Große Töne, kleine Bücher
Beleidigungen / Syrien / Taliban / „Kapitalismuskritik“ / Kanzlerkandidaten / Pixi
Liebe Leserin, lieber Leser,
vielen Dank für das Interesse an diesem Newsletter „Erbauliche Unterredungen“, benannt nach dem ersten Magazin weltweit überhaupt, nämlich den „Erbaulichen Monaths-Unterredungen“ von 1663 des Hamburger Theologen und Dichters Johann Rist. Ich möchte künftig weniger in den „sozialen“ Medien schreiben und meine alltäglichen Gedanken hier in Texten bündeln. Das geht vor allem dann, wenn Sie diesen Newsletter abonnieren und Mitglied werden. Danke all denen, die jetzt schon dabei sind! Und besonders Danke natürlich an alle, die mit einem Beitrag meine Arbeit unterstützen - ich weiß das sehr zu schätzen!
Wie umgehen mit Beleidigungen?
Vergangene Woche war ich vor Gericht. Als Zeuge. Am Amtsgericht München wurde gegen einen Mann verhandelt, der mich vor zwei Jahren mal auf „X“, damals noch Twitter, beleidigt hatte.
Zuvor hatte mich ein anderer Typ von seinem Firmen-E-Mail-Account wüst beschimpft und mich als „Drecksausländer“ bezeichnet. Ich sah zunächst von einer Anzeige ab, kontaktierte diese Person aber und verlangte eine dreiseitige handschriftliche Bitte um Entschuldigung, blaue Tinte, fehlerfreies Deutsch (von jemandem, der mit der Bezeichnung „deutscher Patriot“ hausieren geht, erwarte ich, dass er seine Sprache fehlerfrei beherrscht). Außerdem eine Überweisung von 100 Euro an eine Hilfsorganisation seiner Wahl.
Der Typ kam dem nach. Wir telefonierten sogar zweimal, er war sehr zerknirscht und sagte mir beim zweiten Gespräch, er schäme sich sehr. Er wünschte, er hätte mir diese Mail nie geschrieben. Dabei beließen wir es, er war meinen Forderungen ja nachgekommen und ich nahm ihm die Reue ab. Nach den Telefongesprächen hatte ich sogar Mitleid mit ihm. Also: keine Anzeige.
Nachdem ich öffentlich von diesem Fall erzählt hatte, beschimpfte mich nun ein anonymer Typ als „Ausländer“, als „unfassbar widerlich“ und „erbärmlich“, bezichtigte mich der „schlechten Lüge“ und schrieb, ich würde „NIEMALS Deutscher“ sein. Jener Typ, den ich erstmals persönlich vergangene Woche im Gerichtssaal traf.
Ich bekomme häufiger derartige Zuschriften. Normalerweise zeige ich solche Leute nicht an, denn kümmerte ich mich um all diese Typen, käme ich zu nichts anderem mehr. Ich denke zudem, heutzutage sind viele viel zu schnell beleidigt, bei jedem unüberlegten Wort, bei jeder Inkorrektheit. Ich mag auch diese „Ich zeig dich an!“-Mentalität nicht, die unerbittlich und unnachgiebig und wenig verzeihend ist. Andererseits: Tatsächliche Beleidigungen muss niemand hinnehmen. Gewaltandrohungen sowieso nicht, die zeige ich grundsätzlich und ausnahmslos an. Letztlich muss also jede und jeder selbst entscheiden, ob und wann sie oder er Anzeige erstattet und die Angelegenheit juristisch verfolgt.
Ich mache es so: Damit sich niemand sicher fühlt und damit niemand glaubt, er oder sie könne folgenlos beleidigen und käme mit derartigen Äußerungen einfach so davon, erstatte ich manchmal doch Anzeige. In diesem Fall zum Beispiel. Mich interessierte, ob die deutsche Justiz den anonymen Verfasser ausfindig machen könnte.
Sie konnte. Nun saß er also in München vor Gericht, zwei Jahre nach seinen Äußerungen auf Twitter. Ich sagte als Zeuge aus. Der Typ räumte ein, mir das geschrieben zu haben. Er wurde zu 50 Tagessätzen à 60 Euro verurteilt, also zu 3000 Euro, die er als Strafe an den Staat zahlen muss, nicht an mich. Ich vermute, es kommen noch Gerichts- und Anwaltskosten dazu.
