Wandern mit Martin Dulig (SPD / Wahlkreis Meißen 4)
Welche Aktivität bietet sich für ein Treffen mit dem Verkehrsminister Sachsens an? Wandern.
Martin Dulig lädt zu einer Tour von seinem Heimatort Moritzburg nach Weinböhla ein. Es ist schwül, die Wetterprognosen sagen ein Gewitter voraus: Die gute Laune Martin Duligs kann das nicht trüben.
Auch nicht die aktuellen Umfrageergebnisse für seine SPD. Das INSA-Institut sagte jüngst 5 % voraus, bei anderen Instituten schneidet die Partei etwas besser ab. Es ist Sonntag, der 18. August. Noch zwei Wochen bis zur Landtagswahl. Scheitert die SPD an der 5-%-Hürde, fliegt sie bundesweit zum ersten Mal aus einem Landtag?
Als naiver Beobachter würde man Verzweiflung erwarten – oder einen künstlich dargebrachten Zweckoptimismus. Nichts von beidem bei Martin Dulig. Er nimmt es hin, er kennt seine Sachsen. Und macht während der Wanderung und in einem am selben Tag veröffentlichten Interview keinen Hehl daraus, was er von den Bewertungskriterien vieler seiner Landsleute hält:
Beim Nörgeln ist Sachsen in der Champions League.
Wandern von Moritzburg nach Weinböhla
Treffpunkt: Bahnhof Moritzburg. Ich reise mit dem PlusBus von Dresden-Neustadt an. Warum das erwähnenswert ist? Die landesweit verkehrenden PlusBusse gehören zu den Erfolgen des Ministers. Die Idee für diese standardisierte Marke stammt vom länderübergreifenden Verkehrsverbund MDV (Leipzig/Halle), mittlerweile fahren diese Busse in ganz Sachsen und in weiteren Bundesländern. Das Verkehrsministerium fördert den Betrieb mit einer jährlichen Millionenzahlung. Mittlerweile haben die Verkehrsverbünde in Sachsen eine hohe zweistellige Anzahl an PlusBus-Linien etabliert.
Dazu zählt die Linie 477 Dresden – Moritzburg - Großenhain, die teilweise im 30-Minuten-Takt fährt. Bequem, schnell – und dank Deutschlandticket günstig.
Verkehrsexperten loben dieses Konzept, der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen preist die PlusBusse in seinem Fachmagazin ebenfalls an, die Fahrgastzahlen steigen stark – ein Erfolg, das auf das Konto von Martin Dulig einzahlt?
Dazu wird er sich später äußern. Nun begrüßen wir uns, eine vierköpfige Wandergruppe hat sich zusammengefunden. Wir gehen durch Moritzburg, rund 8.000 Einwohner, bekannt für sein Barockschloss. Wer die sachsenweiten SPD-Ergebnisse der jüngsten Kommunalwahlen studiert, wird an diesem Ort hängenbleiben: 22,1 %, minimale Verluste von 0,5 %. Ein ungewöhnlich gutes Ergebnis für die sächsische SPD, eine Hochburg in den Weiten der Diaspora. Und untrennbar mit dem Namen Dulig verknüpft: Susann Dulig zieht mit 635 Stimmen für die SPD in den Gemeinderat ein. Martin Duligs Ehefrau.
Der sechsfache Vater und gelernte Steinmetz ist verwurzelt in seiner Heimat, davon profitiert auch die Moritzburger SPD. Und bei unserer Wanderung durch seinen Wohnort beweist er, dass die Verwurzelung real und keine PR-Behauptung ist. Er berichtet von einem jahrelangen Kampf für Fußgängerüberwege in Moritzburg. In der breiten Bevölkerung unumstritten, um die Verkehrssicherheit für Schulkinder zu erhöhen. Blockiert vom Denkmalschutzamt. (Öffnet in neuem Fenster) Hört sich komisch an, ist komisch. Martin Dulig, der Optimist, erzählt diese Geschichte und deutet an, dass der Frust der Bürger manchmal einen nachvollziehbaren Grund hat.
Optimismus und Frust
Martin Dulig und Sachsen: Diese Beziehung nimmt Züge eines Clash of Cultures an. Auf der einen Seite der vor Optimismus überschäumende Minister. Auf der anderen Seite ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung, der sich auf das Negative konzentriert.
