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„Hol die Flöten raus!“

Dekadenz braucht Mut

Zum Zeugnis haben wir unserem Mädchen ein Skizzenbuch geschenkt, dazu zwei schwarze Stifte in verschiedenen Stärken. Seit Kurzem zeichnet sie Sprüche und illustriert dazu Bilder. Natürlich haben wir ihr das Geschenk schon am Morgen vor der Zeugnisausgabe überreicht. Wir wollten Sie nicht für die Ziffern, die hinter den Fächern stehen belohnen, sondern für Ihren Fleiß. Für ihr Durchhaltevermögen, für die Stetigkeit und für den Mut, den sie tagtäglich aufbringt, sich dem Wahnsinn des Schulsystems zu stellen. Dies soll kein Rausch über Schule sein, im Gegenteil, sondern ein Rausch, der über das „sich trauen“ – und über Dekadenz. Aber dazu später mehr.

Zuerst möchte ich eines der Werke meiner Tochter hier teilen:

Die Sprüche denkt sie sich selber aus, oder wir überlegen gemeinsam, sammeln Wörter und fügen sie neu zusammen. Manchmal stehen sie auch irgendwo und das Mädchen übernimmt sie einfach. Sich trauen mutig zu sein, ließ mich gar nicht mehr los. Abends lag ich im Bett und dachte darüber nach. Es sind sogar zwei sehr schwierige Dinge:

1. Sich etwas trauen, meistens etwas Neues und

2. mutig sein.

Mir fällt es immer sehr schwer, mich zu trauen. Meistens brauche ich einen entscheidenden Schubs oder eine ausgewachsene Krise, bis ich mich tatsächlich traue, etwas zu entscheiden oder auszuprobieren. Sich trauen wird auch immer schwieriger, je öfter man Ablehnung erhält oder Gegenwind bekommt. Irgendwann traut man sich einfach gar nicht mehr. Und falls ich es dann doch noch einmal wage – Halleluja – dann braucht es Mut. Ist all das geschafft, kommt der Rausch ;).

Der Rausch des Glücks, der Flow, wie es heute heißt. Dann schwimme ich in Wohlgefallen. Aber auch das nur genau so lange, bis der nächste Schlag kommt. Das klingt jetzt hier alles so negativ, aber eigentlich meine ich es positiv. Denn nichts, wirklich gar nichts, fühlt sich so gut an, wie etwas Neues zu wagen. Es macht Spaß, sich auszuleben, Ideen Wirklichkeit werden zu lassen oder manchmal auch einfach frech zu sein und etwas anders zu machen.

Und während ich so über meinen Gedanken brüte, flüstert meine Freundin Elli ihrem Mann etwas ins Ohr: „Dann hol die Flöten schon raus“. Nanu, wundere ich mich, was meinen sie damit? Aber die Situation klärt sich schnell. Denn zu unserem Elsass-Urlaub, in den es uns in diesen Winterferien führte, gesellten sich  Elli und ihre Gäng. Kaum hatten sie ihre Taschen ausgepackt, köpften sie seine Flasche Champagner.

Ein kleiner Knall, frischer Schaum und schon blubberten die Bläschen aufgeregt vor sich hin. Was für ein Anblick, wenn man es richtig zelebriert. In unserem sehr gemütlichen Haus gab es natürlich keine gescheiten Gläser für diese Art der Dekadenz. Und so bekam mein Mann sein Geburtstagsgeschenk schon vor dem eigentlichen Jubeltag: sechs formschöne Champagner-Flöten. Und was sahen die Blubberbläschen spektakulär aus. Eiskalter Champagner am Kamin – das ist Dekadenz pur.

Im Laufe des Abends öffneten wir noch eine zweite Flasche und fühlten uns dabei so herrlich verschwommen, dass wir beschlossen, ab jetzt öfter dem Sittenverfall zu frönen. So steht es im Duden: kultureller Niedergang mit typischen Entartungserscheinungen in den Lebensgewohnheiten und Lebensansprüchen. Synonyme für Dekadenz sind Verfall und Entartung. Je mehr es in unseren Bäuchen blubberte, desto weiter rutschten wir vom Sofa. Noch ein Holzstück im Kamin und wir entledigten uns unserer dicken Winterpullis…

Nein, das hier wird jetzt kein erotischer Rausch, denn unmittelbar nach der zweiten Flasche schliefen wir, einer nach dem anderen, ein. Erst klappte mein Mann sein linkes Augenlid zu, dann kippte der Kopf des anderen Mannes zur Seite und schließlich schlichen wir reumütig zu unseren Kindern ins Bett. Ein ganz klein wenig entartet sahen wir vielleicht am nächsten Morgen aus, aber nicht etwa vom guten Gesöff, sondern lediglich vom Schlafmangel.

