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“Wir müssen neu über die Frage nachdenken, was bleibt”

Ich habe vor ein paar Tagen bemerkt, dass ich offenbar pluviophil bin. Als es für einen Moment trocken war, setzte ich mich mit der Süddeutschen Zeitung auf die Terrasse und las einen Artikel über Regen. Ein sehr empfehlenswerter Text (Öffnet in neuem Fenster) darüber, warum der Sommerregen riecht, wie er riecht, warum manche Menschen besser schlafen, wenn es regnet und warum sich manche über Regen freuen und es genießen, am Fenster zu stehen und ihn zu beobachten. Solche Menschen sind pluviophil, regenliebend.

Die vergangenen zwölf Monate haben in Deutschland so viel Regen gebracht wie noch nie seit 1881, dem Beginn der Wetteraufzeichnungen, wie es immer so schön in den Nachrichten heißt. Es fühlt sich an wie eine Verschnaufpause von den Hitze- und Dürrejahren, fast wie früher, ein Sommer mit Sonne, Schauern und Gewittern. Pluviophilen macht das natürlich wenig aus.

Allerdings sollten wir uns vom Wetter nicht täuschen lassen, denn es gibt noch eine andere Nachricht aus dieser Woche: Sonntag, der 21. Juli 2024, war laut dem EU-Beobachtungsdienst Copernicus (Öffnet in neuem Fenster)der heißeste jemals gemessene Tag. Die Durchschnittstemperatur habe auf der Erde 17,09 Grad betragen, teilte Copernicus mit. Seit Juni 2023 ist darüber hinaus jeder Folgemonat heißer als alle zuvor. Bisher war 2023 das wärmste Jahr aller Zeiten. 2024 könnte diesen Rekord brechen.

Die Normalität, die uns der verregnete Sommer in Deutschland gerade vortäuscht, ist also nicht viel mehr als eine Erinnerung daran, wie ein Sommer ohne menschengemachten Klimawandel sein könnte. Ich möchte allerdings nicht trauern, sondern eine Perspektive finden, aus der sich berechtigte Hoffnung schöpfen lässt, dass die ungewisse Zukunft, die uns bevorsteht, nicht einfach über uns hereinbricht, sondern etwas ist, das wir gestalten können.

Foto: Alex Dukhanov

Ich werde in der heutigen Ausgabe den Gedanken entwickeln, dass die Klimakrise uns ein neues Zeitbewusstsein gibt, weil wir langsam spüren, dass wir anders auf unsere Gegenwart, Zukunft und die einmal endende Grenze unserer Lebenszeit blicken. Wir spüren, wie groß die temporale Verantwortung ist, die wir für alle künftigen Generationen tragen, und dass das Bewusstsein für diese Tatsache in politische Antworten übersetzt werden muss. Antworten, die wir noch nicht gefunden haben. Es ist eine lange, etwas andere Ausgabe der inseln der zeit geworden, ein Essay über das Verhältnis von Klima und Zeit.

Bevor ich mich mit diesem Text in die Sommerpause verabschiede, möchte ich noch einmal alle einladen, die die inseln der zeit gerne lesen, und die dazu in der Lage sind und es möchten, meinen Newsletter und meine Arbeit finanziell zu unterstützen. Ich habe mich entschieden, auch diese Ausgabe allen Abonnent*innen frei zur Verfügung zu stellen. Es ist mir wichtig, hier kein Produkt zu verkaufen, weil ich den Newsletter und die Plattform Steady (Öffnet in neuem Fenster) als einen Ort sehe, der sich den üblichen Verwertungslogiken entzieht und die Idee, ein Produkt anzubieten, für das die Konsument*innen bezahlen müssen, sei es mit Geld oder Daten, aufzuheben versucht. Diese Idee, die sich auch in anderen künstlerischen Bereichen gerade erfolgreich entwickelt, in der Musik etwa mit der Plattform Fanklub (Öffnet in neuem Fenster), möchte ich weiter verfolgen und unterstützen.

