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"Wenn Sie täglich eine Stunde mehr zur Verfügung hätten, wofür würden Sie diese hauptsächlich verwenden?"

Vor einigen Tagen hat das Zukunftsinstitut die Trendwörter des Jahres 2023 bekanntgegeben. Darunter sind Begriffe wie Zuversicht, Great Retirement, Nähemut, Loud Quitting und: Zeitwohlstand. Vor einem Jahr waren die Trendwörter noch stark von Corona bestimmt, Pandemials war das Trendwort des Jahres 2022, in dem dann bekanntlich alles anders kam.

Im neuen Zukunftsreport 2023 (Öffnet in neuem Fenster) des Instituts ist von einer "Wohlstands-Wende" die Rede und von einem "Aufbruch in die nächste Arbeitszeit". Auch wenn es in der Natur der Prognosen liegt, dass sie sich häufig als falsch erweisen: Es ist nicht länger zu übersehen, dass die Pandemie, der Krieg, die Inflation, aber auch der mangelnde politische Handlungswille bei der Umsetzung der Klimaziele nicht nur zu einem gesellschaftlichen Umdenken geführt haben. Viele Menschen haben ihre Prioritäten neu geordnet und ziehen jetzt daraus auch Konsequenzen. Sie sind bereit etwas zu verändern.

Noch werden Entwicklungen wie die Great Resignation oder Quiet Quitting häufig missverstanden als eine Verweigerungshaltung von Menschen, die nicht mehr leistungsbereit sind. Das stimmt nicht. Sie wollen arbeiten, aber sie wollen mit ihrer Tätigkeit einen sinnvollen gesellschafltichen Beitrag leisten, dabei nicht ausbrennen und auch nicht länger ihre komplette Lebenszeit der Erwerbsarbeit unterordnen. Nach den Erfahrungen der Inflation ist es unumgänglich geworden darüber nachzudenken, was wir als Individuen und als Gesellschaft unter Wohlstand verstehen. Deshalb überrascht es mich nicht, dass die bereits jahrzehntealte Idee des Zeitwohlstands auf einmal zum Tre

In meinem im November 2021 erschienenen Buch Zeitwohlstand für alle. Wie wir endlich tun, was uns wirklich wichtig ist habe ich beschrieben, was es bedeuten könnte, ein Leben in Zeitwohlstand zu führen und welche politischen, wirtschaftlichen und sozialen Voraussetzungen es dafür braucht. Ich entwickle die Idee eines zeitökologischen Lebensstils, die jetzt auch im Zukunftsreport aufgegriffen wurde und eine Abkehr vom kulturell tief verwurzelten ökonomischen Verständnis von Zeit bedeutet.

Jetzt ist Zeitwohlstand für alle auch als Taschenbuch erschienen. Es ist, wie meine Lektorin Ariana Zustra einmal treffend beschrieben hat, ein "Anti-Zeitmanagement-Buch". Es sei ein Buch für alle, "die nicht einfach ihre individuelle Lebensführung optimieren, sondern vielmehr einen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel mitgestalten möchten".

Heute veröffentliche ich einen kurzen Auszug aus dem Buch, in dem ich anhand aktueller Forschung erkläre, was Zeitwohlstand bedeutet und wie der Begriff seit Pandemiebeginn neu interpretiert wurde.

Zeitwohlstand für alle. Wie wir endlich tun, was uns wirklich wichtig ist ist im Herbst 2021 bei Perspective Daily erschienen. Das Buch hat 204 Seiten, kostet 18,90€ und ist jetzt als Taschenbuch erhältlich. Hier kannst du es bestellen. (Öffnet in neuem Fenster)

Die Entdeckung des Nichtstuns

Die Vorstellung, dass ein anderer Wohlstand, kein materieller und finanzieller, sondern Zeitwohlstand, viele unserer alltägli­chen Probleme lösen, unsere Lebenszufriedenheit steigern und zu einer nachhaltigen Lebensweise beitragen könnte, bildete die Grundlage für das Forschungsprojekt »ReZeitKon«, das zu Beginn des Jahres 2020 startete. Im Februar führte die in­terdisziplinäre Forschungsgruppe der Technischen Universität Berlin und anderer Forschungseinrichtungen eine Befragung durch, die zunächst nicht mehr als ein Gedankenexperiment zu sein schien.

Das Team stellte rund 2.000 repräsentativ aus­gewählten Menschen aller Altersklassen und Bevölkerungs­schichten in Deutschland eine Frage: »Wenn Sie täglich eine Stunde mehr zur Verfügung hätten, wofür würden Sie diese hauptsächlich verwenden?« Die Forschenden wollten herausfinden, wie Menschen ihre Zeit verbringen, wie stark sie von Zeitnot betroffen sind und wie sich das auf ihre Lebensqualität auswirkt. Sie wollten verstehen, warum wir ständig glauben, dass wir zu wenig Zeit hätten, und warum unsere Strategien, Zeit zu sparen, offenbar nichts an diesem Gefühl ändern. Sie fragten sich zudem: Welche Folgen hat dieses Paradox für un­sere Art zu leben? Was könnte helfen, uns mehr Zeit zu verschaffen?

