Ich kann mich nicht mehr genau erinnern,
wann ich zuletzt in einem Buchladen war und einem Buch begegnet bin, das scheinbar nur darauf gewartet hat, mir ins Auge zu springen und von mir gelesen zu werden. Es gibt Bücher, die auf unerklärliche Weise ihren Weg zu uns finden. Mir ist es jedenfalls schon oft passiert. Ich glaube, es war vor vier oder fünf Jahren, als ich auf ein kleines Büchlein mit dem Titel Machen, nicht denken! des Verhaltensforschers Richard Wiseman stieß. Dem Buch war ein Zitat des Philosophen William James vorangestellt: Wenn du eine bestimmte Eigenschaft haben willst, handle so, als ob du sie schon hättest.
Genau das fiel mir in jener Zeit schwer: so zu handeln, als könnte ich es bereits. Ich konnte mich damals nicht recht entscheiden, ob ich in der Großstadt bleiben oder zurück aufs Land, in meine Heimatstadt ziehen wollte. Ich wusste nicht genau, welche berufliche Richtung ich einschlagen würde und ob ich zukünftig freiberuflich arbeiten oder mir einen neuen Job suchen wollte. Es ging eigentlich um alles. Darum, wie ich leben wollte, und wir als junge Familie. Also dachte ich viel darüber nach, las Bücher, hörte Podcasts, legte Zettel auf den Boden mit Gründen, die für das eine, und Gründen, die für das andere sprachen.
Doch trotz des vielen Grübelns merkte ich irgendwann, dass es nicht möglich ist, alle vorhandenen Widersprüche aufzulösen. Genauso unmöglich ist es, sich ein Leben vorzustellen und auf Grundlage dieser Vorstellung zu entscheiden, ob das nun das richtige Leben sein wird. Mir wurde langsam klar, dass mir niemals alle notwendigen Informationen vorliegen würden, ehe ich nicht vom Modus des Denkens in den des Handelns kommen würde.
Vor einigen Monaten stieß ich wieder auf ein Buch, das mich irgendwie anzog, ohne dass ich genau verstand, warum. Es handelte von ganz ähnlichen Fragen, aber das wusste ich da noch nicht. Ich recherchierte im Internet. Ich weiß nicht mehr, was es war, aber ich weiß, dass der Titel des Buchs, Der unendliche Augenblick, mich ansprach. Obwohl das Buch schon einige Jahre alt war, versprach es, Antworten auf drängende Fragen der Gegenwart zu geben: Ein neuer Lebensabschnitt, eine gesellschaftliche Krise oder die Geburt eines Kindes: Wenn sich Dinge verändern, fühlen wir uns oft verunsichert. Denn wir müssen Abschied nehmen von Vertrautem, haben aber noch keine Vorstellung davon, was an seine Stelle treten wird, las ich in der Beschreibung. Die Philosophin Natalie Knapp spricht sich in dem Buch dafür aus, Umbruchsituationen oder Schicksalsschläge nicht möglichst schnell hinter sich lassen zu wollen, sondern sie auf eine neue Art wertzuschätzen.
Sofort bat ich den Verlag, mir das Buch zu schicken und, falls möglich, ein Gespräch mit der Autorin zu vereinbaren. Kurz darauf fing ich an zu lesen. Natalie Knapp beschreibt in ihrem Buch die vielen Übergangsphasen, die Menschen in ihrem Leben erfahren: Geburt, Pubertät, Trauer, Sterben, sie spricht von Urkräften, die uns tragen, von den Übergängen der Natur, von gesellschaftlichen Übergängen, Krisen, Zwischenzeiten und dem Zeitbewusstsein, das mit diesen Phasen verbunden ist.
Gleich zu Beginn des Buchs las ich einen sehr bemerkenswerten Satz, den ich nicht sofort verstand. Es war ein Zitat der jüdischen Lyrikerin Hilde Domin: Ich setzte meinen Fuß in die Luft, und sie trug. Hilde Domin war vor den Nazis geflohen, lebte jahrelang im Exil, mehrmals musste sie neu anfangen. Aber was bedeutete das, dass die Luft sie trug? Man konnte doch keinen Fuß ins Nichts stellen. Man brauchte doch Boden unter den Füßen, einen Weg vor seinen Augen. Nur wer in Sicherheit lebt, kann sich ein Leben aufbauen, dachte ich.