Ich bin tatsächlich sehr dankbar, dass die Creator*innen und das Publikum der unterschiedlichen Publikationen, die auf Steady erscheinen, und für mich natürlich speziell die Leser*innenschaft der inseln der zeit so etwas wie eine Gemeinschaft darstellen, die sich außerhalb von sozialen Medien und klassischen Verlagsstrukturen gefunden hat. Da gibt es so viele tolle Publikationen, etwa Das Leben des Brain (Öffnet in neuem Fenster) von Bent Freiwald, die Zwischenzeit_en (Öffnet in neuem Fenster) von Teresa Bücker, Dear Daniel (Öffnet in neuem Fenster) von Daniel Schreiber oder Fast Sommer (Öffnet in neuem Fenster) von Mareice Kaiser.

An diesem Ort, den inseln der zeit, kann sich diese Gemeinschaft manchmal in einem engeren Sinn und manchmal in einem sehr weiten Sinn Gedanken über den Umgang mit Zeit machen, und die hier erscheinenden Texte als einen Anstoß oder Abstoßpunkt begreifen, um eine Haltung und einen selbstbestimmten, überzeugten Umgang mit diesem so wichtigen Thema zu finden.

Ich freue mich über eine finanzielle Unterstützung (ab 3€/Monat), die es mir erleichtert, mir Zeit für diesen Newsletter zu nehmen:

Als kleines Dankeschön erhalten alle, die bis Freitag, 26. Juli eine Mitgliedschaft abschließen, eine digitale Ausgabe meines Buchs Zeitwohlstand für alle. Alle, die sich für das Paket Zeitgeber*in (Öffnet in neuem Fenster) als Jahresabo entscheiden, erhalten sogar eine gedruckte Ausgabe per Post. Das Buch ist ansonsten unter anderem auch bei Amazon, (Öffnet in neuem Fenster) direkt beim Verlag (Öffnet in neuem Fenster) oder gebraucht bei Medimops (Öffnet in neuem Fenster)erhältlich.

Ich fange aber jetzt noch einmal neu an, und zwar in Bremen, wo es gerade die Bremer Stadtmusikanten erwischt hat. Schwarze Farbe läuft dem Hahn hinunter auf die Katze, den Hund, den Esel und schließlich auf den Sockel der berühmten Bronzestatue. Es handelt sich um eine Protestaktion der Letzten Generation. Mehrere Aktivist*innen der Klimabewegung haben die unter Denkmalschutz stehende Figurengruppe mit Kunstöl überschüttet.

Sie stehen mit einem großen Banner in den Händen davor, als die Polizei eintrifft: Keine sichere Zukunft mit politischen Märchen ist darauf zu lesen. Die Geschichte der Bremer Stadtmusikanten wurde bekanntlich von den Brüdern Grimm erzählt. Sie handelt von der Aussicht auf ein besseres Leben, an einem sicheren Ort.

Wie der NDR berichtet, (Öffnet in neuem Fenster) forderten die Aktivist*innen Bürgermeister Andreas Bovenschulte auf, den Ernst der Klimakrise anzuerkennen. Außerdem solle er eine Erklärung der Letzten Generation öffentlich verlesen. Der Bremer Senat lehnte dies laut dem Bericht ab. Stattdessen wurden die Spuren der Aktion schnell beseitigt. Die Feuerwehr machte die Figuren sauber und stellte der Letzten Generation dafür 240 Euro in Rechnung. Ob die Tiere damit auch ihre Hoffnung auf eine sichere Zukunft wiedererlangt haben? Etwas Besseres als den Tod findest du überall, heißt es im Märchen. Ein Satz, der in Zeiten der Klimakrise seltsam klingt.

Doch Sorgen um unsere Lebensgrundlage dringen in diesem, wie erwähnt, nur für Regenliebende schönen Sommer, dessen Nachrichtenlage von politischen Wahlen geprägt ist, kaum durch. Dass die Klimakrise in Frankreich, den USA oder bei den anstehenden Landtagswahlen eine besondere Rolle spielt, ist nicht zu erkennen. Die Letzte Generation ist nicht in der Lage, das zu ändern. Sie erregt mit ihren Aktionen kaum noch Aufsehen. Auch nicht, als mindestens 300 Aktivist*innen Mitte Juli erneut in Bremen protestieren und eine stark befahrene Kreuzung am Hauptbahnhof blockieren. Die Polizei muss Wasserwerfer einsetzen, um die Aktion nach mehreren Stunden aufzulösen.

