Gespensterbrief #11 - Viola odorata - Atmen

Mein liebes Gespenst,

eine samtene Schwere liegt mir heute auf der Brust und in meiner Seite steckt ein Kranich aus Papier.
Nun, da ich endlich wieder sprechen kann, lass mich dir sagen, vieles wird okay. Manche meinen "Alles gut", wenn man sie fragt, wie es so sei, aber niemals ist alles gut. Wenn man das verstanden und akzeptiert hat, wird es etwas leichter.

Es gibt allerhand Dinge, über die wir uns aufregen können, ich weiß. Aber das möchte ich heute nicht tun. Also: Vieles wird okay. Lass uns stattdessen spazieren gehen, in die Bahn einsteigen, in der nächstgrößten Stadt umsteigen und ankommen.

Ein jäher Duft berührt mich und trägt mich kurz zurück an einen vergessenen Ort, bis mich der Wind ganz im Hier und Jetzt verankert. Jasmin, denke ich. Doch der blüht noch gar nicht.

Wer weiß noch, wie Jasmintee schmeckt? (Öffnet in neuem Fenster)
Das erste Mal trank ich Jasmintee, als mir Oswald Henke einen Becher davon in die Hand gab.

Und auch Schwäne lieben sich
und der Pelikan frisst seine Brust
das Jademeer wird
rabenschwarz bei Nacht
und der Mond bricht sein
Gesicht in meterhohen Wellen
- Oswald Henke

Mond, wach

Unter einer Hecke sitzt ein Märzveilchen, ich geselle mich dazu und lese. Hildegard von Bingen nutzte es gegen Fieber und Melancholie. Auch heute nimmt man es bei nervösen Störungen, aber auch bei Erkrankungen der Atemwege oder Rheumatismus. Wenn man möchte, kann man die Blüten sogar über seinen Salat geben, sich an ihrem Anblick erfreuen und sie dann aufessen. 

Inmitten des aufkommenden jungen Frühlings bin ich dankbar für diesen Moment.

Kein Kranich

Mein liebes Gespenst, wonach roch der Frühling in deiner Kindheit? Für mich roch er nach Feuer und aufgewühlter Erde. Nach Wasser in grünen Gießkannen, nach Regenwürmern und Narzissen.

In meiner Seite steckt noch immer dieser Kranich. Das schrieb ich dir ja schon. Normalerweise leben sie in Sümpfen, Nieder- und Hochmoorlandschaften. Sie ernähren sich von kleinen Tieren und Pflanzen, ihr Gehör ist empfindlich sensibel ausgebildet. Wenn ihre Küken schlüpfen, dann leisten die Eltern Hilfe, indem sie mit der gerade rechten Kraft nach dem Ei treten. Die Schale bricht und das Küken kommt heraus. Die größte Bedrohung des Kranichs besteht im Rückbau ihrer Lebensräume. Entwässerung, Verstädterung, intensive Landwirtschaft vertreiben sie.

Eine samtene Schwere liegt mir auf der Brust, darin enthalten: ein schimmernder Sumpf, aus dem Blasen aufsteigen; Artax singt ein Lied. Schlingpflanzen, Beeren, eine Kröte, die den Weg kennt, ihn aber nicht verrät. Kein Küken. In meiner Seite steckt ein Kranich. In Schweden steht er als Frühlingsbote für die Ankunft von Wärme und Licht. Das bedeutet wohl: Vieles ist jetzt okay.

Wenn ich ihn erwisch hätte, dann hätte ich ihn Neon genannt. Mischung aus Neo - Matrix - und Leon - viele Kindergartenkinder in den Jahren 2010 - 2020.

Leider war Neon schneller als ich. 

Flieg nicht zu hoch, mein kleines Gespenst. Bis nächste Woche.

Deine Jess