Flausch tut gut
Ein Rausch über tierische Ruhe
Der Hahn kräht. Es ist noch dunkel. Aber meine Gedanken springen sofort an: Wie wird das Wetter? In meinem Kopf sind Sturm und Regen. Riesige Pfützen, volle Seen und Flüsse, die über die Ufer treten. Gestern sind wir über die Elbe gefahren und haben zahlreiche andere kleine Flüsse und Bäche überquert, die alle randvoll waren.
Ich denke an die Hochwasser-Geschichte, die meine Mama oft erzählte. Als sie Kind war und noch in Pirna bei Dresden lebte, erlebte sie einmal Hochwasser. Das Wasser der Elbe reichte bis unters Fensterbrett. Sie wohnten im zweiten Stock (in meiner übertriebenen Erinnerung war es die fünfte oder sechste Etage) Gemeinsam mit ihrer Schwester ließen sie den Teddybären schwimmen. Er kam nicht zurück.
Vom vielen Denken an Wasser muss ich auf die Toilette. Die Dielen unter meinen Füßen knarren, als säßen kleine Kröten darunter. Das Holz ist abgezogen. Alles ist zu Einhundertprozent Bauernhof-Romantik. Ich schaue leise bei meinem Mädchen ins Zimmer: die Tür ist nur angelehnt und ächzt, als ich sie vorsichtig öffne. Sie atmet tief, umringt von Kuscheltieren (Öffnet in neuem Fenster).
Himmel und Hochwasser
Ich schleiche zurück in mein Schlafzimmer: Ein Blick aus dem Fenster. Der Himmel ist klar, es dämmert. Kein Hochwasser. Nur in meinen dunklen, wintergrauen Fantasien. Als das erste Licht durch die schweren Vorhänge blinzelt, schlafe ich noch einmal kurz ein.
Ich erwache von einem erneuten Knarren, diesmal die Tür. „Seid ihr wach?“, höre ich meine Tochter flüstern. Mein Mann seufzt selig. Ich sage: „Komm her Süße.“ Und sie krabbelt zu uns ins Bett, rollt sich auf den Rücken und schlägt ihr Buch auf. Sie liest „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl.“ Neben ihrem Kopf: Plüschtiere. Im Buch: verlorene Plüschtiere. Ich spähe vom Bett aus zum Fenster, nur ein kleiner Spalt offenbart einen Schlitz blau.
Ist der Himmel wirklich hell? Kein grau? Ich kann es gar nicht glauben. Also stehe ich auf und schaue skeptisch aus dem Fenster. Ein Plüschtier rennt über den Hof und spielt – ich kann es gar nicht fassen – mit einem anderen Plüschtier. Was ist denn hier los? Bin ich schon wach? Verliere ich den Verstand?
Als ich kurz darauf aus dem Zimmer trete, ertönt ein Schrei, und von der oberen Treppe purzelt mir ein Schwein entgegen. Peppa Wutz in Lebensgröße fliegt mir vor die Füße. Die Kinder unserer Freunde haben Familie Wutz dabei. Na wie gut, dass unsere Ferienwohnung im ehemaligen Schweinestall liegt.
Der Geruch von Kaffee und Tier
Es riecht nach Kaffee. Dankbar nehme ich eine Tasse entgegen und umarme meine Freundin. Als Studentinnen haben wir Karneval zusammen gefeiert, sie war als Plüsch-Hasi verkleidet. Wir hatten lange nicht mehr so viel Zeit für uns und unsere Freundschaft. Und jetzt eine ganze Woche, sogar mit Männern, Kindern und Plüschtieren. „Ich gehe kurz raus, die frische Morgenluft riechen“, sage ich zu ihr und sie zieht mich noch einmal in ihre Arme. „Das wird toll“, flüstert sie in mein Ohr. „Ich freue mich so, dass wir hier sind.“ Ich nicke.
Mein Mantel riecht schon nach Tier und Stall und Stroh. Drunter trage ich noch immer meinen Schlafanzug,- der wird dann heute Abend auch duften. Aus meiner Tasche reckt sich ein Heu-Halm. Gestern spät abends haben wir schon die Pferde gestreichelt. Genau da will ich jetzt auch hin. Später in dieser Woche werde ich nach zwölf Jahren wieder auf einem Pferd sitzen und im Galopp weinen. Es ist wie fliegen, immer noch.
Hier auf dem Hof leben zwei Hunde. Einer ist noch ein Baby, erst vier Monate alt. Anni sieht aus, als wäre sie einem Ikea entsprungen. Sie rennt im wilden Hundebaby-Trab über den Hof: der Hinterkörper macht unkoordinierte Bewegungen. Es sieht zuckersüß aus. Ich möchte ständig quietschen.
Manfred, eins der Schafe, ist so voller Winterwolle, dass er nichts sehen kann. Aber er will ständig gekrault werden. Meine Freundin mag Schafe sehr gerne. Am liebsten hätte sie ein eigenes. Stundenlang steht sie bei Manfred und krault ihn. Ich glaube, sie redet heimlich mit ihm. Dafür liebe ich sie noch mehr.
Tränen im Wind
Die Reitlehrerin Luisa fragt: „Bereit?“ Sie dreht sich kurz zu mir um. Das Islandpferd unter mir kennt die Galoppstrecke. Ich spüre, wie es die Muskeln anspannt. Die Hufe tänzeln. Ein kleiner Hopser nach vorne. Noch halte ich die Zügel kurz. Aber ich weiß, wenn es losgeht, habe ich keine Chance irgendwas zu halten.
Und dann höre ich Luisa: „Loooooos!“ Das Pferdchen spannt an, ich lockere die Zügel, stelle mich in die Steigbügel. Die Erinnerung kommt zurück, mein Körper weiß noch, wie es geht. Ein gewaltiger Ruck geht durch den Pferdekörper. Der erste Galoppsprung. Ich lasse ich mir die Zügel aus den Händen ziehen und greife in die buschige Mähne.
Ich fliege. Alles fällt ab, weht im Wind dahin. Dann muss ich weinen. Während ich im Galopp dahin jage, rinnen mir lautlose Tränen die Wangen hinab. Dreck und Schlamm spritzen mir ins Gesicht, ich muss lachen. Lachen – weinen – lachen – weinen. Eine Irre, die auf einem Pferd übers Feld galoppiert und heult und lacht zugleich.
Ich bin wild, jung und frei.
Den Muskelkater dieses Ritts spüre ich noch drei Tage später. Aber das Gefühl vom Fliegen wird mich das ganze Jahr über begleiten.
Dreckig und gerührt kehre ich zum Hof zurück. Nach dem Putzen lege ich meine Wange an den Pferdehals, spüre das Pochen, fühle die Wärme, die Energie und weine noch mal zwei verlegene Tränchen ins große Plüschtierfell. Ich umarme Luisa, flüstere ihr „Danke für dein Vertrauen ins Ohr.“ Sie freut sich.
Das Hochwasser ist vorüber, der Sturm abgezogen. Ruhe kehrt ein. Es ist schön hier, zwischen all den lebendigen und flauschigen Kuscheltieren. Sie tun mir gut und streicheln meine Seele. Ganz sanft, leicht und lebendig, Helen