Es geht mir nicht um Rache. Aber es geht sehr wohl darum, dass wir anständig miteinander umgehen. Kritik höre ich mir an. Beschimpfungen und Beleidigungen und Drohungen aber nicht. Merke: Jeder darf jederzeit und zu allem Kritik äußern. Aber nicht beleidigend, kein Rassist und Menschenfeind sein. Denn das könnte teuer werden.
Syrien, die Zukunft und die Menschen bei uns
Das Thema, das die Welt diese Woche am meisten beschäftigt hat, ist der Sturz des Diktators Baschar al-Assad. Endlich!, möchte man sagen. Ich kann die Freude der Menschen darüber verstehen, dass dieser Schlächter weg ist. Dass ausgerechnet dieser Typ, der jahrzehntelang den großen Macker machte (und zuvor sein Vater), und in dessen Palast man nun Luxusautos, Schmuck und Unmengen von Drogen fand, samt Familie feige zu Putin in den Schoß flüchtet – wie erbärmlich! Gruselig die Bilder aus seinen Folterkammern, seinen Gefängnissen, mit versteckten, unterirdischen Zellen, in denen politische Gefangene und andere unliebsame Menschen teils jahrelang eingesperrt wurden.
Ich kann die Wut und den Hass auf Assad verstehen. Man sollte nur nicht diejenigen umarmen, die nun an seiner statt um die Macht ringen. Die Berichterstattung nach Assads Sturz wirkt in manch europäischer und amerikanischer Publikation so, als wären in Syrien Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit ausgebrochen. Unter den „Befreiern“, den „Rebellen“, befinden sich Islamisten der übelsten Sorte. Leute, die beim Terrornetzwerk Al-Qaida ebenso mitgemacht haben wie beim „Islamischen Staat“. Mörder, Erpresser, Entführer, Kopfabschneider.
Und bei aller nachvollziehbaren Freude über Assads Ende: Die Nachrichten von öffentlichen Hinrichtungen in unterschiedlichen syrischen Städten, die Bilder von Erschießungen und von am Kran baumelnden Schergen Assads verheißen nichts Gutes. Leute, die sich sehr gut mit Syrien auskennen, sagen: Die Zukunft des Landes ist völlig ungewiss. Der Sturz Assads ist eine Niederlage für Putin und für das iranische Regime, das schützend seine Hand über den Diktator hielt, aber ein Sieg unter anderem für die Türkei und deren autokratischen Präsidenten. Mit anderen Worten: Es ist kompliziert, manches ist gut, anderes schlecht.
Dass man den Menschen, die 2015 und in der Folge aus Syrien nach Europa kamen, Schutz versprach unter der Voraussetzung, dass sie zurückgehen, wenn das Regime Assad Geschichte ist – d’accord. Aber, erstens, ist die Situation (noch) unübersichtlich, Sicherheit (noch) nicht gegeben. Zweitens, wollen sehr viele Menschen tatsächlich sehr gerne zurück, sie sehnen sich zum Teil seit Jahren nach ihrem Zuhause, nach Familie und Freunden, nach ihrem alten Leben. Wir sollten uns mit ihnen freuen, anstatt zu hoffen, dass sie schnellstmöglich verschwinden. Was ist das für ein Benehmen, bitte? Viele aber sind, drittens, Deutsche geworden, haben sich hier eingefunden, sind Teil unserer Gesellschaft geworden, leisten ihren Beitrag und gehören nun dazu. Diese Menschen bleiben, jedenfalls wahrscheinlich die meisten von ihnen, hier. Natürlich.
Dass manchem am Tag der Nachricht von Assads Sturz als allererstes einfällt, die Rückkehr der bei uns lebenden Menschen aus Syrien zu fordern, ist peinlich und würdelos. Gleichwohl las ich, als Kritik, bei mehreren Intellektuellen: „Das ist Deutschland!“ Oder: „Deutschland IST so.“ Oder: „Dass Menschen aus Nahost je Teil der deutschen Gesellschaft werden, kann man vergessen!“ Dem muss ich widersprechen. Ja, manche sind – leider – so. Aber die meisten – zum Glück – nicht. Die meisten haben geholfen, waren wohlwollend, aufgeschlossen, haben ihre Herzen und Häuser und Geldbörsen geöffnet und haben Gutes getan. Die meisten tun es immer noch. Ich finde, das sollten wir, bei aller Kritik, nicht vergessen.