Noch vor einem Jahr hat die Bewegung das Nachrichtengeschehen in Deutschland bestimmt. Damals mischten sich in die anfängliche Zustimmung zunehmend Ablehnung, Feindseligkeit und sogar Gewalt. Die Straßenblockaden und Farbattacken, mit denen die Protestierenden auf die Dringlichkeit klimapolitischer Anstrengungen aufmerksam machen wollten, schienen ihr Ziel zu verfehlen. Statt über Klimapolitik wurde über die Legitimität der Protestformen diskutiert. Die Letzte Generation wurde nicht ernstgenommen.


Das Festkleben auf den Straßen ist inzwischen Geschichte. Die Bewegung hat ihre Strategie geändert. Auch, weil es innerhalb der Gruppe wachsenden Unmut und Frustration über die ausbleibenden Erfolge gab. Einen Sommer später ist es, von einzelnen Aktionen wie in Bremen, die aber eben kaum noch Aufmerksamkeit erregen, recht still um die Bewegung geworden. Der Verkehr fließt wieder, mehr oder weniger, und die Stadtmusikanten sind wieder sauber. Geblieben aber sind die Fragen, die die Letzte Generation aufgeworfen hat.

Wie der Name der Bewegung bereits anzeigt, geht es ihr um Fragen, die den politischen Umgang mit Zeit betreffen. Wir sind die Letzte Generation, die den Kollaps unserer Gesellschaft noch aufhalten kann. Die Aktivist*innen machen auf den wichtigen Umstand aufmerksam, dass sich die Klimakrise nicht allein durch besseren Umweltschutz und Erfindergeist lösen lässt, sondern durch eine Verständigung über politische Maßnahmen, die das gesamte Zusammenleben von Gesellschaften betreffen. Mit Gesellschaften meinen sie auch Menschen, die noch gar nicht geboren sind, von den Klimafolgen aber stärker betroffen sein werden.

“Wir sind an einem einzigartigen Zeitpunkt der Menschheitsgeschichte, weil sich unser Planet von den Schäden, die wir gerade anstoßen, nicht in absehbarer Zeit erholen kann”, sagt Aktivist und Sprecher der Letzten Generation Christian Bergemann. Nach Kriegen oder einzelnen Naturkatastrophen hätten Städte und Infrastruktur wieder aufgebaut werden können, sagt er. “Wenn die Katastrophen aber alle paar Jahre kommen, werden ganze Regionen unbewohnbar. Dann können wir uns auch in Deutschland nicht mehr ernähren.” Darauf weise die Wissenschaft seit Jahrzehnten hin. Die meisten Menschen würden die Gefahr aber verdrängen. “Seit Jahren sehen wir, dass unsere zukünftigen Interessen nicht genug beachtet werden. Unsere Parlamente sind für vier oder fünf Jahre gewählt. Sie schaffen es offensichtlich nicht alleine, eine Politik zu machen, die dafür sorgt, dass wir in 20 Jahren noch genug zu essen haben”, so Bergemann.

Mit der Einsicht in die Zeitdimensionen der Klimakrise und dem daraus entstehenden politischen Handlungsdruck wird aus Klimapolitik, die scheinbar von anderen Politikfeldern abgrenzbar ist, Zeitpolitik. Sie muss gestalten, wann, in welcher Geschwindigkeit und in welchen Zukunftshorizont hinein Maßnahmen gegen die Klimakrise unternommen werden müssen. Und auf welcher demokratischen Grundlage dies geschieht. Zu diesen zeitpolitischen Fragen gehören zum Beispiel:

  • Welche Mittel sind erlaubt, um politisch Verantwortliche zum rechtzeitigen Handeln zu bewegen?

