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Vom erschöpften Speck

Oder wie ich versuche mit meinem Hüftspeck Frieden zu schließen

Liebes Hüftspeck, du bist schön. Ich mag dich genauso wie du bist. Das denke ich jetzt und weiß genau, dass ich es nicht so meine. Ich stehe halb nackt vor dem Spiegel und versuche mir selber zu erklären, dass mein Hüftspeck ab sofort nicht mehr meine sogenannte „Problemzone“ sein soll. Schon als Jugendliche habe ich diese Stellen gehasst. Ich weiß nicht, woher diese Gedanken kommen, dass wir bestimmte Körperteile nicht leiden können. Was soll denn eine sogenannte Problemzone überhaupt sein? Sollten wir nicht mögen, was uns die Natur gegeben hat? Googelt man „Problemzonen“, stößt man direkt auf eine ganze Reihe von Tipps, wie man diese Zonen besser in den Griff bekommt. Ich frage mich, woher die einschlägigen Seiten denn wissen, um welche Zone es sich handelt. Ich finde Bilder von Brust, Armen, Bauch, Po, Hüften, Oberschenkel, Waden, Füßen, also eigentlich vom ganzen Körper. Fehlt nur der Kopf! In Zeiten von Fatshaming und Bodypositiv bzw. Neutral Bewegungen sollte kein Frauenkörper als Problemzonen dargestellt werden!

Ich war diese Woche bei der Buchpremiere von Franziska Schutzbachs (Öffnet in neuem Fenster) Werk „Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit“. Gemeinsam mit der wunderbaren Journalistin Sabine Rennefanz sprachen sie über ein Buch, dass mich zutiefst bewegt und anspricht. Wenn ich an meine Freund:innen, Bekannt:innen und weibliche Familienmitglieder denke haben sie alles eines gemeinsam: Sie sind ständig erschöpft. Erschöpft von der Arbeit. Erschöpft von der Hausarbeit. Erschöpft von ihren Beziehungen. Erschöpft vom Einkaufen. Erschöpft vom Kochen. Erschöpft von ihrer Freizeit. Erschöpft vom Sport. Erschöpft, weil ihre Körper nicht aussehen, wie sie aussehen sollen.

Die Waage, der Feind

Ich schrieb schon einmal darüber, dass es in meiner Familie viel ums Essen geht. Ständig wird über zu viel Zucker, Fett, Kalorien gesprochen. Die Zahlen einer Waage spielen eine enorme Rolle. Und auch ich kann mich erinnern, dass ich einmal ganz genau Kalorien gezählt habe. Viele Richtwerte hab ich bis heute im Kopf. Es gab eine Zeit, da stellte ich mich jeden Tag auf die Waage und je nachdem, was sie mir anzeigte, wurde der Tag gut oder schlecht. Viele kennen das. Wenige sprechen darüber. In unserem Haus gibt es keine Waage! Ich habe sie schon vor langer Zeit weggeworfen. Nämlich genau in dem Moment, als meine Tochter mich beobachtete, wie ich mich wog. Morgens nach dem Pullern, vor dem Anziehen. „Mama, warum guckst du auf einmal so traurig?“, fragte sie mich und ich fühlte mich ertappt. „Wenn du davon traurig wirst mach es doch nicht.“ Ich war erschüttert, sie hatte recht. Am selben Tag warf ich die Waage in die Tonne. Einige Jahre später beobachtete ich, wie meine Tochter auf einer Waage stand und skeptisch fragte: „Ist das zu schwer?“ Da lief es mir eiskalt den Rücken hinunter und ich schwor mir, das Wiegen ab sofort zu verhindern. Aber diese Waagen verfolgen uns, in beinahe jedem Bad steht eine, was mich immer wieder aufs Neue überlegen lässt, ob ich nicht mal drauf steige. Ich kenne keinen Mann, für den eine Waage so wichtig ist und was soll ich sagen (liebe Franziska Schutzbach) der Kampf des weiblichen Körpers mit seinem Aussehen erschöpft mich.

„Warum schämen wir uns für unseren Körper? Warum fürchten wir dessen Form, Gerüche, Flüssigkeiten? Fast alle weiblich sozialisierten Menschen haben Objektivierung und Beschämung übernommen und praktizieren eine notorische Körperüberprüfung: Im Schnitt checkt eine Frau alle dreißig Sekunden, wie sie aussieht, ob die Haare richtig sitzen oder wie sie auf andere wirken könnten.“

Diese Zeilen aus Franziskas Buch erschrecken mich, denn ich beobachte die Menschen sehr genau und wenn man mal hinschaut, wie häufig Frauen nach ihrem Aussehen linsen, dann ist das schlimm. Auch ich ertappe mich dabei, wie ich mich in Schaufensterscheiben betrachte, in der heranfahrenden S-Bahn oder in den Spiegeln im Supermarkt. Und ich weiß, das ist nicht richtig. Ich habe noch nie einen Mann dabei beobachtet wie er sich in den Fenstern der S-Bahn anschaut.

