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Zufrieden unzufrieden

Ein Rausch über Kleidungsstücke

Wir werden im Foyer des Neuen Hauses abgeholt, aus dem Haus heraus, einmal drum herum, über den Hof und von hinten wieder hinein. Zwei Reihen gibt es für uns Zuschauende, direkt an der Bühne, die ebenerdig ist und uns so Teil des Stücks werden lässt. Auf dem Boden liegt eine junge Frau in einem rosa Kleid. Neben ihrem Kopf eine Blutlache und eine Pistole. Sie ist tot. Ich frage mich: „Stirbt nicht erst am Ende jemand?“

Der Geruch von Latex

Ich habe Hedda Gabler getroffen. Sie trug ein gummiartiges Kleid in rosa. Bei jeder Bewegung raschelte es. Wobei rascheln vielleicht nicht der richtige Ausdruck ist. Es war mehr ein plastisches Rauschen. Das Kleid ist lang und hat einen Kragen. Heddas Hände sind von Latexhandschuhen umhüllt, die am Kleid befestigt sind. Überhaupt besteht das gesamte Kleid aus einem Stück. Es ist aus Latex, schreibt mir die Schauspielerin Pauline Knof; sie spielt Hedda. Sofort habe ich den Geruch von Kondomen in der Nase und finde den Gedanken, einen ganzen Abend in einem solchen Teil zu stecken, wahrlich beengend.
Dennoch bewegt sich Hedda erstaunlich gut und sehr schnell in diesem Kleidungsstück. Immer wenn sie sich hinsetzt, bauscht sie den großen Rock um sich, als würde das Kleid sie beschützen. So scheint es jedenfalls zu Beginn des Stückes.

Ich habe die Aufführung „Hedda“ kürzlich im Berliner Ensemble gesehen, und ihre Geschichte hat mich tief berührt. Sie ist so alt – und doch so zeitlos. Während des ganzen Abends verlässt Hedda nicht einmal das Haus. Ständig kommen und gehen Leute, aber Hedda bleibt. Und ich im Publikum habe die Enge und den Wahnsinn mitgefühlt, der sie nach und nach erdrückt. Im Laufe des Stückes riss sie immer wieder an dem Kleid, das ihr den Hals zuschnürte. Aber ein Entkommen war nicht möglich. Ein (Alb-)Traum in Latex.
Der Verlauf der Geschichte ist bekannt und überall nachzulesen. Eine alte Leier, wenn man so will. Henrik Ibsen hat das Stück vor über einhundert Jahren geschrieben, und dennoch ist es aktuell. Eine Frau, die in ihrem eigenen Leben gefangen ist. Deren Situation ausweglos erscheint. Am Ende steht der doppelte Suizid.

Vom Wunsch nach bräsigen Tagen

Jetzt mag es dramatisch klingen, wenn ich schreibe, das Thema ist aktuell. Aber wie oft fühlen wir uns gefangen? Eigentlich ständig, obwohl wir doch sehr frei und privilegiert sind. Nun mag es eine Laune meiner Generation sein, immer noch mehr zu wollen und selten zufrieden zu sein. Aber wenn ich das Gefühl doch hege, warum darf ich es dann nicht aussprechen.
Egal, mit wem ich mich darüber unterhalte, fast jede:r kennt das Gefühl: Die meiste Zeit funktionieren wir und sehnen uns nach der Freiheit zu tun, was wir möchten. Die freien Wochenenden ohne Pläne gibt es kaum noch. Diese Tage, die bräsig dahin wabern und an denen nichts passiert, außer essen, schlafen, duschen. Aber mal ehrlich, ist es wirklich das, was wir wollen?

Ich habe mich kürzlich mit einer befreundeten Mom unterhalten. Momentan befindet sie sich in Elternzeit mit ihrem zweiten Kind. Sie fragte mich: „Woran schreibst du gerade?“ Und ich dachte eine Weile darüber nach, bevor ich antworten konnte. Denn ich schreibe neuerdings immer an verschiedenen Dingen gleichzeitig. Ich tanze auf vielen Hochzeiten, genau das, was ich immer wollte. Aber richtig zufrieden bin ich dabei nicht. WARUM DENN NICHT?
Ich antwortete: „Gerade schreibe ich eine Kolumne über die zufriedene Unzufriedenheit.“ Zu diesem Zeitpunkt stimmte das gar nicht. Der Gedanke kam mit erst in genau diesem Moment.