  • Welche Restriktionen der Gegenwart rechtfertigen Folgen, die sich erst in der Zukunft zeigen?

  • Welche sich abzeichnenden Bedrohungslagen erfordern bei welcher Wahrscheinlichkeit welche präventiven politischen Maßnahmen?

Es gibt bisher keine demokratischen Prozesse und keine gesellschaftlichen Aushandlungsformen, die Antworten auf diese und ähnliche Fragen geben. Es ist daher nur logisch, dass sich mit der Letzten Generation eine Form des Widerstands regt, der die Zeit-Dimensionen ins Zentrum rückt und sogar im Namen trägt.


Revolte gegen die Langsamkeit

Die Letzte Generation richtet sich also gegen eine Gesellschaft, die zukunftsvergessen, zu langsam und zu spät handelt. Und sie tritt ein für Generationen von Menschen, die noch gar nicht auf dieser Welt sind und ihre Interessen demzufolge noch nicht vertreten können. Ihr Protest ist, um eine fast 100 Jahre alte Formulierung des österreichischen Schriftstellers Stefan Zweig aufzugreifen, eine Revolte gegen die Langsamkeit.

Vor fast einem Jahrhundert veröffentlichte Zweig, damals einer der meistgelesenen Autoren Europas, einen Text über die Folgen politischer Langsamkeit, den ich bereits in einer früheren Ausgabe (Öffnet in neuem Fenster) aufgegriffen habe, und der sich heute liest wie ein Kommentar zu den dramatischen Klimafolgen und der Einforderung einer adäquaten politischen Antwort darauf. Es geht heute, und es ging Zweig damals, um die Unfähigkeit, absehbaren gesellschaftlichen Schaden abzuwenden, der um ein Vielfaches größer wäre als die Anstrengungen, die man einsetzen müsste, um ihn von vornherein zu verhindern.

“Immer muss erst ein Bergwerksschacht einstürzen und Hunderte Menschen begraben, ehe man fragt, welche Vorsichtsmaßregeln versäumt wurden. Immer erst ein Theater verbrennen, ehe man für Sicherheiten sorgt; immer erst ein Krieg ausbrechen, ehe man sich erinnert, was an tätigem Friedenswillen vernachlässigt wurde. Immer muss etwas gewaltsam Aufrüttelndes sich ereignen, damit das egozentrische Denken des Menschen sich von den eigenen Interessen zu den allgemeinen wende.”

Stefan Zweig, dessen Bücher später von den Nazis verbrannt wurden, verfasste seinen Text unter dem Eindruck des Aufstiegs der NSDAP und deren Wahlerfolg im Jahr 1930. Er spricht darin, wenn auch in anderem Kontext, von einer zu bejahenden Revolte der Jugend gegen die Langsamkeit und Unentschlossenheit der Politik. Er spricht von einer Jugend, ungeduldig und radikal wie jede richtige Jugend, die sich aus Enttäuschung und Entrüstung gegen die hinauszögernde Politik wendet und rasche, radikale Behandlung statt der endlosen diplomatischen Verzögerungen fordert.

Ein Satz scheint direkt auf die Diskussion zu zielen, die zuletzt um die umstrittenen Proteste der Letzten Generation geführt wurde – einer Gruppe nebenbei bemerkt, die das radikale Protestpotenzial einer Klimabewegung allenfalls andeutet: „Die stattgehabte Radikalisation war im tiefen nichts als eine sehr berechtigte und sehr notwendige, eine vielleicht gefährliche, aber doch unaufhaltsame Explosion einer kollektiven Enttäuschung von Millionen über das Tempo der Politik.“

Stefan Zweig kritisiert die Geschwindigkeit politischer Reaktion und damit auch den mangelnden vorausschauenden Charakter. Während ein “Klüngel alter Männer” den Entwicklungen taten- und verantwortungslos gegenüberstehe, habe die Jugend einen besseren Instinkt für die bestehenden gesellschaftlichen Gefahren. Ihre Radikalisierung sei eine Warnung gegen die Langsamkeit der politischen Entscheidungen und deshalb zu begrüßen.


