Zum Hauptinhalt springen

Noltes Notizen | 13. Mai 2022

Liebe KLup-Freund:innen,

was für ein Paukenschlag! Am frühen Mittag haben wir gemeldet: Der Generalvikar des Bistums Speyer, Andreas Sturm, tritt zurück. (Öffnet in neuem Fenster)Damit nicht genug: Er will die römisch-katholische Kirche verlassen und als Priester in der altkatholischen Kirche tätig sein. Unser Bericht ist heute Abend bis heute Abend mehr von rund 3.000 Menschen gelesen worden. 

Die heftigsten Sätze seiner sehr persönlichen Erklärung (den Wortlaut findet ihr am Ende des Artikels im Magazin):  

"Ich habe im Lauf der Jahre Hoffnung und Zuversicht verloren, dass die römisch-katholische Kirche sich wirklich wandeln kann."

"Ich erlebe, wie viel Hoffnung in laufende Prozesse, wie zum Beispiel den Synodalen Weg, gesetzt wird. Ich bin aber nicht mehr in der Lage, diese Hoffnung auch zu verkünden und ehrlich und aufrichtig mitzutragen, weil ich sie schlichtweg nicht mehr habe."

Und:

"Ich hatte einfach keine Kraft mehr."

Andreas Sturm (oben, Foto: Bistum Speyer) ist nicht irgendwer. Er war erst seit 2018 im Amt, hat in seinem Facebook-Account immer wieder sehr dezidiert Stellung für Reformen in der Kirche bezogen. Und er war einer der elf Generalvikare in Deutschland - unter anderem neben unserem Münsteraner Generalvikar Klaus Winterkamp -, die erst im Februar an die deutschen Bischöfe appelliert hatten, das katholische Arbeitsrecht zügig zu ändern (Öffnet in neuem Fenster): Ab sofort solle keine:r mehr arbeitsrechtliche Konsequenzen fürchten müssen, dessen Lebensform nicht dem Ideal der katholischen Sexualmoral entspricht. Das solle auch für Mitarbeitende in der Seelsorge gelten.

Einer seiner Kollegen, der ebenfalls zu den "elf Generalvikaren" gehört, ist Klaus Pfeffer aus dem Bistum Essen. Er reagierte prompt auf die Entscheidung seines Kollegen in Speyer und schrieb "sehr traurig" auf Facebook:

"Mit ihm geht ein Mensch und Priester, der zutiefst von der Menschenfreundlichkeit der Botschaft Jesu erfüllt ist, der authentisch und ehrlich seinen Glauben lebt und einfach ein toller Weggefährte ist. Zugleich freue ich mich aber auch mit ihm, dass er für sich und seinen Weg Klarheit gefunden hat ..."

Realisierte Reformträume

Diese Entscheidung von Andreas Sturm ist nicht zuletzt deshalb so brisant und faszinierend zugleich, weil er in die altkatholische Kirche übertreten und dort als Priester tätig sein will. Die altkatholische Kirche ist inzwischen für manche römisch-katholische Gläubige eine Alternative (hier erklären wir kurz, was es mit der altkatholischen Kirche auf sich hat (Öffnet in neuem Fenster)), denn dort sind manche Forderungen von Reformorientierten Realität: Frauen können Priesterinnen werden (Bild oben, Foto: epd) Priester können verheiratet sein, es gibt ein synodales - also eher demokratisches - Kirchenverständnis, queere Menschen können kirchlich heiraten. Theologisch abgelehnt werden die Unfehlbarkeit des Papstes, sein Jurisdiktionsprimat, die Lehre von der ohne Erbsünde empfangene und leibhaftig in den Himmel aufgenommene Jungefrau und Gottesmutter Maria, die Transsubstantiationslehre - dergemäß in der Eucharistiefeier Brot und Wein in Leib und Blut Christi gewandelt werden. Rund 15.000 Menschen in Deutschland gehören der alkatholischen Kirche an, es gibt ein einziges Bistum, der Bischof heißt Matthias Ring und sitzt in Bonn.

"Soll ich nicht nachziehen"?

Wenn jetzt ein bislang ranghoher Verantwortungs- und Amtsträger, Theologe und Priester seiner römisch-katholischen Kirche den Rücken kehrt und "einfach" das tut, was er für befreiend empfindet, dann hat das seine Wirkung - nicht zuletzt auf römisch-katholische Priester. Einige von ihnen haben ziemlich rasch darauf reagiert. Hier die eine oder andere Äußerung, die mich erreicht haben und die ich anonymisiert wiedergebe: 

1. "Das kann ich sehr gut nachvollziehen."

2.  "Wer von uns könnte ihn nicht verstehen?! ... Immer wieder die Frage, soll ich nicht nachziehen? Was hält mich eigentlich? Bequemlichkeit? Tief im Unterbewusstsein angelegte Angst, dass der Schritt doch falsch sein könnte? In meinem Alter noch einmal neu anfangen? Furcht, Gemeindemitglieder zu enttäuschen, weil ich ihnen das Gefühl gebe, sie alleine zu lassen? Ich weiß es nicht genau, kenne aber genau die Sehnsucht danach, so vieles von dem, was in unserer Kirche schief läuft, hinter mich zu lassen, ehrlich zu leben, das, was ich seit Beginn des Studiums erhoffe, endlich in einer Kirche zu erleben: Frauen als Kolleginnen, synodale Struktur, Zölibat nur für die, die es aus Überzeugung leben möchten, keine nur halb-offen gelebte Beziehung. Endlich kontrollierte Machtstrukturen, keine Überhöhung des kirchlichen Amtes, geistlich verbrämte Herrschaft. Sicher wird auch in der alt-kath. Kirche nur mit Wasser gekocht, aber es wird ehrlicher gekocht. ..."

