Gespensterbrief #18
Drei angefangene Briefe und unzählige Gedanken später.
(Ein Räuspern und ein Rascheln)
Ein Morgen im Januar
Mein liebes Gespenst,
ich schreibe dir heute vom letzten Tag meiner freien Zeit. Es war kurz vor Weihnachten, als mir mitgeteilt wurde, ich könnte mir bis Februar freinehmen und dies sollte ich auch annehmen, wenn mein restlicher Urlaub nicht verfallen sollte. Es ist so, dass ich nicht besonders gut darin bin, Urlaub zu planen oder ihn zu beantragen. Noch nie habe ich mich an einem Septembertag an einen Tisch gesetzt und überlegt, wo ich im nächsten Jahr sein werde und wann. Das liegt daran, dass ich bisher kaum einschätzen konnte, ob ich es mir zu dem Zeitpunkt noch leisten konnte, wegzufahren. Und obwohl ich gerne zu Hause bin, war es auch nicht sehr verlockend, mir auszumalen, ich würde irgendwann im fernen August einfach nur zwei Wochen zu Hause sein. Ich habe es schlicht nie gelernt, wie Urlaub geht. Nun wurde jedoch in den letzten Jahren selbstverständlich von mir erwartet, dass ich sehr genau weiß, wohin mit 30 freien Tagen im Jahr. Ich wusste es nicht. Also stapelten sich die Resturlaubstage schließlich bis zum Mond.
Im Dezember lagen dann plötzlich sechs Wochen vor mir, in denen ich nichts vorhatte, außer Zeit mit mir zu verbringen. Große Ferien.
Ich kaufte mir ein Buch, das Change Journal von Leuchtturm, und dachte, es wäre nett, ein bisschen an mir zu arbeiten. Ich tüftelte zwei Wochen herum und legte es schließlich beiseite. Das ist okay, ich wollte nicht übertreiben. Ich räumte auf, zockte tagelang, las Bücher, schrieb ein wenig, traf regelmäßig meine Freund*innen, Gewalt und Poesie (Öffnet in neuem Fenster) erschien, wir feierten, ich las aus unserem Buch, ich kochte nett und irgendwann war ich drin. Nach drei Wochen wusste ich, was ich tun wollte: Genau so weitermachen.
Abgesehen davon, dass ich unfähig bin, Urlaube ins Auge zu fassen, bin ich ansonsten sehr strukturiert. Du auch? Ich liebe gut geführte Kalender, Listen erstellen und Aufgaben abhaken, Morgenseiten schreiben, Tagebuch führen, didaktisch-methodische Planungen entwerfen, Playlists erstellen, Essenspläne, Einkaufslisten, Inhaltsverzeichnisse und Inventarlisten schreiben. Just to name a few.
Ich nahm mir meinen neuen frischen Kalender für das Jahr 2024 und beschloss, dass ich in diesem Jahr alles anders machen würde als im Jahr davor. Ich erspare dir und mir Fotos, aber beschreiben will ich kurz das Chaos, das zwischen den Kalenderseiten 2023 hervorquoll:
Es fing schön an und endete scheußlich. Ein schlankes schwarzes Buch, schlicht und fein. Der Umschlag glatt und gut zu greifen. Die Seiten nicht grell, sondern augenfreundlich mit einem Hint von beige. Eine Jahresübersicht vorne, dann ein Projektplan, dann das Jahr. Links die Woche, rechts eine freie Seite für Notizen. Hinten einige freie Seiten und eine kleine Tasche für Liebes, das nicht verloren gehen soll. Noch eine Stiftschlaufe außen. Fertig, wunderschön.
Der Vorsatz, 2023 mit dem immer gleichen Stift bedacht Einträge vorzunehmen, verpuffte in der zweiten Janauarwoche. Die Jahresübersicht ist zu einem unübersichtlichen Schreckensbild verkommen. Wirre Notizen zu Arbeit, Krankheit, Urlaube der Kolleg*innen, die ich gewissenhaft notiert habe, meinen eigenen natürlich nicht, denn ich hatte ja keinen, ha. Manche vergangene Tage habe ich durchgestrichen, manche weggeixt. Dann Lücken, Lücken, Lücken. Telefonnummern ohne Namen. Kulli, Bleistift, grau, schwarz, blaue Farbe. In den Wochenübersichten nahm ich viele schnelle Einträge vor, zwischen den Türen notiert, durchgestrichen. Wenn ich die freien blanken Seiten nicht für die Arbeit nutzte, dann lieber für gar nichts.
Und hier brach es mir langsam aber sicher das Herz.
Verstehst du, was da steht? Ja? Lies nochmal. Lies weiter. Dann verstehst du mich. Wir gehören zusammen.
2024 ist zum jetztigen Zeitpunkt, wie ich hier schreibe, 8% vergangen, mein neuer Kalender aber, er ist bereits gefüllt. Doch meine Arbeit ist eine Randnotiz. Hier verschwimmen die Grenzen, wo beginnt die Arbeit und wann passiert Freizeit? Mein Schreiben ist Arbeit,-
Hier bricht der Artikel unvermittelt ab und wird an einem Tag im März fortgeführt:
Wenn ich Briefe nach längerer Zeit wieder aufnehme oder mich einem Notizheft oder Tagebuch widme, in das ich schon länger nicht mehr geschrieben habe, dann beginne ich meistens mit folgendem Satz:
Es ist viel passiert.
Mein liebes Gespenst,
kennst du das? Es geschieht in kurzer Zeit so viel, dass du nicht hinterher kommst, darüber nachzudenken und mit Freund*innen darüber zu sprechen? Vielleicht kennst du es, wenn wir ähnlich ticken. Vielleicht bist du aber auch ein Mensch, der sofort und ohne viel Filter teilt, was du erlebst und bist damit vom Grundrauschen des Lebens umgeben, in das andere ohne Probleme eintauchen können, wenn sie wollen. Ich hingegegen trage das Grundrauschen in mir und überlege so lange herum, wie ich nach außen transportieren kann, was in mir vorgeht, dass-
Hier bricht der Artikel erneut ab.
(In der Ferne, ein Rauschen)
Heute
Mein liebes Gespenst,
eine Reise steht an. Morgen in der Früh werde ich aufbrechen. Zusammen werden wir ans Meer fahren, uns eine Insel erschließen und schreiben. Ich hoffe, dort zur Ruhe zu kommen. Im Koffer sind einige dicke Pullover, vier Bücher - Tove Ditlevsen, Shirley Jackson, Irvine Welsh und ein Schreibratgeber - Notizhefte, Stifte, und von mir selbst befüllte Teebeutel mit Kräutern. Es gibt nichts, woran ich gerade lieber denken möchte, außer daran, dass ich morgen um diese Zeit das Meer überqueren werde.
In meinem Kalender für dieses Jahr stehen heute nur noch Einträge zu Konzertbesuchen, Kurzurlauben, Lesungen, Geburtstagen, Feiern, außerordentlichen Begegnungen. Arbeiten gehe ich doch sowieso. Nun muss ich los. Ich werde Geschichten mitbringen und freue mich, sie zu teilen.
Herzlich
J.