Die Vorstellung, in Zeitwohlstand zu leben, versteht das Forschungsteam nicht als Illusion. Es geht nicht um ewiges Leben, auch nicht um Eskapismus. Es geht vielmehr darum, die alltäglichen Zeitstrukturen, aber auch die biografische Zeit­struktur anders zu gestalten – und zwar so, dass Menschen das Gefühl haben, genügend Zeit zu haben und souverän darüber bestimmen zu können. 

Den Begriff Zeitwohlstand prägte erst­mals der Soziologe Jürgen P. Rinderspacher in den 1980er-Jah­ren in der Wissenschaft. Für ihn bedeutet Zeitwohlstand, dass Menschen so viel Zeit haben, wie sie zu einem guten Leben brauchen. »Zeitwohlstand steht für die Vision einer Gesell­schaft mit besseren Zeiten, die es dem Individuum möglichst oft erlauben soll, seine einmalige Lebenszeit mit den Dingen und zugleich mit den Menschen verbringen zu können, die ihm wichtig sind«, schreibt Rinderspacher.

Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Disziplinen haben den Begriff danach aufgegriffen und weiterentwickelt. Für die Historikerin Friederike Habermann bedeutet Zeitwohlstand die »Freiheit so zu leben, wie wir es wollen«. Die Begriffsdefini­tion des Soziologen Hartmut Rosa habe ich im vorigen Kapi­tel genannt: Zeitwohlstand ist ein Zustand, der dann eintritt, wenn Menschen mehr Zeit haben, als für die Erledigung ihrer Pflichten erforderlich ist.

Die »ReZeitKon«-Forschungsgrup­pe, die das Konzept ausgearbeitet hat, definiert Zeitwohlstand als angemessenen Umfang frei verfügbarer Zeit. Die Basis von Zeitwohlstand ist freie Zeit. Daneben gibt es vier weite­re Dimensionen. Erstens die Lebensgeschwindigkeit: Es sollte nicht nur genügend Freizeit zur Verfügung stehen, sondern für alle Tätigkeiten auch so viel Zeit vorhanden sein, dass wir uns nicht ständig beeilen müssen. Hinzu kommt zweitens die Planbarkeit der eigenen Zeit: Freie Wochenenden, bezahlter Urlaub, unbefristete Beschäftigung und ein festes Rentenein­trittsalter sind Beispiele, die Menschen einen zuverlässigen Erwartungshorizont geben. Die dritte Dimension von Zeit­wohlstand ist Selbstbestimmtheit über die eigene Zeit, insbe­sondere über die eigene Arbeitszeit. Diese Selbstbestimmtheit, oder auch Zeitsouveränität, bildet die Grundlage für die vierte Dimension: Synchronisation. Sie betrifft die Möglichkeit, ver­schiedene Tätigkeiten so koordinieren zu können, dass sie gut miteinander vereinbar sind und den Zeitanforderungen der wichtigsten Bezugspersonen im persönlichen Umfeld entspre­chen.

In Zeitwohlstand leben wir also dann, wenn wir selbst­bestimmt mit unserer Zeit umgehen, unsere verschiedenen Lebensbereiche in Einklang bringen, alles in einem angemes­senen Tempo tun und insgesamt das Gefühl haben, über mehr Zeit verfügen zu können.

Aber wenn wir mehr Zeit haben für die Dinge, die uns wichtig sind – welche Dinge wären das dann? Genau darauf sollte die Umfrage im Februar 2020 eine Antwort geben. Auf die hypothetische Frage, was sie mit einer zusätzlichen freien Stunde pro Tag anfangen würden, antworteten die meisten Befragten schlicht: schlafen. Dicht dahinter folgten ausruhen, lesen, entspannen, nichts tun und Zeit für sich selbst haben. Menschen erhalten also eine Stunde Zeit, um mit dieser etwas anzufangen. Und das, was sie tatsächlich tun wollen, ist im Prinzip: nichts – jedenfalls nichts, was mit Optimierung und Effizienzdenken zu tun hat. Wer es sich erlauben könnte, würde die eigene Zeit also nutzen, um einmal für nichts und niemanden nützlich zu sein. Die ReZeitKon«-Studienauto­rinnen Sonja Geiger und Stefanie Gerold interpretieren das so: »Es wurde das Bild einer müden Gesellschaft deutlich, die ein großes Bedürfnis nach Erholung und Zeit für sich und die Familie hat.«

Die Befragung wurde im Februar 2020 durchgeführt, kurz nachdem die erste Ansteckung mit dem Coronavirus in Deutschland bekannt wurde. Zu diesem Zeitpunkt verlief das Leben der meisten Menschen noch weitgehend wie gewohnt. Zwar war abzusehen, dass sich das Virus verbreiten würde – einige Menschen machten Hamsterkäufe und legten sich einen Vorrat an Tiefkühlpizza, Toastbrot, Konserven und Klopapier an –, doch es war noch keine Rede von einer Pandemie. Dass wenige Wochen später Geschäfte schließen mussten und die Straßen wie leergefegt waren, war zu jenem Zeitpunkt noch unvorstellbar. Die Forschenden konnten also auch noch nicht ahnen, dass ihr Gedankenspiel – eine Stunde mehr Zeit für alle – schon wenig später für einige gar nicht so weit von der Wirk­lichkeit entfernt sein würde.  […]

