Ein falsches Narrativ und die Verharmlosung von Antisemitismus
Die Gerichtsverhandlungen zur “Judenjagd” in Amsterdam offenbaren die strukturellen Hintergründe eines gezielten Angriffs auf israelische Fans – Medien entscheiden sich dazu, ein falsches Narrativ stehen zu lassen oder nicht darüber zu berichten.
Die jüngsten Enthüllungen im Rahmen der Gerichtsverhandlung in Amsterdam werfen ein alarmierendes Licht auf die Ereignisse der sogenannten „Judenjagd“ vom 12. November 2024. Unmittelbar nach den Gewalttaten etablierte sich in den Medien ein Narrativ, das die Auseinandersetzung als bloße „Schlägerei zwischen Hooligans und israelischen Fans“ darstellte. Diese verzerrte Darstellung ist nicht nur eine falsche Vereinfachung der Ereignisse, sondern auch ein Indikator für die soziale Mechanik, durch die Antisemitismus und Gewalt gegen Jüdinnen und Juden zunehmend trivialisiert werden. Es ist von zentraler Bedeutung, die Ursprünge dieses narrativen Framings zu analysieren und zu verstehen, wie es die gesellschaftliche Wahrnehmung beeinflusst und die Normalisierung von Hass und Gewalt gegenüber jüdischen Gemeinschaften fördert.
Bereits wenige Stunden nach der Attacke wurde deutlich, dass die Gewalt keineswegs aus einer spontanen Rivalität zwischen Fußballanhängern resultierte, sondern die Zuspitzung eines jahrelang geschürten Hasses darstellte, der sich vor allem in Chatgruppen manifestierte. Die Angreifenden, die sich dort zur Gewalt verabredet hatten, begaben sich am 8. November auf eine gezielte Jagd nach Fans des israelischen Vereins Maccabi Tel Aviv. Ihre antisemitische Rhetorik war eindeutig, sprachen doch von einem „Zug voller Juden“, der verspätet ankommen sollte – ein verachtenswerter Witz, der nicht nur die Opfer des Holocaust relativiert, sondern auch die Kontinuität antisemitischer Diskurse in der heutigen Gesellschaft aufzeigt.
Medial wurde dieses vereinfachende Narrativ rasch übernommen. Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) trug zur Relativierung der Gewalt bei. Obwohl sie von den belastenden Chatverläufen Kenntnis hatte, hielt sie an der Erzählung einer „Schlägerei zwischen verfeindeten Hooligan-Banden“ fest. Diese Berichterstattung stellte nicht die Brutalität der Übergriffe in den Vordergrund, sondern konzentrierte sich auf die Provokationen durch israelische Fans, etwa das Singen von Hassgesängen oder das Verbrennen einer palästinensischen Flagge. Hierbei wurde das tatsächliche Machtgefälle zwischen den Tätern und den Opfern ausgeblendet und ein verzerrtes Bild eines „normalen“ Konflikts zwischen rivalisierenden Gruppen gezeichnet. In dieser Konstruktion wurden die Opfer in eine Rolle gedrängt, die sie in keiner Weise verdienten.
Besorgniserregend ist zudem die Verharmlosung und Relativierung, die sich durch die Berichterstattung zieht. Ein weiterer Artikel der FAZ aus dem Dezember 2024 lässt die Verurteilten, die die Maccabi Tel Aviv-Fans angegriffen hatten, noch immer als potenzielle Opfer erscheinen, indem der Artikel die Möglichkeit einräumt, sich von den Vorwürfen zu distanzieren. Diese narrative Wende ignoriert nicht nur die antisemitische Agenda der Angreifenden, sondern setzt auch die Verzerrung des historischen Gedächtnisses fort. Es überrascht daher nicht, dass die FAZ aktuell zu den laufenden Verhandlungen schweigt.
Warum falsche Narrative so schnell verbreitet werden, lässt sich durch zwei zentrale Faktoren erklären. Zum einen ist da die kognitive Bequemlichkeit, denn ein einfaches, emotional aufgeladenes Narrativ ist für viele Menschen leichter zugänglich und verständlicher als komplexe, unangenehme und widersprüchliche Fakten. Zum anderen spielt die mediale Agenda eine entscheidende Rolle. Sie bedient – bewusst oder unbewusst – bestehende Narrative, um schnelle und leicht verdauliche Erklärungen für komplexe Ereignisse zu liefern. Dabei werden tiefere gesellschaftliche und politische Zusammenhänge ausgeblendet oder ignoriert, was zu einer verzerrten Darstellung der tatsächlichen Geschehnisse führt und die Wahrnehmung der Öffentlichkeit in eine bestimmte Richtung lenkt.
Im Fall der „Judenjagd“ wird deutlich, wie gefährlich und weitreichend diese Mechanismen sind. Indem ein falsches Narrativ von „Hooligans gegen israelische Fans“ verbreitet wird, wird nicht nur die antisemitische Motivation der Angreifenden verschleiert, sondern auch die Perspektive der Angegriffenen systematisch ausgeblendet. Ein vermeintlich „normaler“ Konflikt wird konstruiert, der die wahren Ursachen der Gewalt verharmlost und den Antisemitismus als Randerscheinung darstellt. Auf diese Weise wird der Schaden, den falsch übernommene Narrative anrichten, immer offensichtlicher. Es wird verhindert, dass die Gesellschaft die tatsächliche Dimension des Antisemitismus begreift, Opfer werden unsichtbar und das Verhalten der Täter wird relativiert.
Falsche Narrative in der Berichterstattung über antisemitische Vorfälle gefährden die historische Wahrheit und das gesellschaftliche Klima. Sie ermöglichen es, Antisemitismus als etwas „Normales“ darzustellen, das Teil eines alltäglichen Konflikts ist, statt als das, was er ist, nämlich eine tief verwurzelte Ideologie des Hasses. Medien tragen eine immense Verantwortung, Narrative nicht nur zu hinterfragen, sondern auch Verantwortung für die Geschichten zu übernehmen, die sie erzählen. Nur so kann der verbreitete Antisemitismus wirksam bekämpft werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die falsche Darstellung der „Judenjagd“ als „Konflikt zwischen Hooligans und israelischen Fans“ die tiefer liegenden Ursachen der Gewalt verschleiert und Antisemitismus relativiert. Indem sowohl die antisemitische Motivation der Angreifenden sowie die Perspektive der Opfer ausgeblendet werden, entsteht ein verzerrtes Bild der Ereignisse, das die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem Problem des Antisemitismus erschwert. Nur durch eine klare und differenzierte Darstellung kann eine wirksame Auseinandersetzung mit dieser Ideologie und ihrer Verankerung in der Gesellschaft erreicht werden.
Zum Hintergrund und zur weiteren Einordnung:
Fünf Männer wegen Gewalt gegen israelische Fußballfans verurteilt (Öffnet in neuem Fenster)
@FAZ vom 24.12.2024
Weitere Urteile nach Ausschreitungen gegen Israelis in Amsterdam (Öffnet in neuem Fenster)
@Zeit Online vom 19.03.2025
Neue Enthüllungen zur Amsterdamer »Judenjagd« (Öffnet in neuem Fenster)
@Jungle World vom 19.03.2025
Wieder Urteile gegen »Judenjagd«-Teilnehmer (Öffnet in neuem Fenster)
@JA 21.03.2025