Während der Wanderung kommen wir auf das Thema ÖPNV zu sprechen. Realität und gefühlte Wirklichkeit: Zwischen beidem scheint eine beträchtliche Lücke zu klaffen. Martin Dulig verweist auf die PlusBusse in Sachsen und stellt nüchtern fest, dass die Verbesserungen sich nicht in der Wahrnehmung widerspiegeln. Das Gefühl in der Bevölkerung sei, dass es immer weniger Bus und Bahn gebe.
Wenige Tage zuvor wohnte der Verkehrsminister einem symbolischen Baggerhub am Bahnhof Deutschenbora bei. Der Startschuss für Bauarbeiten, die dem Erhalt der Zugstrecke zwischen Nossen und Meißen dienen und die Grundlage für ein lange herbeigesehntes Projekt bilden: die Reaktivierung des Personenverkehrs zwischen Meißen und Döbeln. Wie auf vielen Nebenstrecken wurde der Betrieb eingestellt, Pro Bahn und der in Döbeln beheimatete SPD-Landesvorsitzende Henning Hohmann setzen sich seit Jahren für die Wiederaufnahme ein.
Es wird noch dauern, bis die ersten Fahrgäste in einen Regionalzug einsteigen. Bauarbeiten benötigen ihre Zeit, die Verkehrsverbünde klagen über mangelnde Mittel für den späteren Betrieb. Die Phase der Streckenstilllegungen gehört jedoch zweifelsohne der Vergangenheit an, heute investiert das Verkehrsministerium in die entgegengesetzte Richtung. Die Stimmung in der Bevölkerung passt eher in die Zeit der Stilllegungen, der berechtigte Grund für die aktuelle Wut liegt in der Vergangenheit.
Sachsen hat ein phantastisches Potenzial, was wir nicht schlechtreden lassen. Wir gehören zum Team Zuversicht!
Wahlkampf-Zeitschrift „Dulig-Magazin“
Wenige Tage nach unserem Ausflug wird Martin Dulig in seiner Eigenschaft als Wirtschaftsminister einen weiteren Termin wahrnehmen – zusammen mit dem Bundeskanzler Olaf Scholz und der EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Spatenstich in Dresden, Milliarden-Investition des taiwanesischen Chip-Herstellers TSCM. Tausende neue Arbeitsplätze bei TSCM und bei Zulieferern, Stärkung des europaweit bedeutenden Chip-Standorts Silicon Saxony, Wachstumsmotor für die gesamte Region.
Der Wirtschaftsminister Martin Dulig kann derweil froh sein, wenn seine Partei erneut in den Dresdner Landtag einzieht.
Ambitioniert: Martin Dulig kämpft um das Direktmandat
Wir wandern durch eine schöne Landschaft, dem Landschaftsschutzgebiet Friedewald: viel Wiese, viel Wald, viele Teiche. Das angesagte Gewitter ist noch fern. Eine ältere Radfahrerin kommt entgegen, grüßt den Minister: „Schön, Sie zu treffen!“
Idyllisch, ein Teich, umgeben von alten Bäumen. Zwei Angler, oberkörperfrei, Bier trinkend. Martin Dulig wünscht freundlich „Petri Heil“, die Angler grummeln zurück.
Als „Mann der Mitte“ präsentiert er sich in diesem Wahlkampf, in dem er Vollgas gibt und täglich Präsenz zeigt. An Haustüren, bei Frühverteilungen an Bahnhöfen, selbst gebastelte Schilder an Hauptverkehrsstraßen hoch haltend.
Sein ambitioniertes Ziel: Er will diesen Wahlkreis zum ersten Mal direkt gewinnen, das wäre auch eine Premiere für die SPD. Die Partei kämpft um das parlamentarische Überleben, Martin Dulig denkt an ein Direktmandat.
Sein Optimismus vielleicht doch etwas überbordend? Während der Wanderung schätzt er, dass zwischen dem ersten und dritten Platz alles möglich sei. Und erzählt von vielen freundlichen Begegnungen im Wahlkampf.
Freundliche Begegnungen? Wenn Medien in den letzten Monaten von Sachsen berichten, vermelden sie Angriffe auf Wahlkampfteams, Nazi-Demos und eine aufgeheizte Stimmung. Traurige Highlights: der Angriff auf den EU-Abgeordneten Matthias Ecke beim Plakatieren im Europawahlkampf. Hunderte aggressive Nazis beim CSD in Bautzen. In Dohna werden linke Wahlkämpfer mit einer Machete bedroht.