Ich will noch mehr über Dekadenz wissen: Warum lächeln alle senil, wenn man davon spricht? Oder aber es wird mit einer gewissen Abneigung darüber gesprochen. „Also so dekadent sind wir nicht“, hörte ich mal eine Bekannte sagen. Jetzt denke ich an unsere wunderbaren drei Champagner-Tage und finde das dekadent sein eigentlich ziemlich gut. Heißt es nicht nur, dass man sich ab und zu etwas gönnt? Sollten wir das nicht alle ab und zu tun? Wikipedia schreibt u. a.: „Dekadenz ist ein ursprünglich geschichtsphilosophischer Begriff, mit dem Veränderungen in Gesellschaften und Kulturen beschrieben werden. Dekadenz steht für Verfall und Niedergang beziehungsweise Verkommenheit.“

Wie gesagt, das mit der Verkommenheit traf durchaus am nächsten Morgen zu. Aber grundsätzlich sind wir ja sehr vorbildliche Erwachsene, wie ich von meiner Tochter kürzlich lernte. Wir Eltern sind die Erwachsenen und meine Eltern hingegen sind „nur“ Oma und Opa. Seit mein Papa das weiß, werde ich von ihm als „die Erwachsene“ bezeichnet. War es nicht immer anders, denke ich lachend und freue mich über die lustigen Seilschaften, die zwischen Enkelinnen und Oma und Opa so entstehen. Eine dekadente Seilschaft hatten wir auch gebildet und zum Abschied beschlossen, dass wir auch im kommenden Jahr drei dekadente Tage haben wollen. Vielleicht etwas zünftiger, da muss man nicht immer Sorge tragen, dass die Flöten aus Versehen umfallen.

Zurück im tristen Berlin, blätterte ich meinen Wochenkalender um. Es handelt sich um einen Kalender, der die großen Schriftsteller:innen unserer Zeit porträtiert: Diese Woche war Joris-Karl Huysmans dran. Eines seiner größten Werke war das Buch „Gegen den Strich“ dessen Mittelpunkt Jean Floressas des Esseintes ist. Ein exzentrischer Einzelgänger, der sich in der Nähe von Paris ein Haus baut, oder viel mehr eine Art Museum der „décadence“, wo etwa Schildkröten mit in die Panzer eingelegten Edelsteinen durch die Räume kriechen und ein geheimnisvolles Licht verbreiten.

Der Held erschafft sich eine vollständig künstliche Welt, die es ihm erlaubt „den Traum von der Wirklichkeit an die Stelle der Wirklichkeit zu setzen“. Und während ich ernsthaft darüber nachdenke, was das bedeutet, komme ich zu dem Schluss, dass auch wir uns in diesen drei dekadenten Tagen eine eigene Wirklichkeit geschaffen haben. Wir haben keine Nachrichten geschaut, unsere Lieblingsmusik gehört und gekocht und geschlemmt, was das Zeug hielt. Das war unser Museum der Dekadenz und das wünsche ich mir jetzt einmal im Jahr. Chapeau. Danke Elli und Belli für diese Tage! Ihr seid großartig.

In „Gegen den Strich“ arbeitet Floressas an der Verfeinerung seiner sinnlichen Sensationen und gelangt dabei immer weiter in eine Welt des artifiziellen (was für ein Wort! Übersetzt: nicht natürlichen Ursprungs, von Menschenhand gemacht) Rausches. Ich bin jetzt auch fertig mit Rauschen.

Am Ende sei gesagt: Für jeden ist Dekadenz etwas anderes. Ich finde, Dekadenz kann auch sein, einfach mal einen Tag nicht zu arbeiten und mit meinem Mädchen in die Boulderhalle zu fahren. Keine Sorge Unterricht fand, wegen Lehrkräfte-Streik, nicht statt.

In diesem Sinne: Traut euch dekadent zu sein, dann klappt es auch mit dem mutigen Champagner – oder so ähnlich.

Bleibt leicht&lebendig und wie gesagt, seid gelegentlich auch mal dekadent,
Helen

Wer mich sehen und hören möchte: Ich lese am 4. März 2023 um 19.00 Uhr in der nomi winebar (Öffnet in neuem Fenster), Manteuffelstr. 100, Berlin-Kreuzberg.
Musik dazu gibt es vom wunderbaren Niklas Müller. Hier geht es zur Veranstaltung: 

https://www.helenarnold.de/buch (Öffnet in neuem Fenster)

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