Während Pflegekräfte, Supermarktangestellte und Zustel­ler:innen, die plötzlich als systemrelevant galten, noch stär­ker gefordert waren als ohnehin schon, hatten viele andere Menschen auf einen Schlag sehr viel mehr Zeit als sonst. Wer nicht der kritischen Infrastruktur zugerechnet wurde, fand sich häufig in Kurzarbeit wieder oder konnte gar nicht mehr arbei­ten. Die gewohnten Alltagsstrukturen, die Termine, die Ver­abredungen, die Eile – alles war auf ein Minimum reduziert.

Das »ReZeitKon«-Forschungsteam sah darin die unerwarte­te und einmalige Gelegenheit, zu überprüfen, was Menschen wirklich taten, wenn man ihnen Zeit schenkte. Also befragten sie die gleichen Personen im April 2020 ein zweites Mal. Sie beschränkten sich dabei auf die Gruppe der Erwerbstätigen, weil sie bei ihnen die größten Veränderungen in der Zeitnut­zung erwarteten. Dieses Mal fragten sie: »Falls Sie im Zusam­menhang mit der Coronapandemie zusätzliche freie Zeit haben, wofür verwenden Sie diese hauptsächlich?«

Die zehn häufigsten Antworten waren: lesen, Gartenarbeit, Hausarbeit, aufräumen und putzen, Zeit mit den Kindern verbringen, Sport treiben, Fernsehen und Filme schauen, Haus renovieren, Zeit mit der Familie verbringen und einem Hobby nachgehen. Die Daten ergaben außerdem, dass die Befragten im Schnitt eine halbe Stunde länger schliefen. Deutliche Unterschiede gab es diesbe­züglich zwar zwischen Menschen in den sogenannten systemre­levanten Berufen und Menschen mit anderen Tätigkeiten. Doch die durchschnittliche Schlafdauer stieg in diesem Zeitraum für alle Beschäftigten. Natürlich ist der Einwand berechtigt, dass während der bestehenden Kontaktverbote keine Veranstaltun­gen stattfanden, Museen geschlossen und Reisen nicht möglich waren. Die beiden Umfragen sind also nicht ohne Weiteres ver­gleichbar.

Trotzdem wurde deutlich: Es sind die einfachen Din­ge, die in unserem Alltag häufig zu kurz kommen, aber einen großen Wert besitzen. Die Menschen schliefen mehr, sie lasen und räumten auf. Es schien, als sehnten sie sich nach Ordnung in einer chaotischen Zeit. Sie sehnten sich nach dem eigenen Garten, nach dem Buch auf dem Nachttisch, nach den Liebs­ten in ihrer Nähe und nach dem Hobby, dem sie sich endlich wieder widmen konnten. Ihre Wünsche richteten sich auf die basalen, kleinen Freuden des Lebens. Die Menschen begannen, ihre grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen – jetzt, da sie die Gelegenheit dazu hatten. Sie hatten Zeitwohlstand gewon­nen, wenn auch durch den tragischen Umstand einer weltwei­ten Krise. […]

Allerdings war der gewonnene und von vielen empfundene Zeitwohlstand befristet und darum fragil. Denn was ist diese Zeit wert, wenn sie zwar zunächst zu mehr Freiheiten führt, auf Dauer aber mit spürbaren Einkommensverlusten, steigen­der Unsicherheit und psychischen Belastungen verbunden ist? Der gewonnene Schlaf war, das zeigte der weitere Verlauf der Pandemie, tatsächlich nicht besonders erholsam. Viele Men­schen schliefen länger, aber auch schlechter, weil sie die Belas­tungen des veränderten Alltags mit in die Nacht nahmen.

Die neue Lebenssituation, die sich zu Beginn der Pandemie ergab, und die Erfahrungen, die viele Menschen machten, waren also keine neue Realität. Sie ließen eher erahnen, wie das gute Leben aussehen könnte: weniger Arbeit, weniger Verpflichtungen, mehr Schlaf, mehr Freiheiten, mehr Zeit für sich. Die Coronapandemie hatte, zumindest einem Teil der Bevölkerung, bei allen Einschränkungen auch neue Möglichkeiten eröffnet, stärker nach den eigenen Vorstellungen und Bedürfnissen zu leben. Sie schaffte Freiräume und hat etwas verdeutlicht, an das sich viele Menschen vielleicht auch in der Zeit nach Corona erinnern werden: dass viele von uns ganz anders leben wollen, als wir es tun.

Hier kannst du Zeitwohlstand für alle bestellen. (Öffnet in neuem Fenster)

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