Lässt sich sozialer Wandel beschleunigen?

Von einer Begrüßung der Radikalisierung junger Menschen, wie sie bei der Letzten Generation zu beobachten ist, ist allerdings wenig zu spüren. Nur 13% der Teilnehmenden einer im Sommer 2023 durchgeführten repräsentativen Umfrage (Öffnet in neuem Fenster) hielten die Aktionen der Letzten Generationen für gerechtfertigt. Obwohl vielleicht niemals auf so existenzielle Weise die Interessen künftiger Generationen auf dem Spiel standen, haben es junge Menschen schwer, ernstgenommen zu werden. Stattdessen müssen sie sich, wenn sie einmal eine größere Bühne bekommen, in politischen Talkshows vorführen lassen oder werden belächelt, wenn sie neue Impulse für das eingefahrene demokratische System anbieten.

Oder haben sie sich das alles etwa selbst zuzuschreiben?

Tatsächlich nutzt die Letzte Generation ihre Öffentlichkeitsarbeit oft, um über die Gefängnisaufenthalte, laufenden Ermittlungen und Spendenaufrufe für die zu Strafgeldern verurteilten Mitglieder zu sprechen. So unglaublich das ist, dass Klimaaktivist*innen auf Grundlage von Gesetzen, die für den Schutz vor Terrorismus geschaffen wurden, in Gewahrsam landen, wirkt diese Außendarstellung dennoch selbstbezogen.

Als die Aufmerksamkeit für die Bewegung vor einem Jahr am größten war, war wenig zu hören über konkrete Forderungen, Fortschritte und mögliche weitere strategische Ziele oder auch über Reaktionen auf die an sie gerichtete Kritik und einen möglicherweise daraus resultierenden Dialog.

Unklar bleibt zudem, ob die Bewegung mit ihren Störaktionen nicht sogar die Bereitschaft zu klimapolitischen Veränderungen verringert und von den eigentlichen Sachfragen ablenkt. Oder aber, ob nicht genau diese Störung notwendig ist, um die Bevölkerung zu erinnern, dass die Aufrechterhaltung eines Alltags, wie wir ihn kennen, nichts als ein Trugschluss ist – ein Trugschluss, von dem uns die Letzte Generation mit ihrem unangenehmen Protest befreien will.

„Politischer Wandel kommt nicht schneller, indem man zu radikaleren Maßnahmen greift”

Zu dieser entscheidenden Frage äußerte sich dann letzten Sommer auch die Klimaaktivistin Luisa Neubauer in einem Interview (Öffnet in neuem Fenster) – und grenzte sich von der Bewegung ab. Sie positionierte sich selbstbewusst als Vertreterin der erfolgreicheren und etablierten Klimabewegung Fridays for Future. Unschwer ist ihren Aussagen zu entnehmen, dass sie die Konkurrenz als weniger reif und als zu emotional darstellen möchte: „Ich finde es sehr besorgniserregend, dass junge wie alte Menschen so verzweifelt sind, dass sie sich nicht anders zu helfen wissen, als sich auf die Straße zu kleben.“ Sie will damit offenbar sagen, dass sie die Aktionen der Letzten Generation nicht für strategischen Protest hält, sondern für eine impulsive, unüberlegte, um nicht zu sagen, unfähige Reaktion verzweifelter Menschen.

Die Konkurrenz der Klimabewegungen ist aus zeitpolitischer Sicht weniger interessant. Bemerkenswert sind aber Neubauers Äußerungen über die Wirksamkeit und Legitimation der Proteste. Sie sagt, es gebe ein Missverständnis, wie Wandel passiere und wie man ihn beschleunigen könne: „Politischer Wandel kommt nicht kategorisch schneller, indem man zu radikaleren Maßnahmen greift.“ Sondern: „Ein schneller Wandel kommt dadurch, dass man noch strategischer wird. Und deswegen ist es gerade die große Aufgabe, strategisch zu bleiben – gerade, wenn die Zeiten hart werden.“

Dies sind tatsächlich ganz zentrale Fragen der klimapolitischen Diskussion: Lässt sich der notwendige soziale Wandel durch strategisches Handeln kontrollieren und beschleunigen? Wie lässt sich eine so zähe Angelegenheit wie gesellschaftlicher Wandel, der sich normalerweise über Jahrzehnte und Jahrhunderte erstreckt, innerhalb einer (letzten) Generation vollziehen, die die schlimmsten Folgen der Klimakatastrophe noch aufhalten kann?