Während des Lesens verstand ich, warum ich das Buch ausgewählt hatte. Ich wollte natürlich verstehen, wie eine Gesellschaft die Unsicherheit der Pandemie, der Klimakrise, des Kriegs und der politischen Konflikte aushalten kann. Doch ich merkte bald: Das Buch handelte auch von mir und meiner Situation, in die ich mich begeben hatte.
Vor genau einem Jahr, Ende Februar 2022, habe ich meinen unbefristeten Arbeitsvertrag als Redakteur gekündigt, um mich als freier Journalist selbstständig zu machen. Es war keine offensichtliche, zwingende Entscheidung und erst recht keine, die mir berufliche und finanzielle Sicherheit versprach. Ich war aber wieder in eine Phase des Grübelns eingetreten – und inzwischen wusste ich, dass sich Entscheidungen selten von allein treffen. Ich musste handeln, weil ich unzufrieden und überlastet war, und zugleich voller Ideen für andere Tätigkeiten und einen anderen Lebensrhythmus. Also begab ich mich in Unsicherheit. Ganz bewusst und aus freien Stücken.
Ich erinnere mich noch, wie ich am Postschalter stand, den Umschlag mit der Kündigung in der Hand, ein Kunde noch vor mir, und ich dachte: Ich kann auch einfach wieder gehen, den Brief in den nächsten Mülleimer werfen, nach Hause fahren und weitermachen wie bisher. Aber es ging nicht mehr. Ich war dabei einen Job aufzugeben, an den ich lange geglaubt habe, in dem ich viele kluge und liebe Menschen kennengelernt habe. Wieder einmal lagen auf beiden Seiten der Entscheidung Zettel mit guten Gründen. Aber ein Stapel war größer, das war nicht länger zu übersehen.
Im nun zurückliegenden Jahr gab es keinen einzigen Tag, an dem ich mich zurückgesehnt habe nach meinem alten Leben. Doch ich musste einsehen, dass das Neue mehr Zeit braucht, als ich erwartet hatte. Unsicherheit verlangsamt, sagte Natalie Knapp später in unserem Gespräch. Für einen eher ungeduldigen Menschen wie mich war das nicht immer leicht auszuhalten. Ich wollte mir schließlich beweisen, dass ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Dass ich vorausschauend und rational gehandelt und meine Optionen richtig eingeschätzt hatte. Zugleich wusste ich, dass eine große Offenheit dazugehörte und ich Möglichkeiten identifizieren und ergreifen musste, die sich erst im Laufe der Zeit auftun würden. Es war wie ein ständiges Tauziehen zwischen Ambition und Demut.
Ich verstand aber nicht nur, dass ich mehr Geduld brauchte. Ich musste auch einsehen, dass die neue Lebenssituation nicht automatisch zu einer dauerhaften Zufriedenheit führte. Dass nicht auf einmal alles stimmte und von selbst gelang. Alte Gewohnheiten, Belastungen und Glaubenssätze verschwinden nicht von selbst, mitunter treten sie sogar stärker in Erscheinung, wenn wir sie nicht länger wegdrücken. Immer wieder stellte ich mir Fragen wie: Würde ich das wirklich schaffen mit der Selbstständigkeit? Mit meinem sozialen Hintergrund als Arbeiterkind, das kaum Berührung mit Unternehmertum hat? Mit zwei jungen Kindern, von denen eines eine Behinderung hat, was noch mehr Zeit, Fürsorge und Geduld erfordert? Mit dem Wunsch, nicht ständig zu arbeiten und eigentlich mehr Freizeit zu haben? Mit diesen ständigen Zweifeln? Mit dem Gefühl, gerade eigentlich gar nicht genügend Kraft zur Verfügung zu haben? Das ging nicht, oder?
Doch. Genau so, und genau deshalb. Die Zweifel, die Orientierungslosigkeit, die Ziellosigkeit sind von außen meist nicht sichtbar. Aber alle haben sie. Deshalb spreche ich es einfach mal aus: Gründen mit jungen Kindern, das geht. Aus einer Unsicherheit heraus einen weiteren Schritt ins Ungewisse machen, das geht. Einen nicht vorgezeichneten Weg gehen. Ständig zweifeln und letztlich doch an sich selbst glauben. Trotzen, weitermachen, Widersprüche aushalten, es geht.
Ich akzeptierte schließlich, dass meine Situation, in die ich mich begeben hatte, begleitet war von Ungewissheit, Sorgen und Ängsten. Das ist auch der Grund, warum dieser Newsletter einen Monat später erscheint, als ich es vorgesehen hatte. Im grauen Januartief, als ich wieder einmal vieles in Frage stellte, hätte ich diesen Newsletter nicht schreiben können. Trug mich die Luft noch? Ich wusste es nicht. Aber ich glaubte daran.
