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Philadelphia in Großhennersdorf

Ein Besuch in der Alten Bäckerei in Großhennersdorf– einer kulturellen Oase in der sächsischen Provinz zwischen Löbau und Zittau. Sommerfest mit der US-Band Hymn for Her. Ein Reisebericht.

Die Provinz schlecht an den ÖPNV angebunden? In dieser Pauschalität stimmt die Aussage nicht. Das beweist eine Fahrt von Dresden nach Großhennersdorf zur traditionsreichen Alten Bäckerei (Öffnet in neuem Fenster). Mit dem Zug nach Löbau. Von dort mit dem PlusBus, der zwischen Löbau und Zittau pendelt, in diese kleine Gemeinde.

Die Rückbank als Austragungsort politischer Kämpfe.

Hintere Seite eines Sitzes im Bus. Anarcho-A (Graffiti), "fd" ergänzt mit Kugelschreiber.

Rund dreißig Minuten dauert die Fahrt bis Großhennersdorf, Haltestelle Kulturhaus. Großhennersdorf: ein Ort mit langer Tradition der Widerständigkeit. 1983 Gründung der lokalen Friedensgemeinschaft, 1987 Gründung der Umweltbibliothek. Eine ländliche Hochburg der Umwelt- und Friedensaktivist*innen:

Im August 1983 belagern Stasi und Volkspolizei wieder einmal die Zweitausend-Seelen-Gemeinde in der Oberlausitz. Anlass ist eine Fahrradhochzeit zweier Mitglieder des Friedenskreises, die zu einer Demonstration für den Frieden und gegen den verlogenen „Friedensstaat“ DDR wird.

Quelle: „Friedensgemeinschaft Großhennersdorf“, hrsg. v. Bundeszentrale für politische Bildung und Robert-Havemann-Gesellschaft e.V., letzte Änderung Dezember 2019, www.jugendopposition.de/145412 (Öffnet in neuem Fenster)

Haltestellenschild an einer stillgelegten Tankstelle.

Die Ersatzhaltestelle begrüßt mich mit Tristesse. Das ändert sich auf den ersten Metern Richtung Ortskern nicht. Doch der erste Eindruck kann täuschen – genauso wie die Bilderauswahl in diesem Artikel. In der Ortsmitte idyllisches Ambiente, unter anderem mit einem schön gestalteten Spielplatz und Teichen.

Blick durch Durchgang in Mauer auf Straße, trostlos aussehend.

Blick geradeaus: am Ende des leicht ansteigenden Weges das Hauptgebäude des Katharinenhofes mit seinem Glockenturm. Der Katharinenhof als Keimzelle der örtlichen DDR-Opposition. „Anlaufbecken für Andersdenkende“, wie die Homepage „Jugendopposition in der DDR“ diesen Ort bezeichnet. Damals eine kirchliche Einrichtung für Behinderte, heute ein Standort des Diakoniewerks Oberlausitz mit Wohnheimen, Therapieangeboten und mehr.

Zwischen Teichen und dem Katharinenhof die Alte Bäckerei Großhennersdorf. Kulturell und gesellschaftlich engagiert, daraus machen die Verantwortlichen keinen Hehl. Sie knüpfen an die Tradition der DDR-Opposition an, das wird mit einem Blick auf die Frontfassade sofort klar. Eine Schautafel für die Umweltbibliothek Großhennersdorf. In Großbuchstaben steht dort: „FÜR EUROPA“. Darunter ein Plakat zum 70. Jahrestag des Volksaufstandes 1953. Links davon zahlreiche Plakate, die Filme wie „Schleimkeim“, „Shahid“ und „Body“ bewerben.

Frontseite der Alten Bäckerei mit Filmplakaten, Schautafel der Umweltbibliothek, Banner des Neiße-Filmfestivals.

Auf dem weitläufigen Hinterhof kümmern sich zwei Helfer um die Sound- und Lichttechnik. Mit erstaunlich professionellem Anspruch. Dirk als Betreiber des Kulturcafés kommt wenig später hinzu und führt mich durch das Gebäude. Eindrucksvoll: der kleine Kinosaal. Das Kunstbauerkino ist fester Bestandteil des Neiße-Film-Festivals, das jedes Jahr stattfindet. Auch Konzerte und Theateraufführungen finden in diesem Raum statt. Daneben ein Barraum. Aufkleber, Zeitungen, Zeitschriften, Filmplakate, Veranstaltungsflyer.