3. "Mir geht's grad genauso."

4.  "Anderswo spricht man vom 'Brain Drain' (Abwanderung von Hochqualifizierten ins Ausland). Ich würde es eher 'Spirit Drain' nennen: Wenn gute Geister gehen ... Wieder einmal verliert unsere Kirchen einen Menschen, den sie gebraucht hätte. Das tut weh."

5. "Das Bleiben wird dadurch nicht einfacher."

6. "Sehr bitter, wenn den Vernünftigen die Hoffnung ausgeht."

Der vierte in sechs Monaten

Der Rücktritt und Austritt von Andreas Sturm ist darüber hinaus weit mehr als "nur" eine persönliche Angelegenheit oder eine, die das Bistum Speyer und manche Priesterkollegen betrifft und bewegt. Die Entscheidung zeigt zudem eine tiefe und dramatische Führungskrise in der katholischen Kirche in Deutschland: Sturm ist bereits der vierte Generalvikar, der binnen eines halben Jahrs das Handtuf wirft. Im November 2021 trat Ansgar Thimm im Erzbistum Hamburg zurück (Öffnet in neuem Fenster); der Grund: Er wolle seine priesterliche Zukunft neu ausrichten. 

Am 2. April wurde bekannt, dass Markus Hofmann im Erzbistum Köln zurücktritt (übrigens der dritte Generalvikar, der in der Amtszeit von Kardinal Woelki entlassen wird); der Grund: angeblich finanzielle Unregelmäßigkeiten. Hofmann selber erklärte, er sei Theologe und kein Wirtschafts- oder Verwaltungsfachmann. Das freilich dürfte er auch vor Annahme des Amtes gewusst haben. Woelki jedenfalls will jetzt die Verwaltung "professionalisieren" - und setzt den Kölner Dompropst Assenmacher als Hofmanns Nachfolger ein. 

Erst am vergangenen Dienstag, 10. Mai, die nächste Meldung: Der Ordensmann Michael Huber, hört im Bistum Eichstätt als Generalvikar auf. Er wolle sich wieder Aufgaben in seiner Gemeinschaft widmen - drei Jahre nach seiner Berufung.

Vier mal zurück, vier mal nach vorn

Und nun also Andreas Sturm in Speyer. Man muss das nicht in Parallele setzen, und doch elektrisiert die Zahl vier: Exakt vier Bischöfe haben seit dem vergangenen Jahr ihren Rücktritt angeboten oder ihr "Schicksal in die Hände des Heiligen Vaters gelegt": Kardinal Marx in München, Erzbischof Heße in Hamburg, Weihbischof Schwaderlapp in Köln und - tja - Kardinal Woelki in Köln. Die ersten drei Rücktrittsgesuche sind allesamt abgelehnt, der letzte steht noch aus, aber - seien wir ehrlich: - er wäre wohl eine riesige Überraschung. 

Dafür gehen dann eben vier Generalvikare. Das Rumms ist leiser, aber kaum weniger gewaltig. Ein Generalvikar ist nicht nur Stellvertreter des Bischofs, er ist auch sein "alter ego", sein "anderes Ich". Wenn er geht, wenn er zurücktritt, ist das immer mehr als nur eine Personalie. Bei den vier Generalvikaren, die in den letzten sechs Monaten den Stuhl räumten (oder räumen mussten) zeigt sich das ganz deutlich: entweder sie können den Job nicht (mehr) oder sie wollen ihn nicht (mehr). Beides ist dramatisch. 

Turbo im freien Fall

Warum sollte es ihnen nicht gehen wie vielen anderen engagierten Katholik:innen, die sich immer weiter fragen, ob sie bleiben oder gehen sollen. Die nach Gründen für das eine und bestenfalls noch gegen das andere suchen. "Die katholische Kirche in Deutschland implodiert", sagte mir dieser Tage ein Verantwortungsträger weit oben in einem deutschen Bistum. "Der Erosionsprozess ist gewaltig", raunte ein Theologieprofessor im persönlichen Gespräch. "Wir sind im freien Fall - und zünden jede Woche einen neuen Turbo", schrieb mir ein befreundeter Priester im Rheinland.

Eines muss dabei klar sein: Ob Generalvikarsrücktritte, bischöflich-päpstliche Rücktrittsabsagen oder Kirchenaustritte - es geht natürlich nicht um die Zahl allein. Es geht darum, dass ganz offenkundig Autoritäten dieser Kirche immer noch mit einer gewissen Gelassenheit und Ruhe, die nicht "arrogant" zu nennen mir äußerst schwerfällt, dabei zusehen, wie sie die Chance, die beste aller Botschaften den Menschen glaubwürdig und begeisternd zu vermitteln, mit Verve verspielen. Ich halte das für eine Sünde wider den Heiligen Geist.

Darum: Heute Abend braucht es ein besonders inniges Nachtgebet. Und davor ein kühles Wochenendbier. 

In diesem Sinn:

Guet goahn!

Markus Nolte (Chefredakteur Online)