Es wird ein großes Dilemma deutlich: Sozialer Wandel, gesellschaftliche Anpassung und politische Entscheidungsfindung sind langfristige und zeitintensive Prozesse, deren Eigenzeiten nicht mit den Vorgängen der Natur übereinstimmen. Es besteht keine Chance, mit der Natur darüber zu verhandeln, wie stark sich die Erde aufheizt, wann bestimmte Kipppunkte erreicht werden und wann und wo sich die nächste Naturkatastrophe ereignen wird.

Es bleibt auch keine Zeit mehr zu hoffen, dass die Klimakatastrophe ausbleibt oder nicht ganz so dramatisch verläuft. Die Folgen, die den Menschen ihre Lebensgrundlagen nehmen, sind insbesondere im Globalen Süden längst Realität. Sie führen dort schon heute dazu, dass Menschen die Hoffnung auf ein besseres Leben verlieren. Politische Verzögerung, Relativierung und Leugnung ändern nichts an diesen Vorgängen.


Rechtfertigt der Zeitnotstand eine radikale politische Reaktion?

Der Politikwissenschaftler und Zeitforscher Jürgen P. Rinderspacher beschreibt dieses Dilemma in seinem aktuellen Buch Politik im Zeitnotstand (Öffnet in neuem Fenster). Er diskutiert darin, wie sich die Notwendigkeit, die Anpassung an die Klimakrise dramatisch zu beschleunigen, in Einklang bringen lässt mit der ebenso zwingenden Notwendigkeit, die Gesellschaft für diesen Wandel zu gewinnen und ihn politisch zu legitimieren – eine Gesellschaft wohlgemerkt, die von dem Soziologen Steffen Mau als „veränderungsmüde“ beschrieben wurde. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck sprach von einer “Krisenerschöpfung” in der Bevölkerung.

Die Letzte Generation scheint das weniger zu interessieren. Sie legitimiert ihren Protest mit dem bestehenden und unbestrittenen Zeitdruck, und bemüht sich dabei auch nicht sonderlich um gesellschaftliche Akzeptanz.

Rinderspacher erklärt dieses Vorgehen folgendermaßen:

“Mit Verweis auf die gefährdeten Lebensbedingungen künftiger Generationen, die sich unzweifelhaft aus wissenschaftlichen Studien herleiten ließen, soll die Geschwindigkeit des Umbaus der Gesellschaft durch Straßenblockaden und symbolische Beschädigung von Kunstwerken, also durch öffentlichen Druck, erhöht werden. Indem das Exzeptionelle, Einmalige der Lage, in der sich die Welt befinde, besonders akzentuiert wird, wird am Ende nicht nur Zeitdruck produziert, der zweifellos vorhanden ist.”

Vielmehr gehe es nun um etwas, was wesentlich mehr beinhalte: „die Propagierung einer bestimmten Art von gesellschaftlichem Notstand – Zeitnotstand –, mit dem die Maßnahmen zur Bekämpfung einer künftigen katastrophalen Lage gerechtfertigt werden.

Das beschriebene zeitpolitische Dilemma zeichnet aus, dass wir uns in einer sozial-ökologischen Transformation befinden, also einer zugleich sozialen und ökologischen Entwicklung. Die Reaktion auf die Klimakrise kann demnach nicht nur in der Entwicklung und Anwendung von Technologie bestehen. Es handelt sich vielmehr um eine soziale und kulturelle Anpassung, die sich über Generationen erstreckt und in die eine Gesellschaft hineinwachsen muss.