Die Rache des Specks

Meine Jugend war geprägt vom Körperlichen. Ich machte viel Sport, aber nicht nur, um ausschließlich Sport zu treiben, sondern auch um schlank zu sein. Ich war Bravo-Leserin, Mädchen-Leserin, Bravo-Girl-Leserin, Popcorn-Leserin, mehr fallen mir jetzt nicht ein. All diese Zeitschriften brachten mir bei, schlank zu sein. Nachdem ich beim Volleyballtraining einmal fast ohnmächtig wurde, bekam ich die Kurve und verstand schnell, dass ich ein bisschen mehr als einen Apfel und Krautsalat essen sollte, um halbwegs gut zu sein (Mila Superstar vergangene Woche (Öffnet in neuem Fenster)). Ich aß also wieder, aber es blieb eine „Problemzone“ zurück: Der Hüftspeck. Die Nichtliebe zu dieser Stelle an meinem Körper kann ich bis heute nicht überwinden. Genau bis heute, denn diese Woche hatte ich ein Schlüsselerlebnis.

Ich habe nämlich Schmerzen, mal mehr, mal weniger, aber sie sind da. Jedenfalls begannen sie mich zu nerven, denn ich habe diese Schmerzen schon seit mehreren Jahren. Der Schmerz zieht sich manchmal hinunter bis in den Hintern und manchmal nach oben, manchmal piekt er und manchmal stört er mich im Bett. Aber er ist immer da. Da ich nicht unsportlich bin, ging ich auf Rat meines Triathlon-Mannes (Öffnet in neuem Fenster) zu den Sportmedizinern der Humboldt-Universität in die Charité. Ich wurde professionell befragt und dann so richtig untersucht – mit Anfassen. Das war mir bei einem Orthopäden noch nie passiert. Sie rieten mir immer zu einer Operation, egal ob Schulter, Rücken oder Knie. Dieser neue Herr Doktor jedenfalls tastete meinen Rücken ab, ich musste mich bücken und dann drehte und quetschte er an mir herum, um zu dem Schluss zu kommen: „Sie sind sehr beweglich. Es ist nichts eingeklemmt und sie haben keine Blockade. Sie sind wahrscheinlich zu fest.“

Das ging runter wie Gin Tonic! Er hatte mich also tatsächlich als fit bezeichnet. Mit einem Rezept zur Physiotherapie schwebte ich nach Hause. In der S-Bahn las ich die Diagnose: Iliosakralgelenksyndrom. Ich wusste jetzt also, was mich quälte. Nachdem ich vorbildlich direkt Termine bei der Physiotherapeutin vereinbart hatte, stand ich zu Hause mit nackten Hüften vor dem Spiegel und versuchte mein Iliosakralgelenk zu orten. Ich wusste in etwa, wo es liegt, am unteren Rücken. Ich kann es nicht ertasten, demzufolge ist es auch vom Gatten schwer massierbar. Wie also sollte ich dieses Ding weich machen? Ich will doch auf keinen Fall zunehmen, vor allem nicht an den Seiten. Und da war sie wieder, die PROBLEMZONE. Ich betastete diese fluffigen Stellen an meinem Körper und dann ging mir doch ein Licht auf. War vielleicht nicht nur ich erschöpft, sondern auch mein Speck? Diese kleinen Pölsterchen werden, seit sie da sind, von mir mit Missgunst behandelt.

„Die Unzufriedenheit mit dem weiblichen Körper ist in den letzten Jahren in den westlichen Ländern gestiegen. Mehrere Studien zeigen, dass speziell Frauen mit ihrem Aussehen heute mehr hadern denn je. Unabhängig von Alter, Herkunft, Hautfarbe oder Physiognomie beurteilen, überwachen und verachten Frauen ihre Körper.“

Aus Franziska Schutzbachs Buch „Die Erschöpfung der Frauen“. Das ist schlimm, denn es ist wahr. Ich denke an meinen Text über die Brüste meiner Freundinnen vom Naked Thursday (Öffnet in neuem Fenster) und frage mich, ob es eine Neuauflage braucht bzw. einen festen Tag, an dem wir alle mit unseren freigelegten Problemzonen herum laufen und ihnen Liebe, Zuneigung und vor allem Zuspruch schenken. Könnte es nicht sein, dass mein Speck einfach erschöpft ist und weil es in diesem Sinne nicht schmerzen kann, gibt es seine schlechte Energie an Ilio weiter? Der Gedanke ist natürlich ziemlich abwegig, aber irgendwie auch naheliegend und zeigt mir, was zu tun ist. Ich muss mich nämlich jetzt sehr viel mit meinen Hüften befassen und mit dem Speck, was daran steckt. Ich gelobe Besserung und möchte lernen, es zu hegen, zu pflegen und ehren.

Und damit beginne ich gleich nächste Woche: Auf einer kanarischen Insel werde ich den Hüftspeck in einen knappen Bikini stecken. Und zwar in genau den wunderschönen Bikini, den ich nie anziehe, weil er an den Hüften „quetscht“. Ich lasse mein erschöpftes Speck in der Sonne erstrahlen und möchte Frieden schließen. Vielleicht erbarmt sich ja dann auch Ilio.

Bleibt schön leicht&lebendig, Helen

So Schön kann übrigens Speck sein:

Danke Sophie!

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