Zum Hauptinhalt springen

Die letzte Reise

Ostersonntag, morgens halb neun. Die Strassen sind menschenleer. Die Luft eiskalt. Die Sonne steht noch tief, doch ihre starken Strahlen prophezeien bereits einen sonnigen Tag, der bei einigen für den ersten Sonnenbrand des Jahres sorgen könnte. Doch noch schläft die Welt um mich herum. Oder bereitet daheim den Osterbrunch vor, während die Kinder bereits ungeduldig warten. Vereinzelt kommt mir ein Auto entgegen – zurück von der Nachtschicht oder auf dem Weg zum Verwandtenbesuch. Auf dem Sitz neben mir die Box mit deinem schwachen Körper. Ganz ruhig liegst du da und scheinst dein Schicksal akzeptiert zu haben. Auf der Rückfahrt wird der Sitz leer sein.

Ein Blitzkasten. Ich schaue auf den Tacho: 41 km/h – eilig habe ich es heute nicht. Den Weg kenne ich. Über Geleise und Limmat, zum Fuss des Weinbergs, die Dichte der Stadt langsam hinter mir lassend. Bei der Tramwendeschlaufe biege ich rechts ab und fahre den Hügel hinauf. Die Strasse schlängelt sich durch den Wald. Links ein Gartenrestaurant – geschlossen. Im Sommer werden auf dem Feld daneben Erdbeeren verkauft. Und es gibt Blumen zum selber pflücken. Vielleicht komme ich einmal hierher zurück und pflücke einen bunten Strauss, den ich an deinen Schlafplatz stellen werde. Ein Platz, der leer sein wird, wenn ich zurück in meine Wohnung komme.

Ich wusste nicht, worauf ich mich einlasse, als ich Zorro und dich vor 7 Jahren aus dem Tierheim geholt habe. Dein lautes Mauzen beim Abholen verhiess schon, dass das Leben mit dir eine Herausforderung werden könnte.

Damals – bereits im reifen Alter von 14 Jahren – konntest du noch Türen öffnen und hast mit deinem Bruder manchmal wilde Verfolgungsjagden durch die Wohnung veranstaltet. Und hin und wieder hast du dich neben ihn gelegt und sein Köpfchen abgeschleckt. Als er vor 2 Jahren von uns ging, habe ich mich oft gefragt, warum er und ob du ihn wohl vermisst. Doch eine Zeit lang hast du meine Aufmerksamkeit genossen, die nun ganz dir galt.

„In 500 Metern biegen Sie rechts ab“ sagt die Stimme aus dem Navigationsgerät. Ich schaue auf's Display. Ab hier kenne ich den Weg nicht mehr. Und weiss doch, was mich erwartet. Vor der Praxis stelle ich den Wagen ab, öffne die Beifahrertür und deine Box. Ganz ruhig liegst du dort und schnurrst leise während ich über dein weiches Fell streichle.

Ich drücke die Klingel für den Notfall-Dienst und werde sofort abgeholt und in ein Zimmer geführt. Während ich das Formular ausfülle und dich streichle, versuchst du nochmals aufzustehen und der verhassten Box zu entkommen – doch dafür reicht deine Kraft nicht mehr.

Wie deine Kraft schwindet, musste ich in den letzten 24 Stunden mit ansehen. Deine langsamen Schritte durch die Wohnung auf der Suche nach einem Platz um dich zurückzuziehen. Gestern Abend hast du dich für's Bücherregal in meinem Schlafzimmer entschieden. Ich habe noch eine Decke unter dich gelegt. Und bin – nach anfänglichem Widerstand – doch vom Sofa zurück ins Bett gekrochen. Mein Schlaf war leicht. Jede Bewegung von dir liess mich aufschrecken. Ganz leise hast du gemauzt.

Dein lautes Miauen, bekannt in der ganzen Nachbarschaft – ich hätte nicht gedacht, dass ich es mir einmal so zurückwünschen würde. Wie oft bin ich morgens aufgewacht, von deinem Gemecker, weil noch kein frisches Futter bereit stand? Kraftvoll war deine Stimme. Lebendig. Und kraftlos ist dein Körper jetzt.

„Wie hältst du ihr lautes Geschrei nur aus? Willst du sie nicht einschläfern lassen?“ wurde ich immer wieder gefragt. So eine Frage kann nur jemand stellen, der diesen Weg noch nie gehen musste. Dein noch warmer Körper, der sich nicht mehr im Rhythmus deiner Atemzüge hebt und senkt. Ich streichle ihn sanft. Und blicke in deine Augen, aus denen das Leben gewichen ist. Spätestens jetzt realisiere ich: du bist nun fort, für immer. Kein nächtliches Miauen mehr, das mich aus dem Schlaf reisst. Kein Geschrei, wenn dir dein Futter nicht passt. Und wenn ich nach Hause komme, wirst du nicht dort sitzen und warten. Oder schlafen und leise schnarchen, wie du es in den letzten Wochen so oft getan hast.

Man weiss nicht zu schätzen, was man hat, bis man es verliert.

Wenn du mir noch etwas beigebracht hast in deinen letzten Stunden, dann dies. Ich hätte dich noch viel mehr streicheln, jeden Moment, jedes Schnurren aufsaugen sollen.

„Ciao Suza“ flüstert die Tierärztin bevor sie das Narkotikum durch den Katheter fliessen lässt. Deine Atmung stoppt sofort. Dein Herz hört auf zu schlagen. Ganz leise bist du gegangen.

Ostersonntag. Als ich frühmorgens aufschrecke, ist deine Decke leer. Wo bist du? Meine Gedanken gehen in Windeseile mögliche Szenarien durch. Dein lautes „Miau“ holt mich zurück in den Moment. Du bist ganz nah bei mir, hast dich unter meinem Bett verkrochen. Der Bettrahmen ist tief. Ich frage mich, wie du dort drunter gekommen bist und hole dich hervor. Mit letzter Kraft versuchst du nochmals aufzustehen. Als ich mich zu dir lege, gibst du auf und schläfst auf deiner Decke ein. Ganz friedlich, während ich dein Köpfchen streichle. Ich geniesse es, hier neben dir auf dem Boden zu liegen. Und weiss: wenn ich aufstehe, werde ich zum Telefon greifen. Und mit dir auf diese letzte Reise gehen.

0 Kommentare

Möchtest du den ersten Kommentar schreiben?
Werde Mitglied von herzensbotschaften und starte die Unterhaltung.
Mitglied werden