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Gespensterbrief #13 - Nur Mut!

Mein liebes Gespenst,

ich sitze an einem alten Tisch in einem kleinen Holzhaus mit einem Fenster, dessen Glas, dünn wie Fingernägel, bei jedem Windhauch im Rahmen zittert. Wann zitterst du?

Auf der Plattform mit dem Vogel wird es immer ungemütlicher und wir müssen uns total abrackern, um noch von irgendwem gesehen zu werden. Dauernd bin ich froh, mich früh genug mit eigenen digitalen Räumen beschäftigt zu haben, so dass ich mich nun nicht komplett lost fühlen muss. Dennoch wünschte ich, ich hätte früher diesen Newsletter eingerichtet und mir diesen Schritt zugetraut. Es ist nämlich schön und tut nur selten weh. Bei dieser Sache hier geht es mir nicht nur darum, Kontakte zu halten und gelesen zu werden, sondern auch um Furcht und Mut. Ständig fürchte ich mich. Ich fürchte mich davor, mich an den Tisch zu setzen, die Mails zu checken, eine herzlose Absage zu erhalten, einen Text zu versenden, zu antworten, zu fragen, eine Rückmeldung zu bekommen, nie wieder angesehen zu werden.
Ich lese viele Bücher von Frauen, die darüber schreiben, wie sie gekämpft und gelitten haben, immer wieder am Patriarchat vorbei mussten, doch das ließ sie nicht. Stattdessen sollten sie sich lieber setzen und was anderes machen. Also machten sie was anderes, zum Beispiel eine Lehre zur Bürogehilfin und dann haben sie eben das, was sie eigentlich tun wollten, heimlich gemacht. Und dann fanden sie, nach jahrelangem Herumgeeiere doch einen Weg. Aber erst, nachdem sie Verbündete fanden, die jemanden kannten, der sie hineinschleusen konnte. Und dann waren zehn Jahre rum und erste Falten von tiefer Enttäuschung und Müdigkeit gruben sich ihnen in die Gesichter und gingen nicht mehr weg.

Zuletzt las ich Tove Ditlevsen - Kindheit, Jugend, Abhängigkeit und war tief berührt und sah darin auch: mich. Ich liebe sie dafür, dass sie geschrieben hat. Ich bedaure, dass sie nicht Kanon ist. Wo war sie, als ich 20 war? Ich hätte sie gebraucht.

Es kommt auf das Milieu an, darauf, wo man aufwächst und wie und manche bekommen als Kinder gesagt, sie könnten alles werden. Und sie machen dann später, was sie wollen und denken, es würde schon gut werden, denn ihr Urvertrauen sitzt so fest in ihrer Mitte, dass da nichts herankommen kann, was es zerstören oder gar berühren könnte. Es ist da. Sie bekommen Kinder, einfach weil es schön ist oder sich in ihrer Vorstellung vom Leben so gehört. Sie fahren in den Urlaub und pflegen Hobbys, sie gehen gern brunchen und haben jedes Wochenende etwas vor. Natürlich machen sie sich auch jede Menge Gedanken, aber vielleicht weinen sie dabei nicht so viel. Und sicher kann man all das auch tun, wenn die Startbedingungen nicht so rosig sind, es dauert nur alles viel viel länger und ist viel viel schwerer, als ohnehin schon.

Ein leichteres Herz für alle, die wissen, was gemeint ist.

Sagt mir, wovor fürchtet ihr euch inzwischen nicht mehr? Wie hat sich euer Verhältnis zur Furcht und zu dem, was euch ängstigte, verändert?

Die Tür öffnet sich und herein dringt ein Sonnenstrahl. Der Klimawandel mit seinem unendlich langen deprimierenden deutschen Winter macht, dass selbst ich den Frühling herbeisehne und verklatscht in der Sonne stehen bleibe, um kurz ihre Wärme zu genießen. Wenn es noch milder wird, beziehe ich vielleicht diese Hütte im haushohen Flieder, schreibe ein wenig, während das Fenster klappert und wenn die Tür sich öffnet, dann schließe ich sie nicht, sondern gehe raus.

Schwarz-weiß Foto von einem Waldweg im Winter. Links und rechts stehen kaum begrünte Bäume, der Weg ist mit Laub bedeckt.

Das Fenster zum Wald stand die ganze Nacht offen. Vögel nisten in der Kaffeemaschine, ein Igel schläft im Obstkorb. Grillenzirpen.

Schwarz-weiß. Dunstiger Nebel über einem Feld. Dahinter ist der Waldsaum.

Dunst über dem Stoppelfeld. Der Wald pulsiert, ein Morgenmeer. Nebel hängt über den Teetassen. Ich gebe Zucker hinzu und löse mich mit den Kristallen auf.

Schwarz-weiß Aufnahme kurz über dem Boden. Belaubter Waldboden und Bäume sind zu sehen.

Immer eine Entscheidung davon entfernt, diese Gesellschaft zu verlassen und im Wald unter Bäumen und Sträuchern zu leben.

Habt Sonne, lest, liebt und winkt den Ängsten doch mal aus der Ferne zu!

Jess

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