Gute Taliban? Echt jetzt?
Diese Woche las und hörte ich wieder davon, man müsse mit den „guten Taliban“ doch reden, um Afghanistan voranzubringen. Mich erinnert das an den früheren SPD-Chef Kurt Beck, der schon 2007 von „guten“ und „moderaten“ Taliban redete. Als ob man zwischen „guten“ und „schlechten“ Taliban unterscheiden könnte.
Ach doch: Ein Talib hinter Gittern ist ein guter Talib.
Diese Woche haben die Taliban – mal wieder – bewiesen, wes Geistes Kind sie sind: Sie haben die Ausbildung von Hebammen und Krankenschwestern verboten. Hieß es anfangs, nach ihrer Machtübernahme im Sommer 2021, sie würden selbstverständlich Frauenrechte achten, verhängten sie kurze Zeit später für Frauen ein weitgehendes Berufsverbot. Nur wenige Berufe dürften Frauen noch ausüben, Hebamme und Krankenschwester zum Beispiel, denn nur Frauen sollten Frauen behandeln und, oh Gott oh Gott, nackt sehen. Jetzt ist auch das vorbei. Frauen sind so gut wie komplett aus dem öffentlichen Bild verschwunden, es darf keine Plakate, keine Bilder von ihnen geben, öffentlich sollen sie, wenn es sein muss, sowieso nur vollverhüllt in Burka unterwegs sein (und natürlich in Begleitung eines Mannes, nämlich des Vaters, der Ehemannes, des Bruders oder des Sohnes; wehe, es ist ein Mann, mit dem sie nicht verwandt sind!). Schule ist ihnen nur bis zur sechsten Klasse erlaubt (und ich prophezeie: Damit ist es auch bald vorbei). Und wenn nun eine Frau eine Hebamme oder eine Krankenschwester benötigt: Pech gehabt, gibt’s bald nicht mehr.
Im weltweiten Demokratieindex liegt Afghanistan mit Abstand auf dem letzten Platz. Auf dem allerletzten. Und dann stehen sie – noch nie einen Stift gehalten, aber ein Gewehr im Arm – da und erklären allen Ernstes, die Ausbildung von Hebammen und Krankenschwestern sei beendet. Die Taliban sind, und das ist die so differenziert wie mögliche Betrachtung, eines: Barbaren.
Mord als „Kapitalismuskritik“, der gefeierte mutmaßliche Täter
Durchaus primitiv finde ich auch, wie der mutmaßliche Mörder Luigi Mangione, der am 4. Dezember 2024 den US-Krankenversicherungsmanager Brian Thompson umgebracht haben soll, nun im Netz gefeiert wird. Man mag am US-Gesundheitssystem einiges kritisieren, sogar daran verzweifeln. Der größte Teil meiner Familie lebt in den USA, ich weiß, wovon ich rede. Und das Unternehmen, für das Thompson arbeitete, soll besonders perfide mit seinen Kunden umgegangen sein. Und über Thompsons Geschäftsgebaren habe ich bisher wenig Schmeichelhaftes gelesen. Das alles ist kritikwürdig, man kann dagegen protestieren, es öffentlich anprangern, demonstrieren, den juristischen Weg beschreiten, Pamphlete schreiben, politisch dagegen aktiv werden. Aber nichts, wirklich nichts rechtfertigt: Mord.
Der mutmaßliche Mörder aber wird als Held zelebriert, als „Kapitalismuskritiker“ und „Kämpfer für die Schwachen“. Dass er auch noch aus wohlhabender Familie kommt, die den „American dream“ verkörpert, und dann auch noch so jung ist - 26 Jahre - und gut aussieht, lässt manchen Verstand aussetzen.