Titelbild: Paul Hanaoka

Die Gesellschaften, die die sozial-ökologische Wende vollziehen, benötigen keine Politik, die Lösungen unter Zeitdruck erarbeitet. Sondern das Gegenteil: einen Politikmodus von ausreichender Langsamkeit, der zu Entscheidungen, Institutionen und Verfahren führt, die die Interessen unserer Nachfahren berücksichtigen und zugleich die bestehenden kulturellen, rechtstaatlichen und demokratischen Errungenschaften der heutigen Gesellschaft bewahren und die in der Gegenwart breite Zustimmung finden.

Es braucht eine demokratisch, rechtlich und philosophisch fundierte Aushandlung, welche Interessen heutiger und welche Interessen späterer Generationen gewahrt werden müssen. Dieser Aushandlungsprozess braucht Zeit – Zeit, die nicht mehr vorhanden ist.

Dieser Widerspruch der Geschwindigkeiten und die Betonung der sozialen Seite der sozial-ökologischen Wende kommt in bisherigen Diskussionen zu kurz. Dass alle Lösungen längst auf dem Tisch liegen, wie häufig zu hören ist, ist schlicht falsch. Es ist völlig unklar, wie die Klimaanpassung und der Ausstieg aus der fossilen Energie aussehen können, wenn sie nicht nur klimaneutral sein, sondern auch sozial und demokratisch ausgestaltet sein sollen, und dabei zugleich die Interessen und Rechte künftiger Generationen einbeziehen müssen.

Die Frage “Was bleibt?” bekommt eine ganz neue Bedeutung

Wie Rinderspacher aufzeigt, ließ sich in der Coronazeit beobachten, wie demokratische Verfahren unterlaufen werden, wenn Politik unter einem zu starken Zeitdruck agiert. Als ich vor einer sich heute endlos lang anfühlenden Zeit einmal um kurz nach 22 Uhr mit dem Auto heimfuhr, konnte ich kaum glauben, dass ich da gerade etwas Verbotenes tat. Ich widersetzte mich der vom Land verhängten und damals bereits wissenschaftlich umstrittenen Ausgangssperre. (Radfahren wäre okay gewesen, jedenfalls bis 24 Uhr und allein.)

Politik unter Zeitdruck unterliegt der Gefahr, Menschen Freiheitsrechte zu nehmen, demokratische Verfahren und Organe zu unterlaufen und – man kann es am genannten Beispiel gut sehen – völligen Irrsinn zu entscheiden. Das erzeugt Widerstand, von dem allzu häufig rechtsextreme Parteien profitieren. Davon zeugt auch Stefan Zweigs Bericht über die Revolte gegen die Langsamkeit, die damals eine Reaktion unter anderem auf Inflation, Arbeitslosigkeit und Rezession war. Sie fand ihren Ausdruck auch in einem Zulauf zur nationalsozialistischen Partei, weil die etablierte Politik keine Mittel fand, um den bestehenden Problemen rechtzeitig zu begegnen.


Wie sehen die Konturen einer Klimademokratie aus?

Erforderlich sind also konstruktive Diskurse und demokratisch legitimierte Institutionen und Verfahren, die die gegenwärtigen Interessen der Menschen und die Interessen künftiger Generationen ausbalancieren. Angesichts der drohenden Klimakatastrophe müssen nicht nur Individuen, sondern ganze Gesellschaften langfristiges Denken einüben und die Lebensrealität von Menschen in ihr Handeln einbeziehen, die noch gar nicht leben.

Dass das keine besonders einfache Operation ist, ist in der Forschung lange bekannt. In den Wirtschaftswissenschaften gibt es dafür den Begriff der Zeitpräferenz, demzufolge Menschen dem Hier und Jetzt größere Priorität einräumen und zukünftige Bedürfnisse demgegenüber vernachlässigen. Zeitforscher*innen sprechen auch von Diskontierung, um zu beschreiben, dass Menschen Ereignisse weniger wertschätzen, je weiter sie in der Zukunft liegen (dazu empfehle ich den Artikel Wieviel Wert hat das Ferne? des Zeitforschers Fritz Reheis in der neuen Ausgabe des Zeitpolitischen Magazins (Öffnet in neuem Fenster)).

