Nach ein paar Wochen Pause
habe ich langsam meinen gewohnten Rhythmus des Alltags wieder aufgenommen. Ich habe es geschafft – was als Selbstständiger nicht selbstverständlich ist – über einen längeren Zeitraum nicht zu arbeiten, keine Mails zu lesen und mich nicht in den beruflich assoziierten sozialen Medien blicken zu lassen.
Zwangsläufig gelange ich irgendwann, je länger die Pause dauert, an den Punkt, an dem ich mich frage, warum ich all diese Dinge normalerweise überhaupt tue. Zeit mit den Kindern, Reisen, Garten- und Hausarbeit und das ungestörte und ziellose Lesen von Büchern sind erfüllend genug, wie ich irgendwann erleichtert feststelle.
Vielleicht brauche ich die berufliche Arbeit gar nicht so sehr für mein Empfinden von Wirksamkeit und Selbstwert. Das Gefühl, wenn endlich der Gartenzaun neu gestrichen ist, der Grünbelag-Entferner seine Wirkung zeigt und die letzte Fuge im Terrassenboden ausgekratzt ist, ist eine Form der Resonanz, die ich mit einemabgearbeiteten Maileingang oder einem gelungenen Linked In-Post niemals erreichen kann.
Das Titelfoto meines heutigen Newsletters stammt von R Pollo (Öffnet in neuem Fenster).
Aus einem unbestimmten Impuls hat mich meine ziellose Sommerlektüre zu den Büchern Stefan Zweigs geführt, zu Montaigne, dem Mann der inneren Freiheit, zu Clarissa, die ihren Platz in einer sich verändernden Welt sucht, und zu einem Essayband, in dem ich auf die Revolte gegen die Langsamkeit stieß. Wie so oft bei klassischer Literatur war ich erstaunt, wie wertvoll diese alten Texte für das Verständnis der Gegenwart sind. Sie helfen zu begreifen, dass vieles, was uns an den ungekannten Krisen und Katastrophen widerfährt, in ähnlicher Weise schon durchlebt worden ist; dass wir nicht für alles, was wir gesellschaftlich bewältigen müssen, neue Begriffe, Interpretationen, Argumente und Lösungsstrategien brauchen, und dass wir uns der Vorarbeit und den Vorerfahrungen früherer Generationen bedienen können. Das gilt sogar für den Klimawandel, von dem Stefan Zweig, der 1942 gestorben ist, wenig wissen konnte.
"Immer muss erst ein Bergwerk einstürzen und Hunderte Menschen begraben, ehe man fragt, welche Vorsichtsmaßregeln versäumt wurden."
Zweigs Text über die Folgen politischer Langsamkeit liest sich heute wie ein Kommentar zu den dramatischen Klimafolgen, die wir diesen Sommer ein weiteres Mal beobachten können, und auf die es keine adäquate politische Antwort gibt. Es geht heute, und es ging Zweig damals um die Unfähigkeit, absehbaren gesellschaftlichen Schaden abzuwenden, der um ein Vielfaches größer ist als die Anstrengungen, die man einsetzen müsste, um ihn von vornherein zu verhindern. Immer muss erst ein Bergwerk einstürzen und Hunderte Menschen begraben, ehe man fragt, welche Vorsichtsmaßregeln versäumt wurden. Immer erst ein Theater verbrennen, ehe man für Sicherheiten sorgt; immer erst ein Krieg ausbrechen, ehe man sich erinnert, was an tätigem Friedenswillen vernachlässigt wurde. Immer muss etwas gewaltsam Aufrüttelndes sich ereignen, damit das egozentrische Denken des Menschen sich von den eigenen Interessen zu den allgemeinen wende, schreibt Zweig.