1991 kehrte Dirk aus Berlin zurück in seine Heimat. Und baute zusammen mit anderen diese kulturelle Oase inmitten der sächsischen Provinz auf. Kulturcafé, Kino, Umweltbibliothek – alles unter einem Dach. Nun, über 60, kümmert er sich immer noch um das leibliche Wohl der Gäste.

Dirk hinterm Grillstand: Heute gibt es vegane Spieße mit Tofu oder Champignons, Grillkäse, Tomaten- und Kartoffelsalat, Bio-Brötchen. Das Kochen ist seine Leidenschaft und sein Beruf. Vor Ort in der Alten Bäckerei die Gäste bewirtend und im Catering.

Ich genieße das Essen und wundere mich. Manche Einheimische scheinen nicht zu wissen, dass ihr Ort so gut mit Zug und PlusBus erreichbar ist. Ich schweife gedanklich zum Themenkomplex „Verkehrswende und Landeier“ ab, werde aber schnell wieder in das Hier und Jetzt bugsiert. Immer mehr Gäste trudeln ein, fußballbegeisterte Kinder finden sich zusammen und wechseln zum nahe gelegenen Sportplatz. Mitkickende Erwachsene stoßen rasch an ihre Leistungsgrenze.

Hymn of her auf der Bühne. Rückwand mit Plakaten, Bassdrum leuchtet.

Hymn of Her betreten die große Bühne auf dem Hinterhof. Es regnet inzwischen stark, die rund 50 Gäste suchen Unterschlupf unter den großen Sonnenschirmen und dem Vordach. Dreiköpfig, Mutter, Vater und Tochter. Seit rund zwei Monaten befindet sich die Familie, die aus Philadelphia stammt, auf Europatournee. Der Auftritt in Großhennersdorf ist der krönende Abschluss.

Die Bassdrum leuchtet in diversen Farben auf und bringt den Bandnamen zum Vorschein. Auffällig sind die vielfältigen Instrumente, teilweise selbstgebastelt. Der Vater spielt Schlagzeug, Gitarre und Mundharmonika, die Mutter diverse Saiteninstrumente, die Tochter bedient virtuos das Keyboard. Eine Mischung aus „Country-Blues und Desert-Rock“, wie ich im Internet nachlese. Die Einordnung in Musikgenres ist nicht meine Stärke, für mich klingt es mitreißend und abgefahren. Am Merchstand hängen T-Shirts mit der Aufschrift „don’t be a racist fucker“. Trump wählen sie wohl nicht.

Merchstand von Hymn of Her. T-Shirt mit Aufschrift "don't be a racist fucker"

Zurück nach Dresden, zurück zum Thema „ÖPNV“. Die letzte Verbindung mit dem PlusBus um 22.56 Uhr, erstaunlich spät. So gut die Anbindung, so schlecht die Beleuchtung zur Ersatzhaltestelle, die 200 m entfernt von der eigentlichen Haltestelle liegt.

Ich gehe vorsichtig die Landstraße entlang, verpasse offenbar den trittsicheren Zuweg zur ebenfalls im Dunkeln liegenden Haltestelle. Kämpfe mich durch hohes Gras und einen Graben, erreiche endlich die Haltestelle. Freue mich über eine Leuchte mit Bewegungsmelder und entgehe so den Stolperfallen, die sich bis zum Haltestellenschild befinden. Die Freude währt kurz, das Licht geht nach rund zwei Minuten aus. Ich stehe zwar am richtigen Ort, befürchte aber, dass der Bus die unbeleuchtete Haltestelle nicht anfahren könnte. Eventuell denken Busfahrer*innen: kein Licht, kein Fahrgast.

Ich stolpere die rund fünfzehn Meter zurück, winke, hüpfe: Wie lässt sich dieser verdammte Bewegungsmelder animieren? Endlich. Meine Befürchtung: Wenn Busfahrer*innen dank der Beleuchtung sehen, dass kein Fahrgast an der Haltestelle steht, fahren sie dieselbe nicht an. Ich zurück. Nur noch acht Minuten bis zur Abfahrt …

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