So wie jetzt manche argumentieren, Mangione sei doch so etwas wie ein moderner „Robin Hood“, einer, der der Gerechtigkeit genüge getan habe - so ähnlich argumentieren Rechtsextremisten, wenn sie Gewalt gegen „Ausländer“ rechtfertigen. Und so ähnlich argumentieren islamische Extremisten, wenn sie Morde gegen „Feinde des Islam“ verteidigen. Mord als „Kapitalismuskritik“. Mord als „Schutz der Nation“. Mord als „Verteidigung der Religion“.
Mord ist Mord.
Unsere drei K-Kandidaten
Erfreulich finde ich das Video von Joko & Klaas, in dem Robert Habeck, Friedrich Merz und Olaf Scholz in jeweils weniger als fünf Minuten etwas über Politik und Anstand sagen:
https://youtu.be/qfYbdT9lqk8?si=i1O3DsiQSVfuv0sp (Öffnet in neuem Fenster)Ich bin froh, dass wir solche Kandidaten haben, die sich in Deutschland um das höchste Regierungsamt bewerben. Ich persönlich habe diesmal einen klaren Favoriten. Andere haben einen anderen Favoriten. Aber so unterschiedlich sie vom Typ und von ihren Schwerpunkten sind – ich kann allen dreien etwas abgewinnen. Da ist niemand dabei, von dem ich denke: Mit dem wäre Deutschland im Eimer! Das ist schon viel wert, wenn man sich den Zustand der Welt anschaut und wer wo wie regiert. Ich hoffe nur, alle drei halten sich im Wahlkampf (und darüber hinaus) an die Versprechen, die sie da geben.
Klein, aber oho!
Heute empfehle ich kein Buch, sondern gleich ein ganzes Bücheruniversum: Pixi-Bücher! Als Kind habe ich die zehn mal zehn Zentimeter kleinen Büchlein geliebt. Sie kosteten damals 1,50 D-Mark, wenn ich mich richtig erinnere. Das war für mich leistbar – und für meine Eltern auch. Immer wenn wir von meinem Wohnort Hollern-Twielenfleth zum Einkaufen in die Stadt fuhren, nach Stade, und dort ins Kaufhaus Hertie gingen, stattete ich der Bücherabteilung einen Besuch ab. Und dort gab es eine Wanne mit Pixi-Büchern. Meistens durfte ich mir eins oder mehrere aussuchen. Manchmal kaufte ich mir selbst eins, von meinem ersparten Taschengeld. Sie waren mein Einstieg in die Bücherwelt, und ich wollte unbedingt Buchautor werden. Dabei stelle ich mir als Ergebnis meiner Arbeit vor: Pixi-Bücher.
Als ich im vergangenen Jahr bei der Recherche für mein Buch „Deutschlandtour“ den Künstler und Illustrator Jonas Kötz (Öffnet in neuem Fenster) kennenlernte, freute ich mich über eine Sache ganz besonders: dass er Pixi-Buch-Illustrator ist!
Meine Frau hat kürzlich diesen Beitrag im Bayerischen Rundfunk entdeckt und mir sofort geschickt, hören Sie mal rein:
https://www.br.de/nachrichten/kultur/kleine-geschichten-als-staendige-begleiter-70-jahre-pixi-buecher (Öffnet in neuem Fenster)„Die kleinen Taschenbücher haben nach wie vor Potenzial als Einstiegsdroge für künftige Leserinnen und Leser“, heißt es da. Wie wahr! Und es gibt eine Ausstellung in München! Ich habe noch eine Kiste mit meinen alten Pixi-Büchern. In einigen davon ein, nun ja, ziemlich veraltetes Frauen-, Männer-, Jungen-, Mädchen-, Gesellschaftsbild. So what? Die Zeiten ändern sich. Die heutigen Pixi-Bücher sind da anders. Wer weiß, was wir darüber in 30, 40, 50 Jahren sagen werden? Auf jeden Fall: Kaufen und lesen und verschenken Sie Pixi-Bücher!
Nächste Woche gibt es erfreulichere Unterredungen, versprochen! Frau Dr. Bohne und ich wünschen eine angenehme vorweihnachtliche Woche und einen schönen dritten Advent! Herzliche Grüße aus Wien,
Ihr Hasnain Kazim