Zweig, dessen Bücher später von den Nazis verbrannt wurden, verfasste seinen Text unter dem Eindruck des Aufstiegs der NSDAP und deren Wahlerfolg im Jahr 1930. Und angesichts der heutigen Umfragewerte der AfD, aber auch der politischen Macht, die sie gerade real durch Landratsämter gewinnt, sollte die Erinnerung an die Anfänge, die längst keine Anfänge mehr sind, vielleicht einmal wieder aufgefrischt werden. Wenig verstört mich gerade so sehr wie die betonte Gelassenheit, die der Bundeskanzler angesichts des Erfolgs der AfD ausstrahlt, und die Tatsache, dass die Bundesregierung trotz allem bei der politischen Bildung sparen will. Mehr als ein Fünftel des Budgets der Bundeszentrale für politische Bildung (Öffnet in neuem Fenster) soll gekürzt werden.
Aber zurück zur klimapolitischen Trägheit, die vor allem junge Menschen zunehmend aufwühlt. Stefan Zweig spricht in seinem Text, wenn auch in anderem Kontext, von einer zu bejahenden Revolte der Jugend gegen die Langsamkeit und Unentschlossenheit der hohen Politik, von einer Jugend, ungeduldig und radikal wie jede richtige Jugend, die sich aus innerer Enttäuschung und Entrüstung gegen die hinauszögernde Politk wendet. Sie fordere rasche, schneidende, radikale Behandlung statt dieser endlosen diplomatischen Verzögerungen.
Ein Satz scheint direkt in die Diskussion zu zielen, die gerade um die umstrittenen Proteste der Letzten Generation geführt wird – einer Gruppe, die das radikale Protestpotenzial einer Klimabewegung allenfalls andeutet: Die stattgehabte Radikalisation war im tiefen nichts als eine sehr berechtigte und sehr notwendige, eine vielleicht gefährliche, aber doch unaufhaltsame Explosion einer kollektiven Enttäuschung von Millionen über das Tempo der Politik.
Stefan Zweig zeigt sich verbittert über die verantwortungslose Behandlung unserer entscheidendsten Lebensfragen durch einen Klüngel alter Männer. Und er sagt auch: Die Jugend habe einen besseren Instinkt für die bestehenden gesellschaftlichen Gefahren. Ihre Radikalisierung sei eine Warnung gegen die Langsamkeit der politischen Entscheidungen und deshalb zu begrüßen.
Von einer Begrüßung der Radikalisierung junger Menschen, wie sie gerade bei der Letzten Generation zu beobachten ist, ist allerdings wenig zu spüren. Ihre Proteste werden nicht als berechtigt wahrgenommen. Obwohl vielleicht niemals auf so existenzielle Weise die Interessen zukünftiger Generationen auf dem Spiel standen, haben es junge Menschen weiter schwer, ernstgenommen zu werden. Stattdessen müssen sie sich, wenn sie einmal eine größere Bühne bekommen, von Männern wie Markus Lanz vorführen lassen (Öffnet in neuem Fenster) oder werden belächelt, wenn sie neue Impulse für das eingefahrene demokratische System anbieten.
Weil die Letzte Generation die zeitpolitische Komponente der Klimakrise schon im Namen trägt, und weil sich die Bewegung also bestens eignet, um anhand ihrer Aktionen und Forderungen das Verhältnis von Klima und Zeit zu beleuchten, und vielleicht auch, weil ich Vertreter*innen der Gruppe bald auf einer Tagung treffen werde (ich werde hier sicher berichten), wollte ich mir ein genaueres Bild von den Aktionen der Bewegung machen. Seit einigen Wochen folge ich nun auch ihrem Instagram-Kanal (Öffnet in neuem Fenster).
Ich muss allerdings sagen, dass ich aus den Posts nicht richtig schlau werde. Statt über ihre Ziele sprechen die Aktivist*innen dort derzeit vor allem über ihre Gefängnisaufenthalte, über laufende Ermittlungen oder über Spendenaufrufe für die zu Strafgeldern verurteilten Mitglieder. So unglaublich das ist, dass Klimaaktivist*innen auf Grundlage von Gesetzen, die für den Schutz vor Terrorismus geschaffen wurden, in Gewahrsam landen, wirkt diese Außendarstellung dennoch selbstbezogen. Ich sehe wenig über konkrete Forderungen, über Fortschritte und mögliche weitere strategische Ziele oder auch über Reaktionen auf die an sie gerichtete Kritik und einen möglicherweise daraus resultierenden Dialog.