Martin Dulig erzählt von einem nackten Reichsbürger an der Haustüre, der in seiner Nacktheit das Reichsbürger-Programm heruntergespult hat. Er berichtet von einer älteren Frau, die sich im schneidenden Ton Wahlkampfmaterial verbeten hat. Denn: SPD wähle sie sowieso. Er schildert die Begegnung mit einem Älteren, der den Wahlkämpfer brüsk zurückwies: In der Annahme, es handele sich um einen Zeugen Jehova. SPD? Da reagierte er offen.
Besucht auch meinen Blog Krimiperlen, auf dem ich politisch relevante Kriminalliteratur vorstelle. Jüngst Robert Bracks “Schwarzer Oktober” (Öffnet in neuem Fenster) - im Zuge der Unterstützungskampagne für die Edition Nautilus.
Diese Schilderungen weichen deutlich vom verbreiteten Eindruck des sächsischen Wahlkampfs ab. Häufig freundlich, öfters witzig – und selbst bei einem Reichsbürger skurril statt gefährlich.
Mir zeigen sie eines: Die Lage ist komplex. Während der Wanderung von Moritzburg nach Weinböhla und beim anschließenden Einkehren in eine dortige Gaststätte jedenfalls weit und breit keine Gefahr. Grummeln als höchste Form des Widerstands.
Der Minister fährt Bus
Wir sitzen im Außenbereich der besagten Gaststätte. Die Bedienung weist uns den Stammtisch zu, alle anderen Plätze sind belegt. Das Essen kann dauern, warnt der Mann. Das Lokal brummt, Grund für Freude, könnte man meinen. Blick auf die erste Seite der Speisekarte: Die Betreiber lassen ihrer Wut auf Veganer freien Lauf.
Da sitzt Martin Dulig, wartet auf sein Würzfleisch. Unter Zeitdruck, hat noch einen privaten Termin. Von der Jungen Gemeinde ins Ministeramt, das ist sein Lebensweg. Seine christlich geprägte Familie politisch unzuverlässig, das Abitur konnte er erst nach der Wende machen.
Bei der Wanderung zuvor sprachen wir über die Plakate der politischen Konkurrenz. Martin Dulig verwies auf das Linken-Plakat, auf dem die Spitzenkandidatin vor einem Trabi posiert. Jemand wie er muss das nahezu zwangsweise als lächerlich bewerten.
DDR-Nostalgie? Nicht mit dieser Lebensgeschichte. Solidarität mit der Ukraine? Eine Selbstverständlichkeit. Dulig repräsentiert Ostdeutsche, welche die Wende als Gewinn betrachten und sich auf die Chancen der heutigen Rahmenbedingungen konzentrieren.
Zurück am Stammtisch, Martin Dulig befragt mich zu meinem Blog. Ich erzähle, dass ich kürzlich einen Artikel über das Sommerfest der Alten Bäckerei in Großhennersdorf verfasst habe. (Öffnet in neuem Fenster) Ein legendärer Ort der DDR-Opposition: Kennt er natürlich.
Das Würzfleisch verspätet sich, der Minister muss los. Und fährt mit dem Bus heim nach Moritzburg.
Zum Wahlkreis Meißen 4:
Radebeul, Coswig, Moritzburg: Martin Duligs Wahlkreis grenzt unmittelbar an die Landeshauptstadt, rund 51.000 Wahlberechtigte geben dort ihre Direkt- und Listenstimmen ab. Die meisten Wahlberechtigten wohnen in Radebeul, einem bei Tourist*innen beliebten Vorort von Dresden. Elbe, Weinberge und eine starke Zivilgesellschaft: Die vergleichsweise liberale und weltoffene Atmosphäre im Vergleich zu anderen Dresdner Vororten wie Freital zeigt sich auch an den Wahlergebnissen, so schneiden dort die Grünen für sächsische Verhältnisse außergewöhnlich gut ab.
Wir wollen aber nicht über die Grünen reden, sondern über Martin Dulig und die SPD. Auffallend: Bei den letzten beiden Landtagswahlen holte Dulig im Wahlkreis Meißen 4 deutlich mehr Direktstimmen als die SPD Listenstimmen:
2019: 17,4 % vs. 8,6 %
2014: 21,0 % vs. 13,8 %
Das lag sicherlich auch daran, dass Dulig bei beiden Wahlen Spitzenkandidat der Landes-SPD war. Zugleich dürften seine lokale Verwurzelung und seine intensiven Vor-Ort-Wahlkämpfe zu diesen Ergebnissen bei den Direktstimmen beigetragen haben.
