspusten der Kerzen wünsche ich mir, dass du den Blog an Menschen weiterleitest, denen die Texte gefallen könnten. Danke! 🥰

Was andere machen

Der Song:

https://www.youtube.com/watch?v=eLAHSRmFFzE (Öffnet in neuem Fenster)

Der Text:

Da ich mein bisheriges Berufsleben hauptsächlich in (staatlich geförderten) Vereinen und Organisationen verbracht habe, hätte ich einerseits Lust, über die sogenannte “kleine Anfrage” der CDU/CSU zur „Politischen Neutralität staatlich geförderter Organisationen“ zu schreiben. Andererseits hat der Verfassungsblog dazu bereits die besten Texte, beispielsweise diesen hier: 🔗 Man wird ja wohl mal fragen dürfen? (Öffnet in neuem Fenster)

“Denn das Fragerecht der Fraktionen, das aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG folgt, ist ein parlamentarisches Recht zur Kontrolle der Regierung. (…) Die Prüfung, ob einzelne Bürgerinnen und Bürger sich steuerlich rechtmäßig verhalten, ist hingegen gerade keine Aufgabe des Parlaments, sondern der Finanzbehörden, die dann in gewissem Maße ihrerseits von der Regierung kontrolliert werden, und ggf. der Gerichte.”

Der Serientipp:

Ich habe die Mediatheken der Öffentlichen Rechtlichen für mich entdeckt! (Wann werden die Sendungen und Serien, die sich hier finden, eigentlich im Fernsehen ausgestrahlt? Sollten sie nämlich!) Nach Sløborn, Tipp aus dem letzten Newsletter (Öffnet in neuem Fenster), schaue ich gerade A better place. In einer fiktiven nordrheinwestfälischen Stadt, ortskundige werden u.a. Leverkusen erkennen, wird im Rahmen eines Rehabilitationsprogramms eine Welt ohne Gefängnis erprobt. 🔗 ansehen (Öffnet in neuem Fenster)

Hier schreibt

…Kristina Klecko, 1986 in Tscheljabinsk/Sowjetunion, heute Russland, geboren, seit 1997 in Deutschland, seit 2006 in Köln. Nach Stationen in Literaturvermittlung und der Nachhaltigkeitsbranche, bin ich seit 2024 freiberufliche Autorin, Texterin und Schreibdozentin.

Weitere Infos zu mir, meinen Texten und Schreibkursen findest du unter 🔗 www.kristina-klecko.de (Öffnet in neuem Fenster).

In diesem Mailing veröffentliche ich alle 14 Tage, jeweils am Freitag, kurze Essays über das Lesen, das Schreiben und das Leben drum herum. Immer am ersten eines Monats gibt es zudem einen Beitrag in der Mitgliedsrubrik 🔗 Romansuche (Öffnet in neuem Fenster) – über Fortschritte und Rückschläge auf der Weg zu meinem Debütroman. Die Mailingtexte sind kostenlos, wenn du mit einer Mitgliedschaft meine Arbeit unterstützt, freue ich mich natürlich sehr.

Archivblick

🔗 Was geht mich San Francisco an? (Öffnet in neuem Fenster)

🔗 Frauen, die auf Männer starren (Öffnet in neuem Fenster)

🔗 Über ein unpassendes Argument (Öffnet in neuem Fenster)

Kategorie Essays

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