In Übergangszeiten wächst der Boden, auf den wir unsere Füße setzen können, mit jedem behutsamen Schritt, den wir gehen. Es sind unsere Schritte ins Ungewisse, die ihn wachsen lassen. In solchen Zeiten haben wir keinen Erfahrungshintergrund, vor dem wir für die Zukunft planen könnten, und wir sind mehr denn je darauf angewiesen, den gegenwärtigen Augenblick und seine Möglichkeiten ernst zu nehmen. Die Zukunft, die uns erwartet, steht noch nicht fest, aber jede Erfahrung, die wir jetzt machen, gibt uns eine neue Grundlage.
Erst die Unsicherheit öffnet den Raum für die Entstehung von etwas Neuem. Sie macht uns kreativ. Sie lässt uns gestalten und Altes überwinden. Nicht das Grübeln, nicht die akribische Vorbereitung, nicht die erschöpfende Abwägung von Argumenten lassen Neues entstehen. Auch die Erfahrungen anderer helfen nur begrenzt. Es sind die Erfahrungen anderer. Wir müssen schon selbst herausfinden, was wir wirklich wollen, das Wagnis schon selbst eingehen. Machen, nicht denken. So tun, als könnte man es schon. Die Fähigkeit, Unsicherheit und Ambiguität zu tolerieren, selbst entwickeln. Das kann uns niemand abnehmen.
Natalie Knapp lehrt in ihrem Buch, dass das nur im Hier und Jetzt möglich ist, Schritt für Schritt, mit voller Aufmerksamkeit auf die Gegenwart. Wenn wir um einen Menschen trauern, wenn wir krank werden, oder auch bewusst entschieden haben, einen Lebensweg zu korrigieren, eine Beziehung aufzugeben oder auch eine verlorene Bindung wiederherzustellen, dann ist das ein langsamer Prozess. Er lässt sich nicht optimieren oder beschleunigen, so wie wir es von den meisten Vorgängen in unserem Leben gewohnt sind. Immer wollen wir Situationen verbessern, bewältigen, lösen, konstruktiv nutzen oder sie eben vermeiden. Krisen und Unsicherheit lassen das nur bedingt zu. Aber sie befähigen uns dazu, schöpferisch zu werden.
Es hilft zu wissen, dass die Zeiten der Unsicherheit, die Passagen und Zwischenräume, zum Leben gehören. Sie sind von so großer Bedeutung, um zu lernen und sich zu entwickeln. Die Sorgen, die entstehen, sind manchmal so schwer zu ertragen, dass man schnell etwas daran ändern möchte.
Sie scheinen darauf hinzudeuten, dass man sich auf dem falschen Weg befindet. Aber das ist falsch, der Weg endet nicht. Unsicherheit ist kein Indikator dafür, dass etwas nicht läuft und ich etwas ändern muss.
Ich habe bei Natalie Knapp gelernt, dass die Unsicherheit uns nur sagt: Hier passiert etwas Neues. Und ich weiß noch nicht, wie es geht. Aber ich werde es sicher herausfinden.
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"Krisen lassen uns etwas von der Tiefe des Lebens spüren"
Frau Knapp, Sie beschäftigen sich damit, wie Menschen auf Krisensituationen reagieren und sind der Ansicht, dass die Erfahrung von Unsicherheit einen großen Wert hat. Gilt das auch in den existenziellen Krisen, die wir heute erleben?
Es ist wichtig, erst einmal zu differenzieren. Das ist so ähnlich wie bei der Dankbarkeit. Dankbarkeit ist eine unheimlich hilfreiche Haltung, aber man kann nicht für alles im Leben dankbar sein. So ist es auch bei Krisen. Da gibt es Aspekte, die unendlich schmerzhaft sind und die man weder sich noch jemand anderem jemals wünschen würde. Gleichzeitig gibt es auch innerhalb solcher Situationen Elemente, die einen etwas von der Tiefe des Lebens spüren lassen und Dinge erleben lassen, die in normalen Situationen nicht erlebbar sind.
Welche Situationen sind das?
Viele Menschen erleben das beispielsweise, wenn Sie Menschen beim Sterben begleiten oder selbst dann, wenn sie nur zur Beerdigung eingeladen sind. Da gibt es Momente, die die gesamte Gemeinschaft auf eine ganz andere Weise zusammenkommen lässt. Es wird auf einmal viel gelacht, es werden plötzlich Verbindungen spürbar, die man vergessen hat.
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