Beides Mal unterlag er jedoch einem weiteren prominenten Politiker Sachsens: Dem CDU-Landtagspräsidenten Matthias Rößler, der sich das Direktmandat mit 29,4 % (2019) und 35,2 % (2014) sicherte.
Gewinnt der „Mann der Mitte“ 2024 das Direktmandat? Der Plan ist ambitioniert, der Abstand zu Matthias Rößler betrug 2019 immerhin 12 %. Allerdings tritt Matthias Rößler 2024 nicht mehr an, bei dieser Wahl schickt die CDU Dr. Sven Eppinger ins Rennen.
Ein weiterer Unsicherheitsfaktor: Wie wirkt sich das taktische Wählen aus? Martin Dulig kann zum Beispiel darauf hoffen, dass verstärkt Wähler*innen von Mitte-Links-Parteien wie den Grünen ihm die Stimme geben. Andererseits besteht die Gefahr, dass Wähler*innen von Mitte-Links-Parteien den CDU-Kandidaten wählen, um den AfD-Kandidaten zu verhindern.
Eine zusätzliche Herausforderung für Martin Dulig: Die Grünen haben im Wahlkreis Radebeul, Coswig und Moritzburg die Spitzenkandidatin und Justizministerin Katja Meier nominiert.
Es bleibt spannend, am 01. September wissen wir mehr.
Zur Lage der SPD vor der Landtagswahl in Sachsen:
Sachsen, einst das rote Königreich und eine Hochburg der Sozialdemokratie, erweist sich für die SPD heute als schwieriges Pflaster. Seit der Wende dominiert die CDU, „König“ Kurt Biedenkopf holte für die CDU Ergebnisse von über 50 %. Mittlerweile kämpft sie mit der AfD um den ersten Platz.
Die SPD Sachsen mit ihren rund 4.500 Mitgliedern gewann bei der Landtagswahl 1990 19,1 % der Stimmen - ihr bisher bestes Ergebnis. 2004 rutschte sie auf 9,8 % ab. Einen Achtungserfolg erzielte sie 2014 mit Martin Dulig als Spitzenkandidat – 12,4 % und damit 2 % mehr als fünf Jahre zuvor. 2019 folgte der Absturz auf 7,7 %.
Droht nun mit Petra Köpping als Spitzenkandidatin der Nichteinzug in den Landtag? Ein Szenario, das viele für möglich halten. Momentan sagen die leicht verbesserten Umfragen der SPD 6 bis 7 % voraus, das Überschreiten der 5%-Hürde scheint wahrscheinlicher als das Unterschreiten (Stand: 28.08.). Aber welche Effekte entfaltet das taktische Wählen? Stimmen SPD-Sympathisant*innen im letzten Moment für die CDU, um die AfD als stärkste Partei zu verhindern?
Die SPD versucht, dieses Problem mit einer umfangreichen Kampagne einzudämmen. Es spielt keine Rolle, wer stärkste Partei wird – Hauptsache, Sachsen erhält eine stabile demokratische Regierung, so der Tenor. „Stabile Regierung nur mit uns“, plakatiert die Sachsen-SPD.
https://x.com/MartinDulig/status/1828658770722898410?t=VYGad7CyoHje6S4_RPKblg&s=19 (Öffnet in neuem Fenster)5-%-Hürde? Traditionell schwache SPD? Bei der Bundestagswahl 2021 sah dies anders aus. Mit 19,3 % bei den Zweitstimmen erzielte die sächsische SPD ein überraschend gutes Ergebnis, Detlef Müller gewann in Chemnitz sogar das Direktmandat. 2021 scheint weit weg, nun genießt der Wiedereinzug in den Landtag höchste Priorität.
Eines ist nahezu sicher: Die SPD muss die 5-%-Hürde überwinden, um dieses Ziel zu erreichen. Linke und Grüne setzen alternativ auf die Grundmandatsregel: In Sachsen genügen zwei Direktmandate, um in voller Stärke dem nächsten Landtag anzugehören. Während Grüne und Linke auf mindestens zwei Direktmandate in Dresden und Leipzig hoffen, sind die Chancen für die SPD deutlich geringer. Trotz Martin Duligs engagiertem Wahlkampf.