Sie schaute mich eine Weile an, sagte erst nichts – und nachdem wir ein Stück gegangen waren, erwiderte sie: „Das kenne ich.“ Damit hatte ich nicht gerechnet, eher mit einem skeptischen Kommentar. Sie sprach darüber, wie unzufrieden sie damit ist, dass sie die ganze Zeit mit ihrem Kleinkind zu Hause hockt und nur Mama ist, und dass sie, egal wem sie das erzählte, immer schief angeschaut wird.
Schließlich wollte sie es doch so. Natürlich könnte sie es auch ändern und schon mal ein bisschen wieder im Homeoffice arbeiten, ihre Arbeitgeber:innen würden das begrüßen. Aber das wolle sie eigentlich nicht. Denn eigentlich sei sie ja zufrieden, wie es ist.

Am Ende bedankte sie sich für mein Zuhören, dafür dass ich sie nicht verurteile und ihr auch keinen schlauen Rat gab. Eine Lösung gibt es nämlich nicht für zufriedene Unzufriedenheit. Es hilft nur: Akzeptieren und darüber lachen. Das taten wir dann auch ausführlich.

Business meets Jogginghose

Nachdem wir uns verabschiedet hatten, musste ich wieder an Hedda und ihr Latexkleid denken und schreibe noch einmal eine Nachricht an die Schauspielerin Pauline Knof. Ich wollte wissen, wie sich das Kleid getragen anfühlt.
Ihre Antwort: „Wie eine falsche Haut. Zu warm und zu kalt gleichzeitig. Ich komme in das Kleid nicht allein rein und auch nicht raus, obwohl der Schnitt ganz einfach ist. Dazu noch die Handschuhe.“ Auch müsse sie sehr vorsichtig sein, dass das gute Stück nicht reißt.

Hedda ist gefangen in ihrem Leben und ihrer Kleidung. Anschließend denke ich lange darüber nach, was Kleidung mit uns macht und wie sie wirkt. Ist es nicht oft so, dass wir nach Hause kommen und alles ausziehen? Eine gute Freundin von mir trägt ihre Kleidung wie eine Rüstung. Sie liebt es, sich für die Arbeit zu „verkleiden“, was bei ihr heißt, sie schlüpft in‘s schicke Kostüm. Dann ist sie die Business-Superwoman und macht Geschäfte. Sobald sie zu Hause ist, schmeißt sie alles ab und schlüpft in eine gemütliche Jogginghose.
Ich hingegen fand es immer schrecklich, mich „verkleiden“ zu müssen und nicht ich selbst sein zu können. Ich möchte nur Wohlfühl-Kleidung tragen. Aber auch ich ziehe mich oft um, wenn ich nach Hause komme. Ich bin zufrieden unzufrieden mit dieser Tatsache.

Ich frage mich: Was hat Zufriedenheit mit Kleidung zu tun? Mit den Kids aus meinem Wahlpflichtunterricht „kreatives Schreiben“ (Öffnet in neuem Fenster) in einer Köpenicker Grundschule habe ich über Lieblingskleidungsstücke gesprochen und anschließend geschrieben. Folgende Fragen haben wir diskutiert:

  • Wann trägst du dein liebstes Kleidungsstück?

  • Wie fühlt es sich auf der Haut an?

  • Wie fühlst du dich, wenn du dein Lieblingskleidungssück trägst?

Die häufigste Antwort auf die letzte der drei Fragen war: ZUFRIEDEN. Ich komme also zu dem Schluss, bei Unzufriedenheit hilft es, das liebste Kleidungsstück anzuziehen. Und sollte das auch nicht reichen, ist es auch mal in Ordnung mit der eigenen Unzufriedenheit zufrieden zu sein. Nehmt es leicht, gebt der Unzufriedenheit Flügel und lasst sie raus. Meistens kennt sie den Weg.

Helen

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