Wir befinden uns in einem großen zeitpolitischen Dilemma.
Ich bin weiter unschlüssig, ob die Bewegung mit ihren Störungen des Alltags der Menschen nicht die Bereitschaft zu klimapolitischen Veränderungen mindert, oder aber, ob nicht genau diese Form von Störung notwendig ist, um die Bevölkerung zu erinnern, dass die Aufrechterhaltung eines Alltags, wie wir ihn kennen, nichts als ein Trugschluss ist – ein Trugschluss, von dem uns die Letzte Generation mit ihrem unangenehmen Protest befreien will.
Nun hat sich die Klimaaktivistin Luisa Neubauer im Interview mit dem Digitalmagazin Watson (Öffnet in neuem Fenster) zur Letzten Generation geäußert und sich von der Bewegung abgegrenzt. Sie positioniert sich selbstbewusst als Vertreterin der erfolgreicheren und etablierten Klimabewegung. Unschwer ist ihren Aussagen zu entnehmen, dass sie die Konkurrenz als weniger reif und als zu emotional darstellen möchte: "Ich finde es sehr besorgniserregend, dass junge wie alte Menschen so verzweifelt sind, dass sie sich nicht anders zu helfen wissen, als sich auf die Straße zu kleben." Luisa Neubauer will damit offenbar sagen, dass sie die Aktionen der Letzten Generation nicht für strategischen Protest hält, sondern für eine impulsive, unüberlegte, um nicht zu sagen, unfähige Reaktion verzweifelter Menschen.
Mich interessieren die Konkurrenz der Klimabewegungen und die persönlichen Ambitionen von Luisa Neubauer, die mit ihrer Bewegung Fridays for Future derzeit deutlich weniger Aufmerksamkeit erhält als die Letzte Generation, nur am Rande. Interessant finde ich aber die Äußerungen über die Wirksamkeit und Legitimation der Proteste. Neubauer sagt, es gebe ein Missverständnis, wie Wandel passiere und wie man ihn beschleunigen könne. "Politischer Wandel kommt nicht kategorisch schneller, indem man zu radikaleren Maßnahmen greift." Sondern: "Ein schneller Wandel kommt dadurch, dass man noch strategischer wird. Und deswegen ist es gerade die große Aufgabe, strategisch zu bleiben – gerade, wenn die Zeiten hart werden. Es ist nicht immer wirksamer, wenn man doller draufhaut", so Neubauer.
Ich glaube, dies sind tatsächlich ganz zentrale Fragen der aktuellen klimapolitischen Diskussion: Lässt sich der notwendige soziale Wandel durch strategisches Handeln kontrollieren und beschleunigen? Wie lässt sich eine so zähe Angelegenheit wie sozialer Wandel, der sich normalerweise in Jahrzehnten und Jahrhunderten vollzieht, innerhalb einer (letzten)Generation vollziehen, die die schlimmsten Folgen der Klimakatastrophe noch aufhalten kann?
"Es geht nun um die Propagierung einer bestimmten Art von gesellschaftlichem Notstand – Zeitnotstand"
Wir befinden uns damit mitten in einem großen Dilemma: Die Natur lässt nicht mit sich verhandeln, wie stark sich die Erde aufheizt, wann bestimmte Kipppunkte erreicht werden und wann und wo sich die nächste Naturkatastrophe ereignen wird. Es bleibt keine Zeit mehr zu hoffen, dass die Klimakatastrophe ausbleibt oder nicht ganz so dramatisch verläuft. Die Folgen, die den Menschen ihre Lebensgrundlagen nehmen, sind insbesondere im Globalen Süden längst Realität. Sie führen dort bereits heute dazu, dass Menschen die Hoffnung auf ein besseres Leben verlieren.