Ein Kennzeichen der letzten Generation, die die Klimakatastrophe noch aufhalten kann, ist also auch, dass sie einen ganz neuen Handlungsraum eröffnen muss. Darin ist sie nicht mehr nur für sich selbst und vielleicht noch für die eigenen Kinder verantwortlich, sondern sie muss letztlich das Leben und Überleben aller folgenden Generationen sichern. Langsam erkennen wir, dass die bisherige individualistische Sicht auf die eigene begrenzte Lebenszeit nicht mehr weit genug trägt. Das bestmögliche aller Leben ist jetzt auch das Leben der künftigen Generationen. Die Klimakrise weist über das Leben eines Menschen hinaus.

Diese sich im Stillen vollziehende und bisher selten thematisierte Verschiebung im Lebenszeitverständnis der Individuen erfordert nicht nur eine persönliche Neubewertung dessen, was vom Leben bleiben soll. Sie verlangt auch ein neues Verständnis von Zukunftsethik und eine Erweiterung politischer Partizipationsformen, die die Interessen der jungen Generationen politisch, rechtlich und sozial absichern. Angesichts der Überschreitung planetarer Grenzen und der drohenden Erreichung weiterer Kipppunkte muss eine Klimademokratie ein höheres Tempo des klimapolitischen Fortschritts erreichen und zugleich die Langsamkeit langfristiger, Generationen übergreifender Interessenvertretung etablieren.

„Wir sind nie mit dem Ziel auf die Straße gegangen, uns beliebt zu machen”

Auf diese Notwendigkeiten will die Letzte Generation aufmerksam machen. Sie fordert ein strukturiertes Vorgehen gegen die Klimakrise, wählt aber, um das zu erreichen, die unstrukturierte, teilweise Chaos stiftende Form des Protests und der Konfrontation. Möglicherweise ist das eine notwendige Voraussetzung und die Letzte Generation sollte tatsächlich nicht in erster Linie aufklären oder auf den Gewinn von Sympathien aus sein. Vielleicht benötigt die Gesellschaft die Bilder der sich aufreibenden Protestierenden, um sich selbst in ihnen zu erkennen.

Womöglich ist jene Verzweiflung, die aus der Bewegung spricht, keine Unprofessionalität, sondern der authentische Ausdruck einer Hoffnungslosigkeit, die viele, vor allem junge, aber auch viele ältere Menschen spüren. Die Letzte Generation ist buchstäblich die Stimme der Straße, die das Schweigen der vielen Verzweifelten bricht, die die emotionale Belastung, die juristischen Risiken und den Zeitaufwand scheuen, die mit den Protesten unweigerlich verbunden sind. Wie bequem ist es, vom heimischen Sofa aus zu kritisieren, dass die Protestform unzureichend ist? Protest darf vieles sein, aber sicher nicht bequem.

Zu diesem Schluss kommt auch Lea-Maria Rhein, Aktivistin der Letzten Generation. „Wir sind nie mit dem Ziel auf die Straße gegangen, uns beliebt zu machen. Wir sind mit dem Ziel auf die Straße gegangen, Druck auf die Regierung auszuüben“, antwortete sie mir in einem Interview (Öffnet in neuem Fenster) auf die Frage, ob ihr der Rückhalt der Bevölkerung unwichtig sei. „Wenn wir in die Geschichte schauen, waren Protestbewegungen niemals beliebt“, meint sie, dennoch hätten sie große Veränderungen hervorgebracht. Ob man das auch über die Letzte Generation einmal sagen wird, ist im Sommer 2024, in dem der Klimaprotest leise geworden ist, schwer zu beantworten.

Wird der begossene Hahn aus Bremen die Menschen wachgerufen haben? Wird er sie daran erinnert haben, dass es einen sicheren Zufluchtsort gibt, nämlich eine bessere, gestaltbare Zukunft? Werden sie begriffen haben, dass sie nicht nur die letzte Generation vor den Kippunkten sind, sondern auch die erste Generation, für die sich alles ändert, und die alles anders machen kann?

Quelle: Letzte Generation

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