Der Zeitforscher und Politikwissenschaftler Jürgen P. Rinderspacher beschreibt dieses Dilemma in seinem Ende dieses Jahres erscheinenden Buch über den derzeitigen politischen Zeitnotstand. Ich kann es gerade vorab lesen und werde bald noch einmal ausführlicher darauf eingehen. Rinderspacher diskutiert darin, wie man die Notwendigkeit, die Anpassung an die Klimakrise dramatisch zu beschleunigen, in Einklang bringen kann mit der ebenso zwingenden Notwendigkeit, die Gesellschaft für diesen Wandel zu gewinnen und ihn politisch zu legitimieren – eine Gesellschaft wohlgemerkt, die von dem Soziologen Steffen Mau als veränderungsmüde beschrieben wird. Dessen ungeachtet legitimiert die Letzte Generation ihre Aktionen mit dem bestehenden und unbestrittenen Zeitdruck. Sie bemüht sich aber (bewusst?) nicht um gesellschaftliche Akzeptanz.
Jürgen Rinderspacher erklärt es folgendermaßen:
"Mit Verweis auf die gefährdeten Lebensbedingungen künftiger Generationen, die sich unzweifelhaft aus wissenschaftlichen Studien herleiten ließen, soll die Geschwindigkeit des ökologischen Umbaus der Gesellschaft durch Straßenblockaden und symbolische Beschädigung von Kunstwerken, also durch öffentlichen Druck, erhöht werden.
Indem das Exzeptionelle, Einmalige der Lage, in der sich die Welt befinde, besonders akzentuiert wird, wird am Ende nicht nur Zeitdruck produziert, der zweifellos vorhanden ist. Sondern es geht – was wesentlich mehr beinhaltet – nun um die Propagierung einer bestimmten Art von gesellschaftlichem Notstand – Zeitnotstand –, mit dem die exzeptionellen Maßnahmen zur Bekämpfung einer künftigen (heute schon in ersten Ausläufern erfahrbaren) katastrophalen Lage gerechtfertigt werden."
Das beschriebene zeitpolitische Dilemma zeichnet aus, dass wir uns in einer sozial-ökologischen Transformation befinden, also einer sozialen und ökologischen Transformation. Die Reaktion auf die Klimakrise besteht demnach nicht nur in der Entwicklung und Anwendung von Technologie. Es handelt sich vielmehr um eine soziale und kulturelle Anpassung, die sich über Generationen erstreckt und in die eine Gesellschaft hineinwachsen muss.
Die Gesellschaften, die die sozial-ökologische Wende vollziehen, benötigen keine Politik, die Lösungen unter Zeitdruck erarbeitet. Sondern das Gegenteil: einen Politikmodus von ausreichender Langsamkeit, der zu Entscheidungen, Institutionen und Verfahren führt, die die Interessen unserer Nachfahren berücksichtigen und zugleich die bestehenden kulturellen, rechtstaatlichen und demokratischen Errungenschaften der heutigen Gesellschaft bewahren und die dort auch breite klimapolitische Zustimmung finden. Es braucht eine demokratisch, rechtlich und philosophisch fundierte Aushandlung, welche Interessen heutiger und welche Interessen späterer Generationen gewahrt werden müssen. Dieser Aushandlungsprozess braucht Zeit – Zeit, die nicht mehr vorhanden ist.
Dieser Widerspruch der Geschwindigkeiten und die Betonung der sozialen Seite der sozial-ökologischen Wende kommt in bisherigen Diskussionen zu kurz. Dass alle Lösungen längst auf dem Tisch liegen, wie häufig zu hören ist, ist schlicht falsch. Es ist völlig unklar, wie die Klimaanpassung und der Ausstieg aus der fossilen Energie aussehen kann, wenn sie nicht nur klimaneutral sein, sondern auch sozial und demokratisch ausgestaltet sein soll.
Politik unter Zeitdruck läuft Gefahr, Menschen Freiheitsrechte zu nehmen.
Wie Rinderspacher in seinem neuen Buch aufzeigt, ließ sich in der Coronazeit beobachten, wie demokratische Verfahren unterlaufen werden, wenn Politik unter einem zu starken Zeitdruck agiert. Als ich vor einer sich heute endlos lang anfühlenden Zeit einmal um kurz nach 22 Uhr mit dem Auto heimfuhr, konnte ich kaum glauben, dass ich da gerade etwas Verbotenes tat. Ich widersetzte mich der vom Land verhängten und damals bereits wissenschaftlich umstrittenen Ausgangssperre. (Radfahren wäre okay gewesen, jedenfalls bis 24 Uhr und allein.)
Politik unter Zeitdruck unterliegt der Gefahr, Menschen Freiheitsrechte zu nehmen, demokratische Verfahren und Institutionen zu unterlaufen und – man kann es am genannten Beispiel gut sehen – völligen Humbug zu entscheiden. Das erzeugt Widerstand, von dem leider allzu häufig rechte Parteien profitieren. Davon zeugt auch Stefan Zweigs Bericht über die Revolte gegen die Langsamkeit, die damals eine Reaktion unter anderem auf Inflation, Arbeitslosigkeit und Rezession war und ihren Ausdruck auch in einem Zulauf zur nationalsozialistischen Partei fand, weil die etablierte Politik keine Mittel fand, um den bestehenden Problemen rechtzeitig zu begegnen.
Die seit Jahren zunehmende Verschiebung der weltweiten Politik und öffentlichen Diskurse nach rechts macht es noch schwieriger als zuvor, die Anstrengungen in der Klimapolitik zu verstärken. Gleichzeitig erfordern jedoch zahlreiche Probleme, die Menschen zur AfD treiben, Lösungen, die bei genauerer Betrachtung Klimaanpassungsmaßnahmen sind, zum Beispiel:
die Regulierung und Unterstützung von erwarteten Fluchtbewegungen,
die Stärkung sozialer Sicherheitsnetze,
die Förderung regionaler Wirtschaft zur Verringerung von Abhängigkeiten, und damit verbunden
die Sicherheit von Arbeitsplätzen und
die Entwicklung von Bildungsprogrammen zur Verbesserung der Berufsaussichten in klimafreundlichen Branchen.
Diese unvollständige Auflistung von Beispielen zeigt, dass Menschen, die rechts wählen, zwar Klimaschutzmaßnahmen ablehnen mögen, jedoch durchaus indirekte Schritte der sozial-ökologischen Transformation befürworten. Nicht zuletzt, weil diese persönliche Vorteile mit sich bringen. Die Klimaaktivistin Milena Glimbovski, mit der ich kürzlich gesprochen habe, sagte mir, dass die Klimaanpassung wie ein trojanisches Pferd wirken könne, "mit dem wir reinkommen, um anschließend auch greifbarer und angstfreier darüber zu sprechen, was Klimaschutz auch sein kann." Vielleicht sind einige der vorgestellten Maßnahmen auch die Strategien, die Luisa Neubauer im Sinn hat, wenn sie von einer kontrollierten Steuerung sozialen Wandels spricht.
Ich möchte mich dennoch nicht festlegen, ob es neben diesem strukturierten Vorgehen nicht auch notwendig ist, die Menschen abzuschrecken und zu verärgern, und ob Protest nicht unangenehm und eine Zumutung sein muss. So sieht es auch Milena Glimbovski, die zu den bekanntesten Klimaaktivistinnen des Landes gehört. Sie hat ein persönliches, aber vor allem fundiert recherchiertes Buch über Klimafolgenanpassung für ein breites Publikum geschrieben. Über die Letzte Generation schreibt sie, dass es bei dieser Protestform nicht darum gehe, aufzuklären oder Sympathien zu sammeln: "Mit Sympathien allein macht man keinen Wandel", so Glimbovski. "Nein, die Aktivist*innen wollen nerven. Sie wollen missfallen. Sie wollen durch ihre Aktionen Aufmerksamkeit erregen – und schaffen das." Mein Gespräch mit Milena Glimbovski finden alle inseln der zeit-Abonnent*innen am Ende dieses Newsletters.
Vielleicht sollte die Letzte Generation tatsächlich nicht in erster Linie aufklären oder auf den Gewinn von Sympathien aus sein. Aber sie sollte dennoch erkennbar ihre Begründung dafür vorlegen, warum sie so handelt, wie sie es tut, und bereit sein, in einen Dialog darüber einzutreten. Der unter Zeitdruck stehende Lkw-Fahrer wird verständlicherweise kein Interesse daran haben, auf der Straße zu diskutieren. Eine Straßenkreuzung ist ein denkbar schlechter Ort für gesellschaftlichen Diskurs.
Vielleicht ist er aber auch ein schlechter Ort für Protest, weil er dort nicht nur Sympathien verspielt, sondern auch die Falschen trifft, wie Benjamin Fuchs in einem angenehm unaufgeregten Kommentar für Perspective Daily kürzlich dargelegt hat. Es ist eine der wenigen kritisch-konstruktiven Artikel, die ich bisher über die Protestform gelesen habe, und sich dagegen richtet, dass die Letzte Generation nicht die richtige Zielgruppe im Blick hat und zu wenig an sozialer Gerechtigkeit interessiert ist. Zum Weiterlesen empfehle ich daher diesen Text (Öffnet in neuem Fenster).
Aber trotz aller berechtigen Kritik: Ich habe Sympathien für die Letzte Generation. Ich sehe jene Verzweiflung, die aus der Bewegung spricht, anders als Luisa Neubauer, nicht als Unprofessionalität. Die Letzte Generation ist der authentische Ausdruck einer Hoffnungslosigkeit, die viele, vor allem junge Menschen spüren. Sie ist buchstäblich die Stimme der Straße, die das Schweigen der vielen Verzweifelten bricht, die die emotionale Belastung, die juristischen Risiken und den Zeitaufwand nicht in Kauf nehmen, die mit den Protesten der Letzten Generation unweigerlich verbunden sind. Wie bequem ist es, vom heimischen Sofa aus zu kritisieren, dass die Protestform unzureichend ist? Protest darf vieles sein, aber nicht bequem.
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"Ich habe mich erschlagen gefühlt. Nicht nur von den Nachrichten, sondern von dem, was man alles machen müsste."
Milena Glimbovski gehört bereits seit Jahren zu den bekanntesten Stimmen im deutschen Klimaaktivismus. 2014, im Alter von 24 Jahren, eröffnete sie Original Unverpackt, einen der ersten Unverpacktläden in Deutschland, und wurde zu einer Vorreiterin der Zero-Waste-Bewegung. 2017 erschien ihr Buch Ohne Wenn und Abfall. Kurz darauf kürten der Berliner Senat und die Industrie- und Handelskammer sie zur Unternehmerin des Jahres. Inzwischen, nachdem Original Unverpackt Insolvenz anmelden musste, war Glimbovski auch Verlagsgründerin. Der von ihr und ihrem Geschäftspartner entwickelte Kalender Ein guter Plan gewann zahlreiche Design- und Nachhaltigkeitspreise. Und die Deutsche Welle bezeichnete sie als „Climate Hero“.
Doch irgendwann tritt in der Klimawirklichkeit trotz aller persönlichen Erfolge und Fortschritte unweigerlich Ernüchterung ein. Die intensive Beschäftigung mit Klima- und Umweltthemen führte bei Milena Glimbovski zu Angstzuständen und Hilflosigkeit. "Ich habe mich erschlagen gefühlt. Nicht nur von den Nachrichten, sondern von dem, was man alles machen müsste", sagte mir die heute 33-Jährige kürzlich im Gespräch. „Ich konnte nicht verstehen, was eigentlich in den nächsten Jahren in Deutschland passieren wird. Das hat mir Angst gemacht, besonders vor fünf Jahren, als ich meinen